Kapitel 28

Sie hatte den Körper eines jungen Mädchens.

Lang und schmal und dunkel gebräunt lief sie vor ihm her ins Wasser. Lachte. Er rannte hinterher und versuchte, sie zu fangen. Ich liebe dich! Wasser. Violett-Schwarz.

Robert wachte schweißgebadet auf und wußte im ersten Moment nicht, wo er war. Dunkel und der Gestank von kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Bier. Es war kalt. Die Schafwolldecke kratzte, und Vincent, der Kater, quäkte empört auf, als Robert sich umdrehte und ihn dabei aus dem Bett schmiß. Robert versuchte wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht, er schlief schlecht seit einem halben Jahr. Fror. Stand auf und zog sich an, ohne sich zu waschen oder zu rasieren. Cordjeans, zwei Pullover und Parka. Schal und Lederhandschuhe. Er radelte ins Dorf.

Die Kälte wich nicht. Es fing an zu nieseln. In der ersten Bar machte er halt und ging hinein. Feuchtigkeit und auf dem Steinboden die Nässe von Gummistiefeln. Er bestellte sich einen Kaffee, einen Cognac und ein Käsebrot. Schluckte den ranzigen Geschmack im Mund weg und spülte mit einem zweiten Cognac nach. Und einem dritten, einem vierten. Noch ein Kaffee, noch ein Cognac. Schreib's auf, ich zahle morgen. Die Kälte blieb.

Um fünf Uhr machte die Post auf, Robert rannte über die Straße und quetschte sich mit den anderen in den schmalen Vorraum. Der Geruch von nassen Pullovern und durchweichten Lederjacken. Fischer, Bauern, kaum Ausländer. Maria bekam einen Versandhauskatalog, den sie gleich durchblätterte. Juan vom Hotel Es Figs stopfte lässig den Stapel mit Luftpostbriefen in die Tasche und unterbrach seinen Vortrag über das Wetter und die steigenden Preise nur für Sekunden. Drei andere bekamen nichts, blieben aber im regengeschützten Vorraum stehen und diskutierten in unverständlichem Dialekt.

Jacqueline.

Strähnig naß und verfroren in einer gelben Segeljacke. »Hey, Robert.«

»Hallo.«

»Wie geht's?«

»Bestens. Und dir?«

»Prima. Sag mal, ich bin ein bißchen knapp. Könntest du mir was leihen?«

»Sorry, aber ich hab' keine müde Pesete mehr. Ich könnte dich höchstens bei Toni Petit zu einer Bohnensuppe einladen, da hab' ich Kredit.«

Roberto Klein. Zwei Briefe. Ein großer, ein kleiner. Der eine aus glattem Kunstdruck, der andere aus gelbem Bütten.

Mit schwarzem Rand.

Robert wog sie beide in der Hand. Sah den Stempel von der Galerie Brockmann auf dem einen und die etwas ungelenke Frauenschrift auf dem anderen. Kein Absender. Brockmann. Sie wollten, sie buhlten, sie boten. Robert zerriß das Kuvert ungeöffnet und warf es in den Papierkorb. Ging mit dem anderen zur Tür und öffnete es.

Völlig unerwartet. Viel zu früh. In der Blüte des Lebens von uns gegangen. Tragische Umstände. Unsere geliebte Tochter, Schwester etc. Und unten noch ein paar an den Rand gekritzelte Zeilen von ihrer Mutter. Wir haben alles nur Menschenmögliche getan.

Gina.

Überdosis. Von allem, und jedem. Beschafft mitten hinein in die geschlossene Psychiatrische. Trotz Aufsicht und Kontrolle. Der erste, einzige und letzte eigene Entschluß in ihrem Leben.

Robert zerriß die doppelt gefaltete Büttenkarte in winzige Fetzchen und warf sie zu Brockmanns Einladung in den Papierkorb. Ging hinaus in den Regen.

Besoff sich in irgendeiner Bar mit irgendwelchen Bauarbeitern und vergaß Jacqueline und die Bohnensuppe bei Toni Petit. Stritt sich, schlug sich, kam irgendwie wieder heim zu seinem Bett und Vincent, dem Einohrigen.

Gina.

Kurt.

Gina.

Robert konnte nicht schlafen. Er stand auf, fand noch eine halbe Flasche Vichy und trank sie aus. Ein Rest Mahon-Gin. Gerade ein Glas voll. Er drehte sich einen Joint. Vincent knabberte an den eingetrockneten Farbtuben. Robert ließ ihn. Zündete eine Kerze an und legte sich auf die Matratze zurück. Rauchte. Trank.

Es stank.

Er mußte eingeschlafen sein. Die Kerze hatte ein Loch in den Tisch gebrannt, und der Jointstummel war auf dem Lehmboden verkohlt. Wind heulte ums Haus, aber es regnete nicht mehr. Hinter dem winzigen Fenster färbte sich der Himmel blaß rosa.

Robert lebte.

Vermutlich würde er älter werden.