Kapitel 8

Wir bretterten durch die Nacht. Kein Mond, keine Sterne, die Scheinwerfer rissen immer nur ein paar Meter Asphalt aus der Dunkelheit. Die grünen und roten Digitalanzeigen flimmerten. Wir hatten kaum noch Benzin, Öl war kritisch. Ich wollte nicht mehr hinschauen, starrte doch. Hypnotisiert. Versuchte, mich auf die Uhr zu konzentrieren. Fünf Uhr siebenundvierzig und drei Sekunden. Vier. Fünf. Flacker. Sechs. Heavy Metal aus allen Lautsprechern.

»Joihjoihjoih!« Cupido jodelte mit und ließ dabei das Steuer los. Der BMW lag gerade. Vor uns leuchteten gelbe Warnknöpfe auf. Marc schrie, Cupido lenkte mit einer Hand in die Kurve und auch wieder raus. Ich sah für einen Moment das Nichts hinter den Begrenzungspfosten. Die Berge ragten rechts bis in den Himmel. Ich saß hinten links. Cupido hatte noch immer seine Tunika an, sie behinderte ihn nur unwesentlich, da er die Hände kaum am Steuer hatte. Der BMW fuhr jetzt weit über zweihundert, ich hatte schon lange beschlossen, zu tun, als wäre das alles nur ein Trip. In einer Kurve hatte Marc, der neben Cupido saß, ins Steuer gegriffen, was, wie jeder Autofahrer weiß, zu den beliebtesten Kommentaren gehört. Cupido hatte nicht widersprochen, sondern nur schrill gekichert. Ich hatte es auch aufgegeben, darüber nachzudenken, was Cupido in dem Auto machte. Noch dazu am Steuer.

Ich hatte nicht mal mehr Angst.

»Vorsicht, Grenze!« Die Stimme von Marc klang ruhig, Cupido nahm tatsächlich den Fuß vom Gas.

»Haben wir was drin?«

»Ja. Dich. Hast du nicht wenigstens einen alten Jogginganzug im Kofferraum?«

»Wieso? Ich find mich schön!«

»Eben. Zu schön. Stell dir vor, der Grenzer verliebt sich in dich.«

Cupido kicherte und fuhr noch langsamer. Marc spielte da auf einem Klavier, das mir nicht gefiel. Cupido schien schwachsinnig zu sein, abhängig und bescheuert. Und ihn hatten wir am Steuer eines BMW, mitternachtsblau.

Wieder ein Douane-Schild. Cupido nahm das Gas weg. Maulte.

»Du hast mich doch nicht in mein Auto gelassen. Im Ferrari hab ich alles. Sogar Dope!«

»Mann, in einem bonbongestreiften Ferrari über die Grenze, da kennt dich doch jeder!«

»Na und?«

Ich hatte nicht das Gefühl, daß der BMW unauffälliger war als ein Ferrari, aber ich war ja auch nur Entenfahrer. Am Horizont bildete sich eine gezackte Linie. Der Himmel, die Berge. Wir waren nahe daran, das Land von Heidi und ihrem Alp-Öhi zu verlassen. Ich lag hinten auf silbergrauen Schonbezügen, irisch, handgewebt und hatte meine Beuteltasche unter dem Kopf. Marc hatte den Paß. Unsere drei Pässe steckten übersichtlich wie ein Pokerspiel im Paß von Cupido. Schweizer Rot. Müde wurden wir aus der Schweiz rausgewinkt und mit einem geradezu beleidigenden Gähnen nach Frankreich eingewedelt. Marc und Cupido sahen sich an und begannen loszugrölen. Die Marseilleise, Sur le pont d’Avignon und noch ein paar Piaf-Songs. Laut und falsch. Schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und jagten den BMW auf zwei Rädern durch die Kurven. Ich sah keinen Anlaß zu so ausgelassener Freude. Im Gegenteil. Ich fragte mich, was ich eigentlich in diesem Scheißauto tat und rollte mich zusammen.

In meinen wirren Träumen krachten dauernd Autos aufeinander oder gegen Bäume und Brückenpfeiler. Als der Crash endlich kam und ich vom Rücksitz geschleudert wurde, hatte ich keine Lust aufzuwachen. So was tat gewöhnlich weh, und ich schlief gerade so schön. »Heh, komm schon«, jemand rüttelte an meiner Schulter, ziemlich grob, muß ich sagen. Ich lag verkrümmt halb unter der Bank, mein Rücken schmerzte. Gelähmt! Ich schoß hoch und stieß mir den Kopf an den Kopfstützen an. Ich fluchte gottsjämmerlich und beschimpfte alles, was mir ins Gesichtsfeld kam. Ein kuhäugiger Cupido und ein fassungsloser Marc. »Bitte«, flüsterte er wieder, »bitte!« Aber ich war noch nicht fertig. Ich schlug auf seine Hand, die nach mir greifen wollte, und keifte weiter. Niemand hörte mich. Wir standen auf einem in die Felsen gehauenen Parkplatz dicht an der Straße, dahinter stiegen die Berge auf, blau und steil und über dem Ganzen eine purpurgoldene Sonne, die die an sich trostlose und kahle Landschaft mit intensiven Farben überzog. Erschöpft holte ich Luft. Die Felsen hatten ein anderes Blau als die Asphaltstraße, dazwischen ein schmaler Streifen in grellem Erbsengrün mit klatschgelben und unschuldig weißen Farbklecksen drin, Gänseblümchen und Löwenzahn. Mein Gott, hier blühte es schon. Der Himmel war wolkenlos, von Zitronengelb über Kitschpink zu Violettblau. Wir waren im Süden.

Der BMW schien auch unversehrt, vermutlich Cupidos spontane Art zu bremsen. Ich ließ es jetzt zu, daß Marc mir seinen Arm um den Hals hängte und ging mit den beiden zu dem Haus am Parkplatz. Eine Trutzburg aus rotbraunen Quadersteinen, davor eine winzige Terrasse mit plastikroten Stapelstühlen und Bistrotischchen.

Ein verstrubbelter Wirt mit Schnauzbart und ohne Baskenmütze kam heraus, begrüßte uns und stellte einen weißroten Sonnenschirm auf. Bierreklame für La Meuse. Cupido machte einen Mösenwitz, und Marc bestellte Café au lait und Croissants. In fließendem Französisch. Ich lehnte mich zurück und schaute in den blau-blauen Himmel hinauf. Morgens um sieben stellten die schon Sonnenschirme auf. Am Wegrand üppige Vegetation, ich war weg von daheim. Ganz woanders. Tropisch fast.

Marc rückte seinen Stuhl nah zu meinem hin und küßte mich. Seine Haut war weich, und auch jetzt, übermüdet und unrasiert, sah er sanft und weich und rehäugig aus. Ich küßte ihn zurück. Offen. Wach. Ich war glücklich. Und ich wußte es. So fühlt sich das also an, dachte ich noch, behielt den Augenblick bewußt im Gedächtnis festgebrannt wie eine Holographie.

Cupido sang irgend etwas von der Liebe-so-schöhön-schöhön und vertilgte drei Croissants, die er vorher in seinen übersüßen Milchkaffee tunkte. Marc und ich ließen uns davon nicht stören. Der Kaffee war der beste meines Lebens und die Croissants leicht und knusprig.

Die Franzosen können so was halt. Oder La vie en rose, wie der Engländer sagt. Ich spürte Lachreiz, die beiden anderen stimmten mit ein, wir grölten und kicherten und bogen uns tränennaß, bis wir kaum noch sitzen konnten. Unser inzwischen gekämmter Schnauzbart brachte uns drei Raphael auf Eis und lächelte. Und das morgens früh um acht. Da hätte uns jeder deutsche Wirt rausgeschmissen. Hochkantig.

Wir fuhren weiter, jetzt Marc am Steuer, ich neben ihm, Cupido auf der Rückbank in seine Tunika gerollt. Ich hatte in den Kassetten gekramt und lauter Gartenzwerge gefunden. Bing Crosby, Frank Sinatra, Mel Tormé, Ella und Louis, Nat King Cole und die Ink Spots. Ich schmolz dahin, legte meinen Kopf an Marcs Schulter und sah nur im Augenwinkel, daß wir schon wieder fast zweihundert fuhren. Wir hatten also Hildas Auto. Und die reiche Auswahl an Heavy Metal und Hardrock zeugte dafür, daß Cupido das Auto auch ständig benutzte. Vermutlich, weil sein Ferrari in der Werkstatt war, so wie er fuhr.

Autobahn. Asphalt. Die weißen Streifen und die ab und zu auftauchenden Seitenbegrenzungen als Landschaft. Marc sagte nicht mehr viel. Er fuhr jetzt etwas langsamer, schien halb zu schlafen, reagierte aber schnell und sicher. Ich hätte so gern das Meer gesehen oder Frankreich. Einmal konnte ich hinter einer berlinhohen Betonmauer die Dächer von Bauernhäusern sehen. Provence. Wir mußten schon in der Provence sein, es wurde heiß im Auto. Cupido wachte auf und nörgelte. Er hatte Hunger.

Marc fuhr durch. Er wäre auch bis Barcelona weitergefahren, wenn Cupido nicht gedroht hätte, ins Auto zu scheißen. Er war wütend, weil er geschlafen hatte, als Marc tanken mußte, und sich so nicht mit Reiseproviant hatte eindecken können. Er hatte mich die ganze Zeit nicht wahrgenommen, er mochte mich nicht, weil ich seine Beziehung zu Marc störte. Welche auch immer. Der Hunger trieb ihn mir in die Arme. »Sag du es ihm!« flehte er, und das waren die ersten Worte, die er direkt an mich richtete.

»Wir fahren nicht durch«, sagte ich auch sofort, »wir suchen uns hier irgendwo ein Hotel.«

»Es ist nicht mehr weit.«

»Bis Barcelona. Das sind noch Stunden. Ich hab keine Lust mehr. Und Cupido auch nicht.« Der Name war mir rausgerutscht, Cupido schien es nicht zu stören, er gluckste zustimmend, Marc konzentrierte sich auf die Straße.

»Wer?«

»Oder haben wir einen Grund, schnell nach Barcelona zu kommen?« Der Gedanke war mir eben gekommen. Das Theater vor und nach der französischen Grenze hatte ich mit kleineren Mengen von Schmuggelware erklärt, Dope, was auch immer. Aber Marc schien keine Angst vor der spanischen Grenze zu haben. Nur raus aus der Schweiz also? Oder nur weg von irgendwas.

»Und wo?« fragte er mürrisch, aber nicht unkooperativ.

»Sète«, sagte ich bestimmt. »Eine süße kleine Stadt. Fischerhafen, jede Menge Meeresfrüchte.«

»Schmatz!« bestätigte Cupido vom Rücksitz aus, und damit hatte er mich endgültig akzeptiert.

Es hatte sich im Laufe des Tages etwas bezogen, als wir in Sète einliefen, ging gerade die Sonne unter, die Wolken hatten wild gezahnte Lichtränder, die sich im quirligen Meer spiegelten. Die Brücken, die alten, windschiefen und leicht vergammelten Häuser im Halbrund, die Plätze mit den alten Männern und den staubigen Platanen und die staubigen Cafés. Der immer noch sichtbare Reichtum früherer Jahrhunderte und die Spuren des Tourismus und der scharfen Winterstürme, Sète hatte Charakter.

Marc nahm das alles wahr, reagierte begeistert und flippte aus wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum. »Whow! Schau doch bloß! Mann!« Er boxte den müden Cupido in den Rücken und machte ihn auf alles aufmerksam, was er sah. Cupido hatte den Markt entdeckt und musterte frische Muscheln, Seeteufel, Brassen und Meerspinnen.

Wir fanden ein kleines Hotel in einer schachtelengen Nebenstraße am Hafen, das eine Garage hatte, in der wir Mamas teuren BMW unterstellen konnten. Was reichlich grotesk war, aber vielleicht wollten sie ihn ja auch nur von der Straße haben. Wir hatten zwei Zimmer nebeneinander, und Marc nahm für uns das mit den roten Herzchentapeten. Erst viel später nachts merkten wir, daß es nicht Herzchen, sondern gewundene Rosen waren, und daß das Fenster direkt auf die Durchgangsstraße hinausging.

Dann gingen wir einkaufen.

Das klingt so leicht. Aber an einem späten Nachmittag in einer südfranzösischen Hafenstadt vor Beginn der Touristensaison ein Paar Jeans für Cupidos Übergröße zu finden, erwies sich als schlichtweg unmöglich. Ja selbst ganz normale Hosen gab es nicht, und auch die Hemden, die er folgsam anprobierte, entlockten den Verkäuferinnen nur ein taktlos lautes Kichern, was Cupidos Mitarbeit nicht eben förderte.

Mich begann das ganze Spiel zu langweilen. Ich verstand auch nicht, wieso Marc darauf bestand, daß Cupido sich »normal« anzog. Was war denn schon normal, und Spanien war schließlich auch nicht der Iran. Ich hatte ein kleines Restaurant entdeckt, mit blau-weiß-roten Markisen vor dem Eingang und einer schwarzhaarigen Madame, die die beste Bouillabaisse jenseits von Marseille machte und auch sonst alle die Dinge zubereiten wußte, von denen man daheim bei Bratwurst und Pizza träumt. Ich war vor Jahren einmal hiergewesen, mit meinem Vater, der für das Goethe-Institut eine Lesereise machte und mich mitnahm. Ich war damals wenig älter als Marc jetzt und fühlte mich unheimlich erwachsen. Vor allem, wenn sie mich für Carlchens junge Geliebte hielten. Ich war stolz darauf, daß sie uns zwei getrennte Zimmer gaben, obwohl wir doch den gleichen Namen hatten, sie hielten uns für Schwindler und Gauner. Eine geheimnisvolle Affäre. Und ich war gerade dabei, so etwas Ähnliches wie erwachsen zu werden.

Madame hatte weiße Haare. Aber sie erinnerte sich noch an Papa, mais oui, dann lachte sie, Papa, le filou. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was Papa unternommen hatte, als er seine Tochter endlich los war. Damals war ich eine ziemlich prüde Zicke aus Tübingen. Armer Papa. Jetzt verstand ich auch, daß er damals meine Seele retten wollte. Immerhin, den Versuch war’s wert. Madame sah immer noch verdammt gut aus, drall und proper und präsent. Ich bestellte für abends einen Tisch und alles, was sie an Köstlichkeiten hatte, dann fiel mir Cupido ein. Madame wußte die Lösung. Der Laden von ihrer Cousine, da kauften auch die Fischer ihre Hosen ein, und die waren schließlich ihre Kunden. Sie gab mir die Adresse und kritzelte eine Nachricht auf den Rand.

Marc fand den Laden, er lag zwischen einem Schuster und einem Schiffsausrüster. Alles war blau. Ein intensives Indigo. Regale bis unter die Decke. Hosen und Hemden aus glänzend hart gestärkter Baumwolle. Cupido fand die Farbe gräßlich, aber ich schilderte ihm, was die Sonne daraus machen würde, blasse Grau-Lila-Töne. Endlich ließ er sich zu einer weiten Hose mit Gummizug und ellbogentiefen Taschen überreden und kaufte ein gestreiftes Bäckerhemd dazu, daß an ihm aussah wie ein flotter Umstandshänger. Er maulte noch auf der Straße weiter und zupfte dauernd an seiner Hose herum. »In Barcelona kaufen wir dir was anderes«, tröstete ihn Marc, »da kenn ich ein paar echt flippige Läden. Sachen aus Nordafrika. Du weißt schon, diese Schlabberhosen und diese Kapuzenbademäntel mit der Eiertasche.«

»Eiertasche?«

Cupido kicherte und erklärte unter Glucksern: »Es gibt zwei Taschen, eine fürs Kleingeld, und die andere ist unten offen…« Er erstickte fast an einem neuerlichen Lachanfall, ich sah zu Marc hinüber, und er schaute zurück. Wie Eltern über die dummen kleinen Scherze ihres Kindes. Dann entdeckte ich einen MONOPRIX und war nicht mehr zu halten.

Billige Kaufhäuser sind in der ganzen Welt gleich, und doch gibt’s Unterschiede. Mir schien der Kram hier entschieden pfiffiger als bei Woolworth oder C&A in München. Und billiger. Ich erstand als erstes eine gigantische Umhängetasche mit Massen von Klappen und Reißverschlüssen. Blaugrün wie mein verlorener Rucksack mit einer roten Schildkröte auf der Oberseite. Danach zog ich durch die verschiedenen Abteilungen. Kosmetik, Damenober- und Unterbekleidung, Sportswear, Jeans und ähnliches. Marc half mir, hielt die Sachen hoch und begutachtete sie sachverständig. Als ich ihm aber auch ein neues Hemd kaufen wollte, wies er mich angewidert ab. Stinkende Provinz. Morgen waren wir doch in Barcelona!

Cupido wartete in einem kleinen Café am Hafen auf uns. Vor ihm auf dem Tisch funkelte ein dreifacher Crème de Menthe smaragdgrün in der Sonne, daneben ragte eine erdbeerrosa Eisbombe mit Sahne und Hütchen empor. Unversehrt wie sie noch war, mußte es die zweite oder dritte sein. Ich bestellte mir einen Campari-Soda, Marc ein Bier. Goldgelb und rubinrot. Ich stellte die drei Gläser nebeneinander, aber die beiden hatten keinen Sinn für meine Farbspiele.

Marc holte Päckchen unter seiner Jacke hervor, aus den Hosen, von überall. Rasierzeug, Badehosen, T-Shirts, ein Lacoste-Hemd in Tannengrün, weiße Espadrilles, Seife, eine Fleetwood Mac-Kassette für Cupido und einen Parfumflakon für mich.

»Die hab ich doch schon«, maulte Cupido, ich lächelte etwas verkrampft. Ich kann Parfum nicht ausstehen, schon gar nicht dieses friedhofssüßliche Billigzeug. Ich stellte den Flakon in die Sonne und ließ ihn funkeln wie einen Goldtopas. Das konnte er ganz gut.

Ich war nervös.

Marc und Cupido schienen müde und doch gleichsam hellwach. Sie verfügten über eine nonverbale Verständigung, der ich nicht folgen konnte. Sie hatten eine geplante Route vor sich, während ich hier noch Spontantourist spielte. Es ging mich ja nichts an. Außer daß ich drinsteckte. In was auch immer.

Cupido aß sein Eis.

Marc hatte die Antennen ausgefahren. Er sah mich plötzlich an und zeigte auf die MONOPRIX-Päckchen. »Stört dich das?«

»Nein«, ich lächelte, den Mehrwert klauen nannte man das früher. Ich fand das albern, aber es störte mich nicht, solange ich nicht selber stehlen mußte. Ich bekam sofort eine dunkelrote Birne und verriet mich sogar, wenn ich selber gar nichts in der Tasche hatte. Genverankertes Spießertum, nannte mein damaliger Freund das, ich kam wirklich an meine Wurzeln zurück.

Das Abendessen hingegen war ein voller Erfolg. Madame hatte uns den schönsten Tisch reserviert, musterte erst Cupido, dann Marc und mich, als wir kamen und lächelte anerkennend. »Comme le papa«, so leise, daß nicht mal ich es hören sollte. Dann begann sie aufzufahren. Eisgekühlten Rosé eingelegte Oliven, scharfe Ajoli, Tintenfische in Vinaigrette, Loup in Safransoße, Kaninchen in Rotwein und eine gewaltige Käseauswahl. Bouillabaisse gab es nicht, das Wetter war nicht gut gewesen, nicht die richtigen Fische, statt dessen brachte sie uns nach den kalten Vorspeisen eine kleine Terrine mit Fischsuppe, Familienessen, Einladung des Hauses. Auch den Rotwein zum Käse brachte sie uns. Eine Literflasche ohne Etikett. Cupido bestellte mit feuchten Augen noch eine Flasche. Er wollte jeden Preis bezahlen. Er umarmte Marc und gratulierte ihm zu mir.

»Die Frau ist absolute Sahne!«

Madame wollte uns keinen Wein mehr verkaufen, aber wir wollten keinen mehr als Geschenk annehmen. Also sagte sie uns den Preis. Gewaltig. Wir blieben trotzdem dabei. Der Wein war rein und voll und doch trocken. Aber diesen Preis verdankte er wohl doch eher meinem Vater. Als wir endlich zahlten, ließ ich mir die quittierte Rechnung geben. Pour Papa. Der Preis änderte sich um keinen Centime.

Ich war zum Umfallen müde, aber Cupido hatte eine Disco für die Stadtjugend entdeckt und wollte unbedingt hin. Er war so aufgekratzt und unternehmungslustig, daß ich mich fragte, ob er nicht zwischendurch einen von Mamas Uppers eingeworfen hatte. Aber vielleicht machte ihn auch nur gutes Essen und Trinken als solches geil. Marc wollte ihn nicht allein lassen, und das verstand ich sogar.

Die Disco erwies sich als eine Art Lagerhalle mit leichtem Fischgeruch und stroboskopischem Licht. Michael Jackson & Co von der Platte. In der Mitte eine runde Bartheke, an der es nur Longdrinks gab. Der Wodka-Tonic schmeckte seltsam nach Fusel, Marcs Gesicht wirkte bleich in dem Licht, er hatte eine Jacketkrone. Links oben, zwei. Und Cupido wälzte sich rhythmisch neben einer drallen Landestochter. Hingegeben seinen Musikträumen nahm er nicht mal wahr, daß das Mädchen ihn nett fand. Ja, fast anhimmelte. Immer wieder versuchte, nach seinen Händen zu greifen, Blickkontakt mit ihm herzustellen. Ich wollte mit Marc darüber reden, aber auch er war ganz woanders. Auf einem Elefanten durch die Sahara oder im Kanu über die Niagarafälle. Sehr weit weg jedenfalls.

Ich stieß ihn an, er zuckte zusammen, schien dann aufzuwachen. Wandte sich mir zu und strahlte, als hätte er den Schatz der Inkas entdeckt. »Du!« Wonne. Glück unter dem Weihnachtsbaum. »Helke!« Er umarmte mich, hielt mich fest und sah mich an. Sehr leise. »Hellemein. So hab ich dich immer in meinen Träumen genannt. Mein Hellemein!« Er küßte mich unter das Kinn, und es klang, als würde er Schwedisch sprechen. Oder Dänisch oder so. Hellemein. Und doch lieb und vertraut. Ich rutschte näher an ihn heran und näher. Wäre am liebsten in ihn hineingekrochen. Kribbeln und Funkenschlag. Seine Augen, meine Augen. Wenn man diese Energie in Volt und Watt umsetzen könnte, dann gute Nacht Atomstrom.

»Ich brauch noch einen Hawaii-Flip«, Cupidos maulende Stimme stoppte unser Kraftwerk. Wir konnten ihm gemeinsam den Südseekiller ausreden und gingen heim ins Hotel. Zu dritt, Cupido in der Mitte, laut singend. Bei mir biste scheen … Und keiner widersprach.

Er ließ sich von uns ausziehen und ins Bett packen, brabbelte vor sich hin, maulte, nörgelte und mußte noch mal, als wir ihn schon im Tiefschlaf glaubten. Wir blieben bei ihm, das schien uns sicherer. Eine gemeinsame Aufgabe. Und keine Möglichkeit, miteinander zu reden. Endlich rollte er sich in sein Laken wie eine überdimensionale Leberwurst, begann zu schnarchen und ließ gleichzeitig einen Furz, Richterskala 19.

Ich versuchte, es zu überhören, nicht zu lachen. Neben mir schien Marc Magenschmerzen zu haben, dann grölten wir beide los, bogen uns, quietschten vor Freude und hätten uns auf dem Boden gekringelt, wenn nicht im Nebenzimmer jemand mit Reitstiefeln gegen die Wände geschlagen hätte.

Wir schlichen zu unserem Zimmer hinüber. Flüsterten in Theaterlautstärke und ließen die Tür ins Schloß fallen. Rums. Aus Versehen, natürlich. Kicherten, bogen uns, lagen auf dem rosenroten Bett.

»Ich liebe dich, seit ich denken kann.«

»Solange schon?«

Wir balgten immer noch auf dem Bett herum. Er wurde plötzlich so ernst, daß ich erschrak.

»Seit ich denken kann«, wiederholte er. »An Frauen denken. Da war ich zwölf. Das vergeß ich nie. Da hab ich ›Die drei Falken‹ gesehen. Das hat mich umgehauen. Ehrlich. Wie du da auf dem Pferd angeritten kommst, mit diesem Sack um die Schultern …« Er verlor sich in Erinnerungen. Mein Gott, als er ein Kind, ein Baby war, da hatte er mich schon gesehen. Und das war noch nicht mal mein erster Film, höchstens meine erste Serie, so ein Kostümheuler nach literarischem Vorbild. Historisch abgesichert. Billigproduktion. Damals hatten die schon Witze über Kinderfunk gemacht. Wie recht sie hatten. »Ich habe dich immer geliebt!« Er küßte mich und zog mich aus. Stürmisch, wild und pubertär. Er packte mich aus wie ein Geburtstagspäckchen, wie ein Beutestück. REISS, GIER, SCHLING.

Eben dieses hatte mich noch einen Tag zuvor nicht gestört. Im Gegenteil.

Da war es Lust und Übermut. New Love und sweet nineteen. Ich war jung, und das ganze Leben war ein einziges großes Abenteuer. Tralala. Mit neunzehn war ich das wandelnde Keuschheitsgebot gewesen. Trotz Pille und ‘68. Wer einmal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment. Ich war in der Schule als Quickie verschrien, weil ich immer gleich heim wollte, da kam nie die Gemütlichkeit einer durchgepennten Nacht auf.

Ich war deshalb so schnell erwachsen geworden, weil ich das selber nicht mehr ausstehen konnte. Und dahin zurück sollte ich jetzt wieder.

Nein, danke, oder auch IGITT!

Da war wieder die kleine Tübinger Über-Ich-Mama in meinem Hinterkopf und wußte alles besser. Ich gab nicht nach. Diesmal nicht. Marc lag neben mir, rundhals gebräunt und sehnig wie ein bronzener Ziegenhüterknabe. Er hatte sich Jacke, Hemd und Hose vom Leib gerissen und war auf das rosengegürtete Doppelbett gesprungen. Lag da, mit ausgestreckten Armen wie die Opferschale in der Dorfkirche. Nicht lachen. Ich sah weg. Neben dem Bett lag Marcs Jeans. Achtlos hingeworfen, ein Bein in der Hast umgekrempelt.

Da gab es eine kleine Innentasche. Knapp oberhalb vom Knie. Von außen nicht eben leicht zu fühlen. Das perfekte Geheimversteck. Nicht leer. Das konnte ich vom Bett aus sehen. Dicke Geldscheinpacken.

»Hellemein. Ich liebe dich!« Er holte mich aufs Bett hoch und küßte mich, ungestüm und fordernd. Ich vergaß die blöden Jeans.

Lippen, Haut und diese verdammten langwimprigen Augen. Kribbeln, Sprühen, 9000 Volt. Schmal, lang, sanft. Ich rollte mich mit und dachte nicht mehr an alle die Absicherungen.

Glück.

Da lag ich wie Frau Missionar und war auch noch glücklich. Soweit jedenfalls. Young and happy. Das wohl. Und Aids?

Vielleicht hatte ich ja auch schon vorher dran gedacht, aber in diesem Moment fiel es mir knallhart ein. Ich kannte Marc nicht, er hatte mehr Erfahrung, als gut für ihn war, ich war gerade dabei, mit ihm zu bumsen. Ohne Frau Süssmuth, ohne Netz und doppelten Boden. Als ich meine schwachsinnige Aussteigerreise vorbereitet hatte, da war ich noch nicht so blöd gewesen. In meinem blaugrünen Rucksack hatte ich ganze Klinikpackungen mit Kondomen in allen Farben und Geschmacksrichtungen. Just in case. Marc hielt mich fest und küßte mich. Knabberte an mir herum wie an einem Sahneteilchen. Kribbeln, Spannung. Wenn ich jetzt etwas sagte, dann war es aus. Trotzdem. Sag was! Tu was! Dreh dich weg! Safer Sex oder Migräne! Sofort.

Blende.