Jeder kennt die Faszination von Bahnhöfen.
Jedenfalls jeder, der noch im letzten Jahrhundert geboren wurde oder in den letzten zehn Jahren. Für uns, die wir dazwischen liegen, haben die Flughäfen – wenn überhaupt – diese Funktion übernommen. Bahnhöfe sind grau, trist, zugig und äußerst deprimierend. Vor allem der Münchner Hauptbahnhof, und vor allem an einem frühen Märzmorgen. Nachtfrost und Nieselregen. Alles ist grau. Unglaublich, wie viele Grautöne es gibt. Grau-grau-grau. Selbst beige wirkt wie eine Farborgie. Und das grelle Neonrot oder Gelb oder Grün betont das alles nur. Das Grau-grau-grau.
Ich stand vor einer dieser neuen Abfahrtstafeln und versuchte, etwas rauszufinden, das mich anmachte, kein kindliches Fernweh zum Leben zurückholte, mir irgend etwas zuspielte, was ich als Fingerzeig des Schicksals erkannte und am Schopf greifen konnte.
Nichts.
Ich stand da rum und fror und wußte absolut nicht, was das Ganze sollte. Scheißspiel. Die Träger von diesem nepalerprobten Rucksack aus dem Globetrotterladen schnitten mir tief in die Schultern, der safarifarbene Anzug war schon jetzt zerknautscht und feucht und sah graubeige aus wie alles hier. Meine Lammfelljacke hatte ich verschenkt, und das dünne Daunending, das ich mir dafür gekauft hatte, blähte mich auf wie ein Michelinmännchen, ohne mich zu wärmen. Vielleicht lag es auch nur an der frühen Stunde, an dem graunassen Nieselwetter oder auch an mir selber. Aber alles war grauenhaft. Die Gesichter der Menschen, die an mir vorbeihasteten, Schülergruppen, Angestellte, Rentner mit Wanderstöcken und Bergstiefeln. Sie alle hatten ein dringendes Ziel nach vorn und hinter sich ihre Wohnungen mit Fernsehern und Hundekuchen.
Neid?
Ich doch nicht. Aber bitte! Ich ging in den nächsten Laden, goldgelb und anheimelnd beleuchtet und bestellte mir einen Milchkaffee und ein Hörnchen. Der Kaffee schmeckte wie Spülwasser, das Hörnchen wie Fimo. Ungebrannt. Vor fünfzehn Jahren hatte ich Bahnhofskaffee und Hörnchen für das absolute Manna gehalten. Ich hatte da immer eine Verabredung mit einem Jungen, der mit dem Frühzug aus Tutzing kam.
Liebe also.
Das wäre eine Möglichkeit. Ich versuchte es auch noch mit sinkender Qualität und verdorbenem Magen. Aber die Wahrheit war schlicht und ergreifend, mein Geschmack war total versaut. Du kannst nicht jahrelang französische Feinkostcroissants fressen und dann plötzlich ein Bahnhofshörnchen gut finden. Dazu mußte man hungrig sein. Jung und hungrig.
Ich ging wieder hinaus in die zugige Bahnhofshalle. Mit meinem Rucksack hatte ich die wenigen Teller und Tassen von dem Resopaltresen gefegt und wohl noch einem alten Bahnwärter die dritten Zähne aus der Schnauze gezogen, ich merkte nichts. Daß die hinter mir herkreischten, hielt ich nur für einen Beweis, daß ich jetzt schon so jung und hip und subversiv aussah. In meinem verknautschten Daktarilook. Der schielende Löwe. Ich wollte nach Afrika.
Endlich ein Ziel.
Murnau, Garmisch, Regensburg, Hamburg-Altona, Straßburg oder Triest. Ich wandte mich ab, wo waren hier die Klos.
Ein Türke schlich um mich herum, zwinkerte mit einem Auge, hatte die Hand in der Hosentasche. Ich drehte mich wieder zu den Fahrplänen. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Hunderte, ja Tausende von jungen Leuten mit Rucksäcken. Man hockte zusammen auf dem Bahnsteig und teilte sich die Informationen und die letzte Selbstgedrehte. Ich würde wieder mit dem Rauchen anfangen, das war klar, das gehörte einfach dazu.
Ich heulte. Ich konnte es nicht verhindern. Ich stand mitten im schönen neuen Münchner Hauptbahnhof, in der zugigen Halle zwischen Schaltern, Treppenaufgängen, Schaufenstern und Lautsprecherdurchsagen und heulte. Ich wollte heim in meine Wohnung,, heim zu Mutti, und wenn’s die Schmiedinger war.
Noch gestern abend die große Euphorie. Alles geregelt, alle Brücken hinter mir vernichtet. Mehr Geld als erwartet, die Taschen voller Euroschecks. Der Weg war frei. Kein Plan, kein Ticket, einfach nur los ins Blaue, River of no return. Ich merkte, daß die Leute mich anstarrten, und schneuzte mich. Holte Luft. Es half nicht viel. Platzangst. Tiefes Bedauern. Ich konnte wirklich nicht mehr zurück. Ich hatte einen Scherbenhaufen hinterlassen. Nicht ohne Absicht, ich kannte meine Neigung zu großen Sprüchen und dem Weg des geringsten Widerstands.
Ich ging zu den Bahnsteigen hinaus, vielleicht war die Atmosphäre draußen anregender. Kälter war’s und verdammt feucht. Die Lautsprecher dröhnten, eine Reisegruppe drängelte an mir vorbei, Koffer schlugen mir in die Kniekehlen. Mailand, Venedig. Das klang schon besser. Ich schob mich an einem übervollen Gepäckkarren vorbei, und da saßen sie doch tatsächlich, meine jungen Rucksackkollegen. Sie hockten wie die Spatzen auf den Bänken, den Banklehnen und ihren prallen Rucksäcken. Zwei hatten sich sogar mit ihren Isomatten unter die Bank gekuschelt und schienen zu schlafen. Ich ging langsamer, lächelte, erwartete irgendeine Art von Reaktion. Ein Mädchen sah kurz hoch, dann wieder stumpf auf den fleckigen Beton zwischen ihren hochgeschnürten Boxerstiefeln. Ich schlich weiter, suchte einen Platz zum Sitzen. Ein Junge schaute auf, bemerkte meinen Rucksack und hustete seine Selbstgedrehte aus. »Schaut bloß mal die Mutter!«
Sie waren doch noch viel jünger, als ich erwartet hatte. Kinder. Bald waren ja Schulferien. Kinderpaß und Interrail. Ich ließ meinen Rucksack runter und rieb mir die schmerzenden Schultern. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr ein IC ein. Wien, Budapest. Ausgerechnet auf meiner Höhe stand der Speisewagen. Die kleinen gelben Tischlämpchen, ein Kellner mit einer Kaffeekanne und einem Brötchenkorb. Nur ein paar Tische waren besetzt. Direkt vor mir saß ein junger Mann. Mitte, Ende Zwanzig. Lang, schmal, locker geschnittene Tweedjacke, Seidenschal. Er las El Pais und trank Orangensaft mit Sekt. Er war der Inbegriff von Reise und Geborgenheit in einem, Kuchen essen und behalten. Ich kam mir vor wie das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, wie ich ihn so anglotzte, wie ich seinen weichen Seidenschal am Hals spürte, die Wärme des Tweedjackets und das Prickeln der Sektbläschen auf der Zunge. Ich sah mich ihm gegenübersitzen, wir waren Reiseschriftsteller und unterwegs nach Madrid oder auch Lima und Buenos Aires. Er mußte etwas gemerkt haben, drehte plötzlich den Kopf und sah mich an. Ich erschrak und wäre gern im Boden versunken. Aber das funktioniert ja doch nie, wenn man es braucht, so blieb ich einfach stehen und glotzte unverblümt weiter. Der Mann war mindestens vierzig, wenn nicht drüber. Er hatte sich die etwas schütteren Haare jugendlich hochgefönt, jetzt sah ich deutlich seine, nun sagen wir, sehr hohe Stirn. Er grinste. Eine Goldkrone blinkte auf. Rechts, oben, vier.
Er hatte auch noch die Frechheit, sein Glas zu heben. Sah aber nicht mehr mich an, sondern knapp an mir vorbei. Und dann hörte ich auch schon den Lärm hinter mir und drehte mich um.
Zuerst begriff ich gar nicht, was da lief. Ich hörte Schreie, Hundegebell. Dann sah ich das Mädchen, das mich vorhin angesehen hatte, das mit den Boxerstiefeln. Es wollte wegrennen, einer der Schäferhunde fiel es an. Es waren zwei Hunde und vier oder sechs Bullen. Uniformen, lederne Pistolenhalfter, Schlagstöcke.
Einer der Jungen sprang auf, wurde abgedrängt, wieder Schreie, der Junge, der mich Mutter genannt hatte, war jetzt bei dem Mädchen, der Hund ließ sich nicht ablenken, das Mädchen schrie gellend, die Polizisten brüllten Befehle, dann hatten sie das Mädchen im Würgegriff, der Junge lag auf dem Boden, die hechelnde Hundeschnauze am Hals.
Ich bin feige, gut und schön, aber das war zuviel. Körperliche Gewalt in derart widerlicher Form, direkt vor meinen Augen. Ich reagierte wie nach Drehbuch. Rannte vor, schrie nun selber.
Von überall kamen jetzt Männer angerannt, die meisten nicht in Uniform, die Jungen wurden zusammengetrieben, Prügel, Schreie, Chaos. Ich verlor den Überblick. Der Zug mit Rechts-oben-vier setzte sich quietschend in Bewegung, Pfiffe, Dampfwolken. Jemand packte mich von hinten am Arm, und ich war bereit, alles zu geben. Ich hatte den gelben Gürtel.
Dummerweise dachte der Kerl hinter mir nicht daran, den Griff anzuwenden, den ich hätte wegputzen können. Oder er war ein paar Gürtel über mir. Jedenfalls zerrte er mich weg, und als ich weiterkreischte, hielt er mir eine Hand vor den Mund. Ich war nahe dran zu ersticken, dachte in diesen Sekunden nur noch daran, Luft zu bekommen. Roch Schweiß. Die Handfläche, die sich auf meinen Mund preßte, war sehr weich und ein bißchen feucht. Meine Güte, ein weiblicher Bulle. Ich hatte immer schon gehört, daß die besonders brutal waren. Ich wurde herumgewirbelt und fand mich plötzlich halb sitzend hinter dem leeren Glaskasten der Auskunft wieder.
»Mensch, tut mir leid. Ehrlich!«
Direkt vor mir drückten zwei dünne Jeansbeine ihr Bedauern aus. Die stellten aber schon extrem magere Weiber ein, bei der Polizei heute. Ich sah hoch. Über den Jeans ein Tweedjacket, ein Seidenschal. Ich schloß die Augen und holte Luft.
»Fehlt Ihnen was? Sind Sie verletzt?!«
Die Stimme kam näher, ich machte die Augen wieder auf. Kein Irrtum möglich. Das mußte der Sohn von Rechts-oben-vier sein. Nur eben nach der Mutter geraten. Dunkles, volles Haar, breite Backenknochen, ein etwas zu weicher Mund für das vorspringende Kinn und dann die Augen. Tiefstes Rehzigeunerbraun. Und so lange Wimpern, daß sie an einem Mann verboten sein sollten. Und zwar grundsätzlich.
Er lächelte. Die Wimpern störten dabei nicht.
»Alles okay?«
Die Welt fiel mir wieder ein. Hunde, Bullen, Gewalt. Und mein Rucksack!!! Ich wollte hoch, Panik. Er drückte mich wieder runter. »Warte. Bleib hier. Da drüben ist die Scheiße am Dampfen!«
Man konnte es gut hören, Brüllen, Schreie, Bellen. Heiser darüber die Lautsprecherdurchsagen. Der nächste Schnellzug nach Rosenheim. »Mein Rucksack!«
»Mist. Wo?«
»Bei den Bänken da vorn.«
»Oh, Scheiße im Quadrat!« Er sagte es leise und fast andächtig, nachdem er um das Glashäuschen herumgelinst hatte. »Was hast du drin?«
»Wieso drin! Der Rucksack ist nepalgeprüft!«
»Wird ja wohl doch was drin sein, oder?«
»Weißt du, was so ein beknackter Himalayarucksack kostet!?« Ich war wütend, weil er mich nicht losließ, mich weiter hinter diesem Glaskasten auf den verdreckten Boden preßte. Er hatte Kraft, eins seiner spitzen Knie drückte meine Beine runter.
»Also, was hast du drin?«
»Alles was ich habe!« Ich hatte denselben Satz schon mal in einer kleinen Rolle gesagt, allerdings in anderem Zusammenhang. Er hob vorsichtig den Kopf und kam wieder zu mir herunter, ohne seinen Griff zu lockern.
»Welche Farbe?« seine Wimpern irritierten mich, ich schwieg. »Ist es das blaugrüne Edelding mit roter Abfütterung? Mit dem Hollywood-Aufkleber?« Ich sagte noch immer nichts, aber er konnte es an meinem Gesicht ablesen. Den Aufkleber hatte mir mein Vater mal mitgebracht. Echt aus Hollywood, mit dem Handabdruck von Marilyn. »Vergiß ihn«, sagte er leise, »der ist bis oben voll mit Dope.«
»Dope?« Ich merkte nur, daß er mich nicht mehr so festhielt und schob mich etwas von ihm weg. Er hob plötzlich beide Hände und zog sein Knie weg.
»Kleine weiße Tütchen. Ein Lederbeutel. Keine Ahnung, was da drin ist, aber gut sah’s nicht aus. Der Rucksack stand da rum, und die haben alles reingestopft, als die Bullen kamen. Ich vermute Koks, könnte aber auch H sein.« Langsam sank ich zurück in den Dreck aus Cola, Wrigleys und Marlboro. Ich saß in der falschen Produktion. Keine Schmutzzulage, keinen Kleiderzuschuß.
»Bist du sicher?«
»Ich hab’s gesehen. Ich wußte nicht, das es dein Rucksack ist. Ich wollte nur weg.«
»Aber ich hab nichts damit zu tun!«
»Dann geh hin und erklär’s denen.«
Ich sah ihn an, so lang waren seine Wimpern auch wieder nicht. Setzte mich vorsichtig auf und ging in die Hocke. Die Polizei hatte jetzt einen dichten Ring um die jungen Leute geschlossen, da die meisten in Zivil waren, fiel die Gruppe kaum auf. Reisende drängten sich überall, schauten auf Hinweistafeln oder einfahrende Züge. Wie den, der gerade eben einfuhr, Lyon–Marseille. Einer hatte meinen Rucksack umgehängt. Er war größer als die anderen, leuchtender, teurer. Ich stand auf und klopfte meinen Anzug ab. Kein Mensch schaute zu uns her. Die Aktion hatte sich nur auf die Gruppe bei der Bank konzentriert und war over. Erfolgreich abgeschlossen. Sie zogen ab, die Hunde dicht bei Fuß. Ein Dackel kläffte hysterisch hinter ihnen her und riß fast die alte Frau um, an der er hing. Ich hatte mich noch immer nicht bewegt.
Die kleine Mimi hatten sie auf die Art rangekriegt. Die war nun wirklich so doof, daß sie nicht bis sieben zählen konnte. Ab und zu sniffte sie einen mit, wie das sich halt beim Dreh manchmal ergibt. Und dann hatte sie wohl mal für einen Freund einen Koffer aufbewahrt. Bücher hatte er ihr gesagt. Mimi glaubte so was, die schaute auch nicht in fremde Koffer. Der Freund war ein Dealer. Mimi saß immer noch in U-Haft, und wenn sie Pech hatte, dann bekam sie drei oder vier Jahre. Weil die Münchner Gerichte Prominente eben nicht milder behandeln als jedermann. Extra nicht.
Und ich. Wohnung gekündigt, allen Leuten etwas von einer nicht existierenden Tournee vorgelogen und hier mit Rucksack angetroffen. Mittendrin. Und bekanntermaßen eine von diesem Schauspielervölkchen. Ich hatte sogar mal in einem Tatort mitgespielt. Das machte sich immer gut in der Schlagzeile der Bild-Zeitung.
Der Junge sagte nichts. Wartete nur, als würden wir zusammengehören. Cool, entspannt, schlaksig und schön. James Stewart in jung. Unter Lyon–Marseille stiegen Dampfschwaden auf.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Marc«, er grinste, »wie Dollar.«
Oder wie Pesete, dachte ich. Er könnte der Enkel von James Stewart sein. Der Urenkel! Oder doch Gary Cooper. Wegen der Wimpern.