Ich wachte auf und war nicht wach. Ich war mitten in einem Traum, aber ich kannte die Spielregeln nicht. Jeder kennt das, man fällt aus einem Hochhaus, merkt, daß man träumt und kann plötzlich fliegen. Oder man rennt in schmutzig-löchriger Unterwäsche über die Leopoldstraße und wacht schweißgebadet auf. Und ist wach, wenigstens das. Ich war auch schweißgebadet und wachte auf. Aber der verdammte Alptraum war damit nicht zu Ende.
Es war dunkel. Und damit meine ich stockschwarze Nacht. Ich machte die Augen zu und wieder auf. Nichts. Vielleicht war ich blind. Dann tastete ich um mich herum. Da war kein Bettrand und auch kein Nachttisch mit Lampe und Leuchtwecker und kein Fenster, vor dem sich der helle Vorhang im Zug bewegte und auch nicht das beruhigende Tockern der Heizung. Absolute Stille. Und dieser Geruch. Heu, Stroh, Schaf, Land. Es roch und fühlte sich an wie Land. Plattes Land.
Ich lag mit einer Art klumpiger Matratze direkt auf spreißeligem Holz und hatte über mir eine kratzige Wolldecke, die so roch, als würde das Schaf noch drinstecken. Seit Wochen.
Ich war nahe dran loszukreischen, beherrschte mich aber gerade noch und holte erst mal tief Luft. Einatmen, ausatmen. Locker über das Zwerchfell, noch einmal. Ich lag auf dem Rücken. Ich konnte die Beine und die Arme bewegen, ich war weder gefesselt noch geknebelt. Ich war nackt.
Ich rollte mich auf die andere Seite und versuchte, das Ende der Matratze auszuloten, konnte es aber nicht finden. Lumpen, Kissen, verfilzte Decken, alles schien ineinander überzugehen. Ich hielt die Luft an und lauschte. Kein Atmen, kein Schnarchen. Dann plötzlich ein leises Fiepen und winzige Trippelfüßchen über Holzbohlen. Mäuse. Ich habe keine Angst vor Mäusen, ich finde die niedlich mit ihren schwarzen Knopfaugen. Ich war wenigstens nicht ganz allein in diesem Schafstall.
Die Party bei Ehrenbergs. Das hatte ich alles noch ziemlich klar vor Augen. Wie ich’s denen allen gegeben hatte, diesen Spießern. Und wie mich der alte Balonders mit nach Schwabing genommen hatte. Uni-Gegend. Nacht. Ich war in verschiedenen Kneipen gelandet und hatte Massen von viel zu süßem Irish Coffee in mich reingeschüttet. Das hatte mich aufgepulvert. Dann hatte ich Iris, Manni und deren Clique getroffen. Die hatten inzwischen alle geheiratet und sich ein Häuschen im Würmtal angespart. Und alle waren junge Eltern von glücklichen Babies. Papi war bei der Geburt dabeigewesen. Ausgehen konnte man sich jetzt kaum noch leisten. Wieso auch, war doch eh langweilig. Und so teuer. Sag mal, weißt du eigentlich, was so ein Irish Coffee kostet, das kann man daheim viel billiger haben. Und so gemütlich. An der Stelle war ich auch ausgerastet. Das waren ja nicht irgendwelche Sachbearbeiter oder Jungbanker, das waren Maler, Schriftsteller, Film- und Fernsehleute, Schauspieler.
Privilegierte Kreativler sozusagen, das fröhliche Künstlervölkchen. Und keiner von ihnen älter als maximal Mitte Dreißig. Meinen alten Vater hätte es gebeutelt vor soviel Kleinbürgerspießigkeit. Und die Gesprächsthemen außer den gerade bekommenen oder zu erwartenden oder geplanten Kindern. Häuschen, Handwerkerpreise, Do-It-Yourself-Tips, Aids und Schwulenwitze.
Da hatte ich noch rumgebrüllt, hatte statt dem heißen, klebrigen Irish Coffee jetzt einen eiskalt beschlagenen Wodka-Tonic in der Kralle. Das war in so einem eleganten jugendstilig aufgemotzten Edelschuppen, der jeden Tag in den Klatschspalten genannt wurde. Irgend jemand wollte mich beruhigen, hielt meinen Arm fest, und ich verschüttete meinen Drink. Wurde wohl etwas ausfallend, jedenfalls setzten die mich raus.
Daran erinnerte ich mich noch deutlich. Ich wurde rausgeworfen aus dieser Kneipe, und von einem Tisch standen ein paar junge Typen auf und gingen mit. Solidarisch mit mir die Kneipe, ihre Wirte und sämtliche Gäste beschimpfend. Wir krakeelten da in der Straße rum, und aus einigen Fenstern keiften die Werktätigen auf uns ein. Irgend jemand kippte sogar Wasser raus, von der Kreuzung her jaulte ein Martinshorn.
Weg. Aus. Black.
Hatten die mich verhaftet? War ich entführt worden? Lag ich in einem geheimen politischen Lager für Gehirnwäsche? War ich in der Macht eines Wahnsinnigen? Hatte ich in den letzten Stunden gebumst? Vergewaltigt worden? Betäubt?
Ich untersuchte mich mit aller zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Genauigkeit, konnte aber nicht viel entdecken. Keine Spermaspuren, nur starker Harndrang und eine gewisse Geilheit. Was immer mit mir geschehen war, es hatte meine wichtigsten Funktionen nicht eliminieren können.
Die Panik wollte schon wieder übergreifen. Ich hatte so was noch nie erlebt. Totaler Blackout und dann hier im Nichts rumliegen. Mir war nicht mal schlecht, ich hatte kein Kopfweh, keinen Kuhmist im Maul.
Drogen!
Ich tastete hektisch an meinen Armen herum, hielt Schweißtropfen für Blut und wartete auf den Turkey. Atmen. Regelmäßig ein und aus und ein und aus. Flach. Nein, keine spürbaren Narben oder Einstichlöcher. Ich hatte mich fast beruhigt, da hörte ich das Zischen eines Streichholzes. Flackern, Hochknallen von Flammen in trockenem Holz.
Feuer.
Ich schrie, bekam keinen Ton heraus, Hilfe, Hilfe! endlich ein dünnes Hallo. »Hallo!«
Eine Tür öffnete sich knarzend und sehr weit weg, helles gelbes Licht beleuchtete einen hohen Schuppen, Holzträger, halb verrottete Futtertraufen und Boxen, ein paar alte Heuballen. Ein Matratzenlager von gut zwölf Quadratmetern und direkt neben mir meine Klamotten von gestern nacht. Die kaputten Strumpfhosen und das völlig versaute Schlauchkleid. »Sie ist wach«, sagte eine Stimme, ein schmaler Schatten kam in den Lichtstreifen. Es klickte, und über mir flammte eine kahle Glühbirne auf. Ich zog die schafstinkende Decke hoch und sah ihm entgegen. Er blieb dünn und ein Schatten. Erst als er direkt neben mir stand, konnte ich sein Gesicht erkennen. Jung, bartlos, blond. Ein Kind! O Gott, wo war ich hingeraten! Ich lächelte dümmlich.
»Hallo.«
»Mann, du kannst ja was zusammenpennen!« Er sagte das nicht ohne Bewunderung, und seine Stimme war zwar hoch, aber doch schon über den Stimmbruch hinaus. Er schien nicht unfreundlich zu sein, ich versuchte es mit einer direkten Frage.
»Wo bin ich?«
»Sieben Eichen«, antwortete er mir zuvorkommend. Ich setzte mich halb auf.
»Und wo ist das?«
»In der Nähe von Raisting. Keine drei Kilometer.«
»Aha«, so kam ich also nicht weiter. »Wie heißt du?« Er lächelte.
»Sag bloß, du hast einen Filmriß?«
»Tür zu, es zieht!« brüllte jemand von der offenen Tür her, ich roch jetzt das Feuer, aber da es den Jungen nicht zu irritieren schien, hatte es den Kamin wohl nicht verlassen. Der Junge wollte gehen.
»Heh, bitte!« er blieb wartend stehen. Ich deutete auf mein Kleid. »Kannst du mir vielleicht was zum Anziehen geben?« Er zögerte, sah mich an, versuchte, unter der Schafsdecke meine Körpermaße abzuschätzen, grinste dann und ging.
Ich war also, so schien es jedenfalls, nicht gefangen oder gekidnapped. Wer sollte auch schon was für mich zahlen. Meine armen Eltern? Balonders? Die Künstlersozialkasse? Ich konnte inzwischen den ganzen Schuppen erkennen, er war vollgepfropft mit Möbeln. Kommoden, Bauernschränke, Waschtische, Stühle, Bänke und Tische, Truhen, Wiegen, Schemel. Ein kunterbuntes Durcheinander, teilweise abgebeizt, zum Teil aber auch übermalt oder noch so verdreckt, daß man kaum noch die Schnitzereien erkennen konnte.
Der Junge kam zurück und brachte mir ein Paar alte 501 und ein Sweatshirt. Micky Mouse on Ice. Er blieb stehen und sah mir zu, wie ich mich anzog. »Passen ja«, meinte er zufrieden. »Sieht aus wie in dem Werbespot. Kennst du den? Wo der Typ zur Army muß?« Ich knibbelte die Knöpfe am Schlitz zu und fühlte mich gleich besser. Richtete mich auf und war endlich mit dem Kerl auf einer Höhe.
»Also, wie heißt du?«
»Komm mal lieber mit. Vielleicht schnallst du es dann wieder.« Er ging voraus, und ich folgte ihm. Mein gammeliges Kleid ließ ich liegen. Das war vorbei. Ein schmaler Gang, eine steile Treppe in den ersten Stock hinauf. Ein Zimmer auf der anderen Seite. Die frühere Wohnküche, die gute Stube. Sie hatten eine Wand durchbrochen und einen großen Raum mit Kamin geschaffen. Davor stand ein gigantischer Holztisch mit gut einem Dutzend verschiedener Stühle drumherum. Drei andere Jungen saßen dort, ein Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren hielt ein Baby an der Brust und ließ es saugen. Ich hatte keinen von ihnen jemals gesehen.
Michi, Günter, Charly und Hans. Hans war der, der mir die Jeans gebracht hatte. Ich wußte gar nicht, daß sie heute wieder Hans hießen. Das Mädchen hieß passenderweise Grete. Sie nannte sich auch so. Noch vor fünf Jahren hätte sie Grit oder Marga gesagt. Nein, Grete. Ich setzte mich auf ein roh abgebeiztes Dreibein und fragte nach dem Namen des Kindes. Ja, ich hätte wetten können, aber auf Adele wäre ich trotzdem nicht gekommen. Charly hatte längeres Haar als die anderen und war wohl auch schon Mitte Zwanzig. Er schob mir ein Brett mit Brot hin und einen Tontopf mit einer Art Paste, die ich wohl draufschmieren sollte. Zu trinken gab’s grünen Tee. Ich nahm, was ich bekam, wagte nicht, nach einem Bier zu fragen, konnte in dem ganzen Küchenwohnraum auch keinen Kühlschrank entdecken. Sie redeten kaum miteinander, tauschten nur kurze Infos aus, so als wüßten sie sowieso schon, was der andere zu sagen hatte. Es war unheimlich, so als wäre ich plötzlich mit einer Zeitmaschine in ein altes Märchen aus dem Siebengebirge verpflanzt worden. Über dem großen Tisch hing eine runde Lampe, und ich sah sie alle abends darunter sitzen und Puppen schnitzen, die sie dann verkauften an die Kinder der Reichen. Nein, sie restaurierten alte Möbel, und draußen hatten sie auch ein paar Schafe. Sie waren ausgestiegen, sie wollten alles anders machen, der Laden funktionierte blendend, sie hatten mehr Aufträge, als sie erledigen konnten und wenn ich Lust hatte, konnte ich mitmachen. Möbel abbeizen, das dauerte immer am längsten.
Grete sagte nicht viel. Sie war sauer. Ich verstand nach und nach, was da lief. Charly war der Vater von dem Kind, aber sie alle waren eine große Familie. Keusch und rein. Kein Dope, kein Schnaps, kein Deo. Und gestern waren drei von den Jungs nach Schwabing abgedriftet und hatten zu allem Überfluß auch noch mich mitgebracht. Fernsehen hatten sie keins, ich war nur so eine Schickikuh aus den Cityslums.
»Du hättest sie hören müssen«, verteidigte mich Michi, »wie sie es denen allen gegeben hat! Dann haben sie sie rausgeschmissen, und wir sind mit. Weil das eben eindeutig bürgerliche Repression war. Und sie war so zu, da konnten wir sie doch nicht einfach stehenlassen.« So einfach und so schlicht. Ich trank von dem Tee, weil es nichts anderes gab, und die Paste schmeckte nach Kartoffelbrei und Leinsamen. Keine Gehirnwäsche, keine Folter. Ich fragte, wie ich wieder zurück in die Stadt kommen könnte, und sie nannten mir doch tatsächlich den Busfahrplan. Sie hatten nur ein Auto, und das war jetzt unterwegs. Mit den anderen. Sachen liefern, kaufen, alternativ Geld reinbringen. Der Bauernhof war schon fast abgezahlt.
Michi brachte mich zur Straße. »Du bist schön«, sagte er, »ich fänd’s prima, wenn du hierbleiben könntest.« Sie hatten mir Geld gegeben und einen Zettel mit ihrer Adresse. Sie rechneten nicht damit, daß ich es zurückzahlte. Ich hatte über vierundzwanzig Stunden geschlafen. Es wurde schon wieder dunkel.
Das Land war flach hier und öd. Die graubetonierte Straße wand sich zwischen den Feldern hindurch. Das gelbe Busschild schien fremd in der Dämmerung. Irgendwo Kuhglocken wie in einem Heimatfilm. Michi stand dicht vor mir. Er hatte die Haare so kurz geschnitten, daß ich die rosa Kopfhaut durchschimmern sah. Kräftige Backenknochen und ein voller Mund. Ich küßte ihn. Er wollte mich festhalten, ließ mich dann wie ertappt los. Hob die Schultern. Dann kam der Bus, und er ging zurück über den Feldweg zum Hof.
Der Bus war leer bis auf eine alte Frau, die auf der ersten Bank vorn zu dösen schien. Er hielt ein paarmal an den Einmündungen schmaler Feldwege, aber niemand stieg zu. Vielleicht war ja morgens hier die Hölle los, wenn die Bauersfrauen in die Stadt fuhren, um dazuzuarbeiten oder auf dem letzten authentischen Markt Kiwis und Artischocken einzukaufen. Neben der Straße verlief ein Bahngleis, wir hielten vor einer Schranke, ein mit bunten Autos hoch beladener Güterzug donnerte vorbei. Dann dichtere Häuserreihen, eine Kirche mit Zwiebelturm, ein Platz, ein Bahnhof. Vor dem Bahnhof stand ein Taxi. Ein echtes, lebendiges Taxi. Ich sprang raus, als der Bus an der Ecke hielt und rannte zu dem Taxi hin. »Nach München bitteschön! Moosach.« Ich ließ mich mit einem Glücksseufzer in die Skaisitze fallen und atmete künstlichen Tannenduft ein.
Er fuhr los. Sein Nacken drückte Mißtrauen aus, er stellte den Rückspiegel so, daß er mich beobachten konnte, ich lächelte, wie ertappt schaute er nach vorn auf die Straße. Er hatte mich erkannt. Ich schloß die Augen. Irgendwo auf meiner gestrigen Reise hatte ich die Handtasche verloren. Hausschlüssel, Kamm, Tempo und ein Hunderter. Und die Autopapiere. Ich ließ das Taxi warten und läutete bei der Schmiedinger. Sie hatte einen Zweitschlüssel und bekam dafür eine Story von Entführung und Attentat. Sie zwinkerte mit einem Auge, hielt alles für eine neue Lovestory, die sie morgen in der Bild nachlesen konnte. Ich rannte in meine Wohnung rauf und stellte hastig einen Euroscheck aus. Der Taxifahrer drehte ihn dreimal um und hielt ihn gegen das Licht wie einen falschen Fünfziger. In einem Krimi hatte ich mal eine Trickdiebin gespielt, vermutlich hatte er ausgerechnet nur den gesehen.
Die Schmiedinger wollte mich auf der Treppe einfangen, um weitere Einzelheiten aus mir rauszuquetschen, ich schob mich an ihr vorbei und lief hoch. Schloß die Tür hinter mir ab und lehnte mich dagegen. Wartete auf die Erleichterung und das Nachlassen der Spannung.
Es funktionierte nicht. Meine Wohnung war kein friedlicher Hort mehr, kein Refugium meiner Persönlichkeit. Es war eine enge Zweieinhalb-Zimmer-Bude ohne Charme und Charakter, willkürlich mit Möbeln vollgestellt. Grau und glatt und beliebig.