Die Wohnung schien zu zwei Dritteln aus Glas zu bestehen. Dahinter und darunter die glitzernden Lichter von Zürich. Ich hing in einem mit weißem Samt bespannten Ohrensessel und schaute in die Nacht hinaus. Wir tranken Whisky. Die anderen saßen auch in weißem Samt. Auch der Teppich war weiß und samten. An den ebenfalls weißen Wänden (nur der Whisky hatte ein schwarzes Label) hingen dicht bei dicht Baselitz und Juan Gris, Hundertwasser, Schlemmer, Tapiès; Middendorf, Lüpertz und noch ein paar, die ich nicht kannte. Einige waren nicht mal gerahmt. Auch der Teppichboden war weiß. Und Samt.
Wir waren im Speisewagen sitzen geblieben. Der Wein war gut, und auch der Kaffee und das Selters, das wir immer wieder einschoben, waren nicht übel. Friedrichshafen. So gute Freunde waren das auch wieder nicht. Wir könnten auch über Zürich weiterfahren. Da hatte er einen wirklich guten Freund. Eher ein Onkel. Ich hatte ihn angesehen. Zweifelte an meiner Männerkenntnis, verdrängte es aber sofort wieder.
Die erste Paßkontrolle hatte mir den Schweiß kristalldick aus den Poren gepreßt. Höfliche Jungen in grüner Uniform. Sie sahen unsere Pässe an, gaben sie uns zurück. Bei der zweiten Kontrolle sah ich dem Paß von Marc, dem Täuscher, zu, wie er aus der Hemdtasche schlüpfte und wieder zurück in die Tweedjacke hopste. Dieser Paß verstand es, unauffällig zu verreisen, aber nichts an ihm war auszusetzen. Auch an meinem nicht. Offensichtlich. Noch war keine Fahndung eingeleitet, die Computer schwiegen.
Als die Schweizer unsere Fahrkarten kontrollierten, erwies sich Marc, das Fränkli, als der Landessprache mächtig und löste nach. Bis Zürich. Ich hatte ihm seine drei dreinulligen Briefmarken zurückgegeben, und er hatte sie achtlos in die Hosentasche gestopft. Ich war inzwischen besoffen genug, um abzuheben. Ich fand alles großartig, in achtzig Tagen um die Welt oder auch zum Mittelpunkt der Erde.
Am Züricher Bahnhof fuhr uns das letzte Taxi vor der Nase weg, nach wenigen Minuten kam ein neues an. Marc hielt mir die Tür auf und ließ mir den Vortritt. Ich hatte das Gefühl, schon wieder auf einem Trip zu sein. Das Auto war lang wie ein Bus. Mit Orientteppichen gepflastert und Panzerglas zum Fahrer hin abgesichert. Mein junger Marco Polo nannte eine Adresse, und der grau uniformierte Fahrer nickte nur. Hatte ich mir einen Märchenprinzen geschnappt? Ich reckte mich, um über die zwanzig Meter nach vorn zum Fahrer sehen zu können. Hier hätte mal einer staubsaugen können. Ich sah den Taxameter.
»Das ist doch Wahnsinn!« flüsterte ich. Marc legte einen Arm um meine Schultern.
»Nein, ein Bentley.«
Die Fahrt kostete 8 Franken 60, und Marc mußte nicht nach vorn durchklettern, um zu zahlen, der Fahrer kam herum und riß mir den Schlag auf. Vielleicht waren in Zürich ja Bentley-Taxis normal, und Mercedes waren die Minis. Vor der Villa, vor der wir angehalten hatten jedenfalls wirkte der Bentley selber wie ein R 5. Steile Hanglage, da kostete jeder Quadratzentimeter schon ein Vermögen. Wer immer dieser Onkel von Marc war, er hatte davon reichlich. Von der Straße aus konnte man nur einen kleinen Teil des Hauses erkennen, eine Mauer, ein Stück Flachdach. Ein Videoauge, das sich mit uns bewegte. Das schwere Holztor öffnete sich, als wir davorstanden, von selbst.
Nein, das war kein Onkel von Marc, dem Räppli. Das war ein fast ausgewachsener Butler. Sehr jung, sehr klein, schmal und zierlich, Vietnamese oder vielleicht auch Thai, mit original weißen Handschuhen und gestreifter Weste, direkt aus dem Fundus von Eaton Place, Kinderabteilung. Ich kicherte taktlos, aber niemand schien das zu merken. Der Butler lächelte Marc an. »Wissen die, daß du kommst?«
»Nein. Schlechte Luft?«
»Sie erwarten Gäste. Und Leilah ist in Genf. Richard kommt vielleicht abends.« Jetzt warf er zum erstenmal mir. einen Blick zu, schien sich an seine Rolle zu erinnern und gab sich einen Ruck. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Die Herrschaften werden entzückt sein.« Er ging voraus, einen gewundenen Plattenweg nach unten zum Haus. Ich sah Bullaugen statt Fenster, stilisierte Linien, alles harmonisch komponiert. Reinstes Bauhaus. Und wieder wurde die Tür aufgerissen, als wir sie gerade erreichten.
»Was ist denn los, Li?«
Die Frau war gewaltig. Gut einsfünfundachtzig groß, üppig, aber nicht fett, in indische Seide gehüllt wie ein glitzernd buntes Praline im Königsformat. Offenes dunkles Haar und ein lebhaftes Gesicht mit einer gewaltigen Habichtsnase. Sie überragte den armen Butler um Längen. Entdeckte daher auch ohne Schwierigkeiten die neuen Besucher. Stürzte sich auf Marc und umhüllte ihn mit Armen und Gewändern.
»Markus, mein Schatz! Wieso hast du nicht angerufen! Wie schön!!!« Bussi, Bussi, Bussi. Dann erst nahm sie mich wahr, ohne ihn freizugeben. Streckte mir eine Hand unter den Seidenmengen entgegen und zog sie zurück, bevor ich sie ergreifen konnte. »Ich bin Hilda. Markus! Ist das eine Freundin von dir? Stell sie mir vor!« Aber weder Marc noch ich bekamen Gelegenheit, etwas zu sagen, sie hob ihre Gewänder und schwebte uns voraus, übergab uns zwischendrin mit einer Handbewegung an den Thai zurück und löste sich in Luft auf.
Gänge, Flure, Treppen. Weiß und Samt und matter Lack. Zwischendurch immer mal wieder ein eher zufälliger Blick durch ein gigantisches Panoramafenster in die proletarischen Weiten und Tiefen unter uns. Eine letzte Tür öffnete sich in ein vergleichsweise kleines Zimmer, zart silbergrau und nach den vielen Stufen und Treppen in schlichter Schrebergartenhöhe. Das Hinterteil eines Hauses am Hang, oder wie man seinen Status als Gast an der Tapete erkennt. Silbergrau war auch das breite Himmelbett, das fast das halbe Zimmer einnahm.
»Wenn ihr noch was braucht, sagt es mir. Ich denke, es ist besser, ihr laßt euch vor abends nicht mehr unten sehen.« Li musterte mich ziemlich unverhohlen, aber ich sah ihn nicht an, ich beobachtete Marc, the coppercoin. Er wurde rot. Er war verlegen. Zum erstenmal eine richtig menschliche Farbgebung.
»Champagner«, schlug ich vor, »jetzt haben wir uns gerade dran gewöhnt. Und vielleicht gibt’s auch was zu essen hier. Vielleicht ein Stückchen Hummerschwanz zum Vorkosten?«
Li verschwand ohne Kommentar. Marc stand noch immer neben der Tür und spielte selber Hummer. Frisch gekocht. Ich inspizierte das Zimmer. Der Degas an der Wand, der aussah wie ein Kaufhausdruck, war ein Original. »Hast du mal was mit dieser Hilda gehabt?«
»Hilda ist die Mutter meines Freundes Richard.« Steif und betont. Ich schaute aus dem Fenster, es sah aus, als wäre ich in Castrop oder Eching. Nur die Berge dahinter schienen höher.
»Und Leilah?«
»Ist die Schwester von Richard. Wir haben uns in Ibiza kennengelernt. Die haben ein Haus da.«
Hilda war etwa um die Mitte Vierzig, schätzte ich, dann waren Richard und Leilah in Marcs Alter. Er sprach Schweizerdeutsch. Hilda hingegen klang eher nach Kiel oder Husum. Reiches Söhnchen? Gemeinsames Internat? Die Lösung schmeckte mir nicht, die Version Marc und Hilda fand ich aber noch weniger anheimelnd. Hatte sie mich deshalb so komisch angesehen, oder war das einfach ihre Art? Fragen über Fragen. Li löste wenigstens die nach der Verpflegung. Er klopfte kurz und rollte einen vollbepackten Trolly rein. Champagner, Mineralwasser und Kühlboxen, Brote, Salate, Pasteten. Nicht genug, um die Sahara zu überqueren, aber doch ausreichend für die nächsten zwei oder drei Stunden. Marc hatte sich noch immer nicht bewegt.
»Heh«, ich klopfte bei ihm an, »ich bin noch da.« Er drehte sich langsam zu mir um, sah mich an. Immer wieder diese verdammten Wimpern. Rehbraun.
»Tut mir so leid. Ich hätte das nicht machen dürfen. Mir fiel nur nichts anderes ein. Beschissen. Laß uns abhauen.«
»Erst essen.« Ich setzte mich auf die zartgraue Bettkante und zog den Trolly zu mir ran. Marc stand vor mir, schaute mir zu und setzte sich so plötzlich neben mich, daß der Champagner, den ich gerade verteilen wollte, einen mausgrauen Streifen auf den Teppichboden zog.
»Ich liebe dich. Ehrlich. Das hab ich noch nie gesagt. Meine Fresse!« Er küßte mich, und der Rest der Flasche legte erste Schlammkulturen im Teppichboden an.
Er dachte daran, die Tür zu verriegeln, während ich die Vorhänge vor die Schrebergartenfenster zog. Wenn er nun was mit Hilda gehabt hatte … Mamakomplex … er war wieder bei mir und ich konnte nicht weitergrübeln.
Das Bett war breit wie lang. Ich nicht minder. Der Junge war der absolute Urknall. Wir vergaßen Zeit und Raum. Du und ich und der Mittelpunkt der Erde. Danke, angekommen, roger. »Ich liebe dich. Wirklich. Ich hab nicht gewußt, was das ist. Du.« Seine Augen waren tellergroß vor meinen. Ich konnte bis auf seine Fußsohlen hindurchschauen. Und das half mir. Vierunddreißig. Fast doppelt so alt an Erfahrungen. Das war kein Theater mehr. Das war live. Ich kündigte Pinkertons Detektiven und ließ mich fallen. BOINGG.
Es wurde dunkel draußen. Marc schlief neben mir. Ich machte mich auf die Suche nach einem Klo und fand es direkt ans Zimmer anschließend. Was ich für einen Wandschrank gehalten hatte, entpuppte sich als Luxusbad. Blaugrau. Dreifachspiegel, Bidet, Zahnbürsten und ein Körbchen mit Seifentüten und Duschhaube. Wie im Hotel. Ich ließ die Tür einen Spalt weit offen. Die Jacke und das Hemd lagen über dem Stuhl, die Hose auf dem Boden davor. Ich machte mich an die Taschen.
Reisepaß, Personalausweis und Führerschein. Alle in einer Plastikhülle. Markus Allermann, geb. 7. 5. 1970 zu Dortmund. Hinter dem Ausweis steckte noch mal ein Hunderter, sonst gab es kein Geld. Die drei Briefmarken in der Schuhsohle waren sein letztes gewesen. Ich war gerührt.
»Hätte ich nicht von dir gedacht.«
Er lag halb aufgerichtet im Bett, seinen gebräunten Körper auf einen Arm gestützt und sah mir zu, wie ich den ganzen Kram wieder in seinen Kleidertaschen verstaute. Das silbergraue Laken lag lässig über seiner Scham, und das ganze Zimmer roch nach unserer Liebe. Und ich hockte da über seinen Papieren. Da gab es kaum eine glaubhafte Entschuldigung und wenn, fiel sie mir nicht ein.
»Ich wußte nicht, wer du bist«, sagte ich vage. Er nickte nur.
»Klar. Ich versteh das gut. Meine Mutter hat immer in meinen Sachen geschnüffelt. Sie hat sogar an meinen Unterhosen gerochen.«
Knockout. Nach Punkten. Ich sagte nichts. Er sah mich nur an in dem Dämmerlicht zwischen Badezimmer und Zürich by night. Ich ließ die Jacke, die ich gerade in der Hand hatte, fallen.
»Bin ich deine Mutter?«
»Nein. Hör zu, ich hab keinen Mamakomplex. Wenn überhaupt, hatte ich eine Beziehung zu meinem Großvater. Der war okay. Ich bin in Heimen groß geworden. Ich hab nicht die üblichen Spielregeln kennengelernt. Meine Mutter hat mich da abgegeben, und der einzige, der mich besucht hat, war Großvater. Von ihm hab ich ein bißchen was gelernt. Auch, die Frauen zu lieben.«
»Hast du schon mal daran gedacht, Schriftsteller zu werden?«
»Schon oft«, er lachte. »Gib mir mal deine Tasche, okay?« Er streckte den Arm aus. »Du hast doch auch mehr als nur tausend Möpse unterm Mieder, oder?«
»Knapp zehn.«
Er pfiff leise durch die Zähne und legte sich wieder zurück. »Dann komm ohne.« Er klopfte neben sich auf die Matratze, als wäre ich ein Hund. Ich hüpfte.
WHOW. BOINGG. SCHMATZ.
Irgendwann hörten wir Stimmen und standen auf. Wir stellten uns unter die Dusche, seiften uns ab und zogen uns an. Gegenseitig. Kichernd, albern, souverän. Wir sind verliebt. Was kratzt uns der Rest. So traten wir unten auf. Und nicht mal Hilda konnte mich schocken.
Sie hatte sich umgezogen und zurechtgemacht. Wenn ich Produzent wäre, ich würde sie sofort engagieren. Groß, schön, üppig und überaus mächtig. Sie hatte ihr Haar hochgeknüpft, ihr Gesicht geschminkt, nur Augen und Mund, und den Körper in ein violettes Schlauchkleid gepreßt, das auf den linken Busen einen hellroten Panther gestickt hatte.
»Helke«, sie kam mir entgegen, »du siehst wunderbar aus.« Das allein war ja schon die Übertreibung des Jahres. Ich hatte zwar versucht, meine angegriffenen Safarihosen einigermaßen sauberzubekommen, aber der Knitter wirkte nicht übertrieben modisch. Hilda reichte mich in dem weißen Samtsalon herum. »Seht nur, wen wir hier haben. Helke Hahnold! Und meinen kleinen Marc kennt ihr ja noch.« Ihr kleiner Marc wurde wieder rot. Hilda ließ ihn zurück und steuerte mich in eine Ecke, in der zwei Männer am Panoramafenster lehnten. Der eine, lang, dünn und etwa in meinem Alter, sah aus wie Jesus; lange Haare, weißes Leinen und John Lennon-Brille. Hilda küßte ihn besitzergreifend und stellte ihn nur als Jürgen vor. Der andere war nicht viel älter, hatte aber entschieden mehr Power. Mittelgroß, breitschultrig und gut zehn Kilo zu schwer. Schwarzes Haar und ein wilder Vollbart deckten sein Gesicht völlig zu, ließen nur Raum für erstaunlich helle und starre Augen, die mich unverschämt musterten.
»Nicht übel«, war sein Kommentar. Hilda eilte auf neue Gäste zu und ließ mich stehen, als wäre ich das Schüsselchen mit den Oliven. So kam ich mir auch vor. Jeden Moment würde er zugreifen. »Hängen Sie immer noch an diesem Schwachkopf von Regisseur dran?« Er holte eine Zigarre aus der Brusttasche und zündete sie formlos wie eine Zigarette an. Rauchte sie auch ebenso hastig. Ich wich vor den scharfen Havannawolken zurück. »Heiko Krest, dieser Trottel! Warum ist er nicht bei seinen Dokumentationen geblieben? Da kann er was.« Sein Mund wölbte sich feucht um die dicke Zigarre, auf den Barthaaren bildeten sich Tautropfen. Heiko. Woher kannte er Heiko. Seine Augen waren nicht blau, farblos wie Industrieglas. »Sie haben etwas Tragisches. Diese Augen. Ja, die Augen.« Ich versuchte, mich wegzudrehen, nach Marc zu schauen, ich schaffte es nicht. Der Havannaraucher hatte Ausstrahlung, magische Kräfte, Intensität. Ich kam nicht weg. »So müßte man dich einsetzen.« Er hatte seine Zigarre vergessen, drehte sie nur noch nuckelnd im Mund und sah mich an. Die Industrieglasaugen standen zu eng, kaum getrennt von einem dunklen Haarbusch auf der Nasenwurzel. Und endlich wußte ich auch, wer er war. Armin Pfentner. Er hatte bisher nur drei Filme gemacht, alle drei waren vielfach ausgezeichnet worden und liefen auf allen Festivals. Er arbeitete viel in Italien und Frankreich und hatte die ersten Angebote aus Amerika. Ich hatte nur einen Film gesehen, ›Martha‹, eine düstere Geschichte von zwingender Melancholie, ich hatte geheult und darauf verzichtet, mir die beiden anderen Filme auch anzutun.
»Ich würde gern mal in einer Komödie spielen«, sagte ich. »In einer wirklich guten Komödie.«
»Es gibt keine guten Komödien.« Er zog so heftig an seiner Zigarre, daß sie rot aufglühte und einen kleinen Funkenregen versprühte. »Außerdem bist du vollkommen unkomisch. Alles andere als komisch.« Er stieß ein leises Glucksen aus, das vermutlich seine Version von Lachen war. Ich schaffte es immer noch nicht wegzugehen.
Jürgen erwies sich nicht nur als Hildas Freund, sondern auch als Heilpraktiker. Er riet dem Havannaraucher, nicht dauernd zu inhalieren, und versprach, ihm eine Salbe gegen Krampfadern zusammenzurühren. Armin Pfentner ließ mich nicht aus den Augen, während er mit Jürgen über seine Diätbemühungen, Verdauungsstörungen, Magenübersäuerung, Kreislaufprobleme und Hämorrhoiden sprach. Jürgen hörte geduldig zu und kannte alle Kräuter. Li brachte immer wieder Tabletts mit Getränken vorbei, im Nebenzimmer war ein langer Tisch mit Platten und Schüsseln aufgebaut, vor dem sich die Hungrigen mit ihren Tellern stauten. Ich blieb wie festgenagelt in der Panoramaecke stehen.
Das Haus war inzwischen voll. Ich hatte immerhin mitbekommen, daß Hilda die Witwe eines bekannten Galeristen war, daß sie ein offenes Haus hatte und viele Freunde aus der Kunst-, Film- und Theaterszene. Auch ein paar Literaten sollten anwesend sein. Ich trank Champagner. Nicht schlecht, aber auch nicht die Qualität, die uns Li am Nachmittag aufs Zimmer gebracht hatte. Ich entdeckte endlich Marc. Er stand am entgegengesetzten Ende des Zimmers und schaute zu mir her. Across a crowded room. Kribbeln im Bauch. Ich hob mein Glas, um ihm zuzutrinken.
»Alles andere als komisch!« fauchte Havanna neben mir. In diesem Augenblick sah ich Drei-Tage-Bart-Andreas. Ich stellte langsam mein Glas ab und setzte mich in Bewegung. Ich brauchte frische Luft. Kaltes Wasser. Einen Schlag auf den Kopf. Irgend etwas, das mich aufweckte.
Vor dem Gästeklo standen sie schon in Gruppen wie vor der Oper im Festspielsommer. Ich stieg die samtweichen Treppen hoch. An den gewundenen Innenwänden hingen ein kleiner Dalí und zwei Picassos. Inflation oder wie? Ich fand das Familienbad, nachdem ich in zwei Schlafzimmern über röchelnde Paare gestolpert war, und schloß mich ein.
Der Luxus beeindruckte mich kaum noch. Hier waren die Kacheln von einem tiefen Goldgelb, und die Armaturen sahen aus wie echtes Gold. Jedenfalls hatten sie die richtige Farbe und waren nicht angerostet. Eine runde Stufenwanne, drei nebeneinanderliegende Waschbecken und darüber ein gigantischer Spiegelschrank. Das Spiegelglas hatte auch einen Goldschimmer, so daß ich nicht halb so ausgekotzt aussah, wie ich mich fühlte.
War ich das Opfer einer Intrige?
Politische Machenschaften?
Ich setzte mich auf die Goldbrille. Die Welt war zu klein für mich. Oder ich? Hatte ich denn wirklich alle Brücken abgebrochen? Oder hatte ich lediglich meine Bücher, Platten und Souvenirs im Container untergestellt und mein Sparschwein für einen etwas aufwendigen Spontanurlaub geschlachtet? Weil ich ja im Moment sowieso kein Engagement hatte und die Luft raus war und Heiko mir stank. Oder die Wohnung doch zu teuer war für die fade Gegend. Oder eine saftige Midlifecrisis. Weil ich das fröhliche Leben meines Vaters dauernd vor Augen hatte, während ich mich für mickrige Drittklassrollen mit fetten Heikos in den Laken wälzen mußte. Die mich dann auch noch für grünes Rattengift stehenließen.
Ich bekam sie ausgerechnet hier und jetzt. Die böse Depression. Ich heulte und schiß und kotzte um die Wette. Irgend jemand versuchte einmal leise reinzukommen, hörte mich wohl würgen, verschwand taktvoll. Ich saß auf der goldenen Brille, und es ging mir sehr viel besser. Ich war unterwegs. Und ich konnte ja jederzeit zurück. Herrgott noch mal, ich war vierunddreißig, und alle großen Mutterrollen lagen noch vor mir. Und Marc.
Ich stand auf. Und sah mich im Spiegel. So konnte ich nicht zurück vor die Welt treten. Ich ging zu einem der Spiegelschränke. Bis obenhin voll mit Medikamenten. Ich versuchte es mit der nächsten Tür. Dasselbe. Ich kam mir vor wie in der Apotheke. So was hatte ich im Leben noch nicht gesehen. Bei der dritten Tür wieder. Mengen und Massen. Immerhin waren wir ja in der Schweiz. Bekam man hier das Zeug gratis? Ich nahm einige der Schächtelchen und Glasröllchen heraus. Uppers und Downers und gegen jedes einzelne Herzkranzgefäß gab’s was, die meisten Namen sagten mir nichts, ich schob das Zeug zurück, suchte weiter nach Kamm und Lippenstift. Ich fand nichts davon, fuhr mir nur mit den Fingern durch das Haar und wusch mir das Gesicht ein paarmal mit kaltem Wasser.
Direkt vor der Klotür hockte Marc auf dem weißen Samtteppich. Er sah hoch, als ich herauskam. »Das ist sie.« Neben ihm lagerte ein alternder Cupido. Rund und rosig. Verhüllt von einer wallenden Tunika hielt er einen bauchigen Eisbecher aus Kristall in beiden Händen und leckte daran, als wäre es ein Langnese-Steckerleis. Lila, rosa, grün. Pures Plastik. Placeboeis. Auf seinem lockigen Blondhaar hatte er ein Wollmützchen sitzen. So alt und speckig, daß es schon sakrale Bedeutung haben mußte. Er schaute zu mir hoch. »Sie ist schön.«
»Ja. Du verstehst, was ich meine?«
»Genau!« Cupido kicherte und ließ seinen Eisbecher fallen, die Kugeln rollten träge aus dem Kristall und verschmolzen mit dem weißen Samt.
Ich machte einen großen Schritt, um an den nächsten Treppenabsatz zu kommen. Marc war mit einem Sprung neben mir und hielt mich am Arm fest. »Warte. Ich möchte dich mit meinem Freund bekannt machen. Richard.« Ich blieb stehen, aber Richard Cupido hatte Wichtigeres zu tun. Da waren Flecken auf seine Tunika geraten, er wirbelte sie um sich, wischte, klopfte, kratzte und entblößte dabei einen prallen, bleichen Zwei-Zentner-Bauch, in dem der Nabel so tief saß wie eine Waschbärhöhle.
»Ricardo!« Die Stimme von Marc klang scharf und fremd. Der Cupido schaute hoch. Lächelte breit und entblößte eine für seine Jugend stattliche Reihe an Zahnlücken.
»Alles klar. Wunderbar.« Er zeigte uns kurz seine dicke Faust, den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger geschoben. Hoch über die Schulter gereckt. Dann widmete er sich wieder eifrig seiner verschmutzten Tunika.
Marc ging ein Stückchen vor mir die Treppe hinunter. An einer der runden Biegungen blieb er stehen, wartete auf mich. Berührte mich nicht und wich aus, als ich ihn küssen wollte.
»Hauen wir ab. Okay?«
»Jetzt? Wohin?«
»Nur weg. Komm.« Er hatte wieder diesen Machoton drauf, den er eben bei Cupido gehabt hatte. Dagegen war ich jetzt immun. Ich hatte nicht umsonst auf dem Klo geheult. Ich hob nur die Schultern.
»Morgen vielleicht«, und ging weiter.
Ich dachte, er würde mir folgen oder wenigstens etwas sagen. Aber das einzige, was ich hörte, war das monotone Singen, das Cupido weiter oben beim Reinigen seiner Tunika von sich gab.
Unten hatten sie jetzt Musik aufgelegt und tanzten. Jürgen und Hilda bildeten den Mittelpunkt, und immerhin, tanzen konnte er. Die anderen räumten ihnen Platz ein, Respekt, Applaus. Einige kauten noch an den Krebsschwänzen, und alle hatten die Gläser voll. Es duftete sanft nach Kraut, und in einer Ecke waren Spiegel ausgelegt, hübsch gerahmte Kinderspiele mit kleinen Irrgärten unter dem Glas und der Katze, die die Maus jagt. Armin Pfentner stand über einem dieser Spiegel. Er hatte eine kleine weiße Straße über den Spiegelirrgarten gelegt, kunstvoll den Kurven folgend. Das Röhrchen, das er ansetzte, war aus Gold. Drei-Tage-Bart-Andreas stand neben ihm.
»Wie kommst du hierher?«
»Ich habe morgen eine Lesung«, blähte er sich auf. »Im Schauspielhaus.«
»Du kannst auch lesen?«
»Ja«, lakonisch, er beobachtete fasziniert, wie Armin Pfentner die weiße Straße vom Spiegel hochzog.
»Vermutlich bist du zu Fuß hier, oder?«
»Weekendflug. Die zahlen die Spesen.«
»Und woher kennst du Hilda?«
»Wer ist Hilda?«
»Von der ist das Bier, das du da säufst.«
»Ach, die«, er lächelte plötzlich, »ich bin mit ihm hier. Er hat mich mitgenommen.« Er deutete mit dem Kopf auf Armin Havanna, der sich jetzt zurückbeugte, um noch die letzten Krümel hochzuziehen. Dann gab er den Platz und das Porzellantöpfchen mit dem Silberlöffel für die anderen frei. Als er hochschaute, sah er mich, blies über den Spiegel und kam zu mir herüber.
»Du hast was. Die Augen.« Er umarmte Drei-Tage-Bart-Andreas, sprach aber mit mir. »Und er schreibt das Drehbuch für mich. Man muß ihm nur dauernd in den Arsch treten. Mit Nagelschuhen. Sonst bringt er nur Scheiße. Aber wenn er mal loslegt! Was meinst du?« Jetzt ließ er Drei-Tage-Bart los und umarmte mich statt dessen. Sprach über mich hinweg. »Die hat es. Dieses ganze Unglück. Von innen heraus. Wenn die auf der Leinwand erscheint, NAH, dann sind die alle weg. Dann ist der Film drin. Klar?« Er ließ mich los und schlug sich mit beiden Händen auf den Bauch. Verschüttete dabei seinen Rotwein und verlor die Asche seiner Zigarre.
Ich sah zufrieden den rubindunklen Fleck auf dem weißen Samt und das schwarze Loch rund um den kleinen Glutpunkt. Ich verstand das Geheimnis des immerweißen Teppichs. Er wurde vor und nach jeder Party ausgewechselt. Li brachte mir ein neues Glas. Es war wieder der gute Champagner, und ich blinzelte ihm zu. Er ging weiter, ganz Butler, ganz Asiate. Havanna riß mich plötzlich am Arm herum. »Hörst du mir überhaupt zu, verdammt!« Ich hörte. Er ließ mich los, aber nur, um sich eine neue Zigarre anzustecken und nach frischem Wein auszuschauen. Li war in der Menge untergetaucht. Cupido stand vor uns. Er hielt ein kleines Tablett mit einem einzigen Glas. Ein wunderschöner alter Römer, bauchig und blutrot von altem Burgunder. Armin Havanna nahm das Glas wie eine Opfergabe, vorsichtig mit einer Hand liebkoste er die Rundung, hielt es gegen das Licht, trank. Nickte. Trank wieder und seufzte glücklich.
Cupido beobachtete ihn. Er hatte die Tunika gewechselt, burgunderrot. Lächelte. Ich sah die Ähnlichkeit mit Hilda. Und von der Mutter die Statur. Richard-Ricardo ließ das leere Tablett achtlos hinter eine Topfpalme gleiten und sah Armin Havanna zu, der mit seinem schon halb geleerten Römer etwas unsicher herumstand, sich langsam umdrehte und zu einem weißsamtenen Sofa an der Rückwand ging. Er schwankte leicht, stand jetzt mit dem Rücken zu uns und fixierte einen in Rot und Blau explodierenden Sandro Chia von der Größe eines Pingpongtisches. Fast feierlich hob er seinen Römer, trank ihn leer, ließ ihn auf den Boden rollen und sank mit einer leichten Drehung schräg auf das Sofa. Sein Gesicht glänzte dunkel, auberginenfarben, weißfleckig wie halb geschält. Dicke Schweißperlen glitzerten in seinem Bart und klebten ihm die Haare an den Kopf. Er hatte die Augen geschlossen und krümmte sich nach vorn.
Ich sah ihn wie in einem Film. Wie eine Kameraeinstellung. Das Weiß des Raumes, des Sofas, die brutalen Farbkontraste in dem Chia und die darunter hingelagerte Gestalt von Armin Pfentner Havanna. Schräg und flanellgrau. Ohne Hände, wie es schien. Die Manschetten ragten weiß aus den Ärmeln, unsichtbar auf dem weißen Samt, ebenso wie die Hände, schmal und kalkweiß.
Ich kam nicht auf die Idee, zu ihm hinzugehen, ihm möglicherweise zu helfen. Vielleicht dachte ich aber auch daran und zögerte nur. Rückblickend habe ich nur die unterkühlte Bildkomposition vor mir und in der Hand das Gefühl des allmählich warm werdenden Champagnerglases.
Jemand berührte mich leicht, ich wandte mich um. Marc. Er lächelte und küßte mich. Seine Haut war so weich, als müßte er sich noch nicht rasieren. »Komm«, diesmal folgte ich ihm. Rund um den Tisch mit den Spielspiegeln standen immer noch Leute, es ging laut zu, hektisch und eng. Marc bahnte uns einen Weg, ohne den Arm von meiner Schulter zu nehmen. Er war ruhig und entschlossen, ab und zu blieb er stehen, lachte mit jemandem, sagte etwas. Charmant, höflich. Im Vorbeigehen.
Ich folgte ihm. Passiv, zufrieden und dümmlich vor mich hin grinsend.
Das war, so sehe ich das heute, der letzte Moment für mich. Hier hätte ich noch umkehren können. Aussteigen. Meine Haut retten, mein Leben, meine Zukunft und Freiheit. Und leider kann ich auch nicht sagen, daß ich es nicht wußte oder daß ich besoffen war. Ich war nicht nur nüchtern, ich war sogar überklar. Tu’s nicht, sagte das kleine schlaue Tübinger Mama-Ich in meinem Hinterkopf. Komm heim, Kind, das nimmt ein böses Ende.
Wie böse, ahnte ich natürlich nicht. Nicht mal Drei-Tage-Bart-Andreas hätte sich so was ausdenken können. Oder keiner hätte ihm das abgekauft. Einfach zu irre. Unglaubhaft. So was passiert nicht im wirklichen Leben.
Jedenfalls nicht einem selber.