Das war ihr Leben, oder wie diese Personality-Shows heißen. Man wird als Prominenter eingeladen, und sie tischen dir jede Menge andere Berühmtheiten auf, die sich mit der Schokoladenseite zur Kamera drehen und dabei Lobhudeliges über dich absondern. Ich hatte mir schon öfter vorgestellt, wie sie mich in zehn oder zwanzig Jahren einladen würden. Wieso nicht heute schon. Meine Mutter, mein Vater, Heiko, Balonders, Hans und Grete. Das Abschlußzeugnis der Schauspielschule, ein paar Kassetten.
Das war mein Leben. Ein paar beliebige Zweieinhalbzimmer-Sozial-Videoclips.
Das wäre nun haargenau der richtige Moment für den Auftritt einer ausgewachsenen Depression gewesen. Heulkrampf de luxe. Statt dessen empfand ich fast so etwas wie Erleichterung. Wenn man ewig nach einem Namen oder einem Wort sucht, und dann endlich fällt es einem ein. Ich zog als erstes die 501 aus und legte sie in eine Ecke. Dann begann ich zu räumen und legte noch weitere Ecken an. Verschenken, verkaufen, wegwerfen, behalten. Es war dunkel, im Haus murmelten die Fernseher, ich fühlte mich ausgeruht und aktiv.
Einen genauen Plan hatte ich um die Zeit sicher noch nicht, aber alles lief ab wie geplant. Das war immer schon so meine Art gewesen. Ich hatte mich damit durch die Schule gemogelt, bis kurz vors Abitur. Ich hatte die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule bestanden, obwohl jeder das Gegenteil behauptet hatte. Ich hatte auch nie wirklich vorgehabt, Schauspielerin zu werden. Von wegen Berufung und so. Meine Mutter war eine biedere Hausfrau und mein Vater ein drittklassiger Kleindarsteller, der unser aller Brot als Versicherungsvertreter verdiente. Ich hatte ihn gern, vielleicht war’s das. Ehrgeizig war ich auch nie wirklich. Natürlich fand ich die Vorstellung toll, da oben auf der Leinwand die Hauptrolle zu spielen, von allen erkannt, bewundert und geliebt zu werden. Aber ernsthaft daran geglaubt hatte ich nie.
Meine Mutter hatte natürlich gezetert, das hatte mir geholfen, gab es mir doch das Gefühl, etwas Schlimmes, Verbotenes, Revolutionäres und Unbürgerliches zu tun. Von unserer Schauspielschule waren schon ganz berühmte Leute hergekommen, in meinem Jahrgang war nur Mittelmaß. Immerhin konnte ich mit dem Zwerchfell atmen, ohne sichtbare Erschöpfung einen Monolog von einer Stunde halten und beim Essen akzentuiert sprechen. Ich konnte auch tanzen, reiten, fechten und sogar ein bißchen singen. Das waren die guten Ratschläge, die mir mein Vater mit auf den Lebensweg gab. Das Musical hat Zukunft, und in Kostümschinken bekommst du eher eine Rolle, wenn du was kannst. Auch wenn du sonst nichts kannst. Er selber konnte nicht viel. Er war ewig der kleine Junge mit Popcorn und Lollypop geblieben.
Ich war nie jung gewesen. Hatte immer nur gemacht und getan. Wie geplant. Nie spontan, nie verrückt. Sogar diese Wohnung. Drei Zimmer Südseite klang besser als eine Hängematte im Loft. Moosach konnte auch nur meiner Mutter in Tübingen als verruchte Bohemehöhle erscheinen.
Keiner fand etwas dabei. Höchstens, daß ich Heiko noch immer nicht geheiratet hatte oder einen anderen. Die Ehrenbergs und Grünbeks und Lipperts und Merkels. Ob jünger oder älter, über oder unter dreißig, sie waren alle festgefügt und festgefahren. Spielregeln, Fahrpläne, Bankkonten, Kreditkarten fächerweise. Und Kinder natürlich. Kinder und neue Weiblichkeit. Vielleicht hatte ich da einfach nur etwas verschlafen; oder die Pille zu lange genommen. Oder ich war unfruchtbar. Die Entscheidung Kind oder Karriere hatte sich mir nie gestellt. Zufall? Oder diese mir so eigene Art von absichtsloser Planung. Hans und Grete fielen mir ein, und ich entschied mich für die zweite Möglichkeit.
Oder: Es gibt keinen Zufall.
Ich war fertig. Die Wohnung sah aus wie ein Kruschladen. Der Haufen »Verschenken« war so groß, daß er umfiel. Ich teilte ihn in drei Teile. Einen packte ich mit den 501, dem Geldschein und einer Deixkarte in einen Karton, schnürte ihn zu und adressierte ihn an: Hans und Grete, Sieben Eichen bei Raisting. Das sollte der Post zu denken geben. Den zweiten konnte die Schmiedinger bekommen, es war vor allem Küchenkram und ein paar kitschige Scheußlichkeiten, die sie ihren Fernsehdevotionalien hinzufügen konnte. Den dritten Teil schlug ich zu »Wegwerfen«, den mit Abstand größten Berg. Bei »Verkaufen« hatte ich außer ein paar Designerklamotten vor allem Bücher und Platten, eine Gitarre, eine Flöte, alte Puppen und einen französischen Cassoulettopf. Ich würde Natalie, die Nachbartochter der Ehrenbergs, anrufen. Die hatte nicht nur einen neuen Freund mit Auto, sondern auch ein Faible für Flohmärkte. Sie verhökerte dort mit Liebe, Hingabe und Geschick den halben Hausrat ihrer Eltern, die für sie eher eine musische Laufbahn vorgesehen. hatten.
Der schwierigste Haufen war »Behalten«. Ich hockte davor und konnte mich nicht entscheiden. Ich hatte eine alte Seekiste, mehr sollte nicht übrigbleiben. Ein kleiner Plüschbär, mein erstes Zeugnis, die paar Kassetten, ein Stapel Platten und dann noch die beiden Bilder von einem völlig unbekannten Maler, die ich gekauft hatte, als ich mal auf dem Zahnfleisch ging. Gekauft. Sie waren nicht sonderlich gut, der Typ war auch nicht berühmt geworden, aber sie hatten etwas von der Zeit damals. Mitte der Siebziger, Trompetenhosen und Midiröcke. Letzte Hippies und erste Yuppies. Der nannte sich noch nicht so. Mein erster Lover. Kannte nicht mal den Ausdruck. Stephan, der Jesuit. Die schiere Kopfgeburt. Wir brachten mein Jungfernhäutchen dem Universum dar. Stephans Universum. Und die ganze Nacht ein einziger Redequirl. Das Ich und das Du und die Gründe, wieso der Kommunismus eben doch niemals funktionieren kann. Die Aquarelle hatte ich am nächsten Abend gesehen. In der Leopoldstraße unter Platanen und Petroleumlicht. Pralle, volle, runde Farben und Formen. LSD läßt bumsen. Acryl in barock. Der Maler nannte sich »lü« und hatte seinen Freund schon dabei. Ich mußte also für die Bilder mit D-Mark bezahlen. Ich wäre sonst zu allem bereit gewesen.
Sonst gab es nicht viel. Fotos, Briefe, Dokumente. Man ist so erzogen, nichts wegzuwerfen. Ich hatte schon sieben dicke volle schwarze Mülltüten neben der Tür stehen. Es wurden immer mehr. Ich sah es mit Genuß und Zufriedenheit. Schluß. Ende. Abschied. Im ganzen Haus war es jetzt totenstill, sogar die Fernseher schwiegen, ja selbst Österreich II. Aber bis morgen konnte ich nicht warten. Diese schwarzen fetten Müllkissen meiner Vergangenheit, ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich versuchte immerhin, leise zu sein. Schleifte sie alle über die Treppen runter und stopfte sie in die Container. Glücklicherweise waren die gerade an diesem Morgen geleert worden. Platz in Mengen. Und sonst wäre es mir auch egal gewesen. Der Hinterhof war groß genug für den ganzen Müll meines Lebens.
Die Wohnung sah jetzt entschieden besser aus. Schäbig; kahl und verlassen. Jetzt endlich hatte sie Stil. Im Kühlschrank war noch ein Selters, im Regal darüber Nescafé, ranzige Erdnüsse und verschimmelte Schnapspralinen. Kein Dope mehr und kein Coke. Egal, egal, alles egal. Ich legte mich mit einem Stapel Papier auf den Teppichboden und machte eine Liste. Ich liebe Listen. Man kann immer wieder abhaken und sieht, wie’s weitergeht. Man bekommt die Übersicht.
Papiere:
Personalausweis und Paß prüfen. (Notfalls verlängern)
Fotos am Automaten machen lassen. (Visum?)
Bank, Versicherungen, Steuern. (Daueraufträge?)
Wohnung (Schmiedinger).
Auto (Gert Ehrenberg. Schrott anyway)
Beziehungen:
Mutter, Vater. (Lüge von Tournee)
Agentin, Produzent, Regisseur & Liebhaber (vergessen)
Kollegen (unwichtig)
Freunde (wer? wo?)
Geld:
Bank, Sparkonto (zusammen knapp 2000)
Schmuck (Ringe, alte Uhr, Gemme. Wertlos)
Stereoanlage, CD, Video (höchstens 2000)
Möbel, Teppiche (ca. 1500)
Tante Erikas Jugendstilservice (locker 3000)
Anschaffungen:
Reiseklamotten (Tropen?)
Rucksack
Karten, Unterlagen, Bücher
Medikamente (Kondome!)
Tasche mit vielen Fächern
Fotoausrüstung, Notizbuch.
Adressen!
Das sah schon mal ganz gut aus. Zwei Dinge machten mir noch Ärger. Der Schmuck. Das waren keine Kronjuwelen, aber ganz wertlos war’s auch nicht. Einer der Ringe hatte einen echten dicken Smaragd drin, der andere kleine Diamanten und zwei Rubine, die Uhr konnte ›Muß i denn‹ spielen, und die Gemme brachte vielleicht auch noch was. Aber ich sah immer meine Großmutter, die Gemme an ihrem Ausschnitt, egal, was sie trug. Immer etwas Dunkles, die Gemme darauf hell schimmernd. Ein schmaler Mädchenkopf, langhaarig und fast unheimlich lebendig. Als Kind hatte ich gedacht, es wäre ein Abbild meiner Großmutter als junges Mädchen und hatte immer wieder auf die Unterschiede gestarrt. Fasziniert, nicht etwa abgeschreckt von den Möglichkeiten der Veränderung. Ich konnte stundenlang vor dem Spiegel stehen, meinen Kopf zurücklegen, um eine ähnliche Position hinzubekommen, und mir dabei vorstellen, wie ich in fünfzig, sechzig oder siebzig Jahren aussehen mochte.
Die Ringe waren auch von Großmutter, aber ich hatte sie nie an ihren Fingern gesehen, verband also nichts damit. Außer der Ehrfurcht meiner Mutter, als sie sie mir übergab, und ihrer Angst, sie könnten mir hier in Babylon von Junkies oder Rockern abgeluchst oder geraubt werden. Vielleicht waren sie auch tatsächlich wertlos, falscher Schliff, unreine Steine, was weiß ich. Sie waren immerhin die Illusion von Wert und Sicherheit. Und die Uhr war plump, häßlich und kitschig, aber aus purem Gold. Sie schien aus all diesen Geschichten zu stammen, in denen der Familiennichtsnutz, dem Spiel ergeben, die letzte goldene Uhr versetzt. Ich hatte vergessen, welchem Onkel oder Großonkel sie mal gehört hatte, sie war eben da.
Ich kam mir vor wie die Auswanderer damals. Mit dem Treck zu neuen Ufern. Man nimmt nur das Nötigste mit, aber eben auch ein paar Dinge aus der alten Heimat. Das gestickte Bild, der silberne Kerzenleuchter. Ich beschloß, zu meiner Sentimentalität zu stehen und die Sachen nicht zu verkaufen. Noch nicht.
Das andere waren die Adressen. Ich kannte Leute, die kannten Leute in der ganzen Welt, die schrieben sich von jedem Japaner, von jedem Isländer sofort die Adresse auf, die hatten ganze Ordner voll davon. So was wäre natürlich günstig, wenn man eines Tages plötzlich ganz allein in Timbuktu stand oder in Bukittinggi. Dann könnte man wenigstens jemanden anrufen, der der Landessprache mächtig war. Ich natürlich hatte so was immer idiotisch gefunden, und so hatte ich auch jetzt nicht die Adressen von Leuten, die die Adressen von all diesen Leuten hatten.
Genüßlich strich ich den Punkt Adressen. Ich war schließlich keiner von denen, die dauernd von spontan faseln und als erstes nach der Altersversorgung fragen. Die ganz individuell reisen wollen und dann mit ihren Rucksackkarawanen auch noch die letzten Ecken der Welt überziehen. Ich spielte nicht nur jung. Ich war es.
Ich mußte nur noch lernen, wie das ging.