Ich versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Beugte mich weiter vor. Meine Hände rutschten auf den salznassen Rundsteinen ab, die Mütze fiel nach vorn und trudelte in die Dunkelheit.
Jemand schrie. Hände griffen nach mir und rissen mich zurück, ich hörte nicht auf zu schreien. Jemand schlug mir die flache Hand ins Gesicht, Jürgen, der Heiler. Ich klammerte mich an ihn und heulte. Er schleppte mich in eine Ecke, ich sank auf einen Stuhl, hatte ein Glas in der Hand, leerte es, ohne zu merken, was ich trank. Ich fror. Jürgen war wieder bei den anderen. Die Männer standen an der Brüstung und hielten das Seil fest, die Frauen standen bei dem Grillplatz und warfen allerlei Zeug in die Glut. Unser Gastgeber flatterte wie eine Nachtigall über die Terrasse und fluchte vor sich hin. Mir wurde nicht klar, ob er den Partyverlauf meinte oder die Vernichtung all der pulverförmigen Träume. Einmal versuchte er einzugreifen, jemand erwähnte die Polizei.
Ich hockte da und hatte meinen Text vergessen. So fühlte sich das an, wie das große schwarze Loch, das man in seinen schlimmsten Alpträumen hat. Das Theater ist ausverkauft, man kommt auf die Bühne raus. Und NULL.
Wieder Schreie und Rufe. Die ersten waren unten angekommen. Die Informationen kamen in schrillem Spanisch herauf, wurden dann weitergegeben, Englisch, Deutsch. Es gab auch Franzosen, Holländer, Schweden. Jemand lachte hysterisch. Andere stimmten ein. Ich sah Marc bei der Gruppe am Grillplatz, Leilah, Cupido, Hilda, Jürgen, Merkel, Grünbek.
Einige von ihnen wollten sich nicht von dem Zeug trennen, schnupften aus gewölbten Händen. Die angebrannten Lammstücke rußten. Marc stand ein Stückchen abseits, die Hände in den Taschen seiner Bermudas, den Kopf leicht zurückgelegt. Lächeln.
»Un muerto! Un muerto!« schrille Schreie von der Küste hoch. Grell, überrascht. Oben auf der Terrasse erstarrte das Bild. Standfoto ohne Tiefenschärfe. Dann Zeitlupe. Die Köpfe bewegten sich, die blassen Gesichtsovale hatten keine Konturen. Auch das von Marc nicht.
Ich wußte meinen Text wieder.
Alles da.
Heiko.
Dieser widerliche Schleimer. Der mich nicht erkannt hatte, aber eindeutig immer noch auf meinen Typ stand. Mich anbalzte, nur weil er momentan solo war. Bösartig dumm auch noch. Leben Sie hier? Mich nicht erkannte. Anfassen wollte. Ich möchte Ihre Augen sehen! Den ich über die Mauer schubsen wollte.
Tot.
Auch er.
Rübergeschubst.
Übelkeit preßte meinen Kopf zusammen, schnürte mich ein und nahm mir die Luft. Ich würgte. Eine Hand auf meiner Schulter. Lange junge Finger. Marc.
Ich schrie nicht. Ich bewegte mich nicht. Wartete.
Sah Hubschrauber über dem Haus kreisen. Gleißende Lichter. Der Lärm der Rotoren. Die Männer an der Brüstung zogen jetzt an dem Seil, immer wieder kurze Rufe, wenn sich das Seil irgendwo verhakt hatte. Es gab keine Hubschrauber, nur das Lärmen eines Range Rovers, der bis direkt vor die Tür gekommen war. Arme Knuddelmonster. Die ersten Guardias erschienen auf der Terrasse. Zögernd, verlegen. Wie verspätete Gäste, die keinen kannten. Eins von den halbnackten Partygirls brachte ihnen ein Tablett mit Gläsern. Einer wollte zugreifen, in dem Moment gab es bei der Mauer Bewegung. Alle starrten hin.
Das Seil zögerte noch einen Moment, dann kam es herüber und fiel mit seiner Last auf den kobaltblauen Kachelboden. Wieder Schreie. »Una chica! Mujer!« Eine Frau. Die Polizisten setzten sich in Bewegung. Der Chef hatte gerade erst gegessen, sein Gesicht war auberginenrot, Eireste hingen in seinem grauen Schnauzbart. Der andere war jung, straff, unsicher. Ihre harten Stiefel ließen die Glasur der Bodenkacheln platzen. Eine Frau.
Jetzt wichen auch die Männer an der Mauer zurück. Noch mehr grüne Guardias kamen aus dem Haus, schienen dort nur gewartet zu haben, der kleinwüchsige Gastgeber hatte sich umgezogen, ich erkannte ihn kaum wieder. Dunkle Hose, weißes Hemd, an seinem Kragen blitzte eine winzig kleine Nadel. Er redete mit den Polizisten wie mit Domestiken, und sie reagierten mit kaum verhehlter Unterwürfigkeit. Jemand kotzte ganz in der Nähe, Platschen auf dem Fußboden. Dann wieder Stimmen. Spanisch durcheinander, Englisch, Deutsch. Die Frau mußte schon länger da unten gelegen haben. Seit Wochen, halb verwest, vermutlich angespült. Eine von den irren Touristinnen. Ich nahm jetzt auch den Geruch wahr, modrig mischte er sich mit dem verbrannten Lamm. Noch ein paar Leuten wurde schlecht.
Und dann sah ich ihn.
Heiko Krest.
Er kam aus dem Haus, blieb in der Tür stehen und hatte für einen Augenblick volle Ausleuchtung. Sein Jeansanzug war zu eng, die Jacke war abgetragen, die Hose relativ neu. Verschiedene Blautöne. Er blinzelte in die Lampen und schaute suchend in der Menge herum. Er suchte jemand, zögerte, begriff nichts von der Szene und interessierte sich auch nicht dafür.
Dann sah er Hilda, die immer noch neben dem Grillplatz stand. Er sprach mit ihr, sie erklärte ihm etwas, er schaute zu der Mauer und den Guardias hinüber. Jemand hatte einen Stapel schwarzer Plastiksäcke gebracht, unter Fluchen und Schimpfen beugten sich die Guardias mit den Säcken über das Bündel auf den Kacheln. Der Gastgeber ließ ein paar der halbnackten Girls rüberlaufen und harte Drinks servieren, nur eins der Mädchen kippte um.
Heiko kam auf mich zu.
»Was machst du denn hier, verdammt?!«
Ich starrte ihn blind an. »Hast du mich denn nicht eingeladen? Dürfte ich gar nicht hier sein?«
»Scheiße!« Er schaute wieder suchend über die Menge. Der Gastgeber beteuerte gerade mehrsprachig, daß er erst vor vier Tagen hier eingetroffen sei, damit war er aus dem Schneider. Junge Knaben brachten Kübel mit Eis und Champagnerflaschen. Der Grill wurde gereinigt und neu angelegt. Die jungen Guardias trugen die schwarz eingewickelte Frauenleiche über die Terrasse ins Haus. Immer am Rand entlang, sehr taktvoll, und dann schnell durch den Dienstbotentrakt hinaus. Die kobaltblauen Kacheln wurden mit einem desinfizierenden Zeug abgesprüht, tiefenwirksam, schnell verdunstend. Es ruinierte trotzdem die Espandrilles.
Heiko Krest stand noch immer neben mir.
Ragte über mir auf. Suchend und witternd. Mir gönnte er nur den Anblick seines Doppelkinns.
Ich hatte Marc ganz vergessen. Er hatte meine Schulter losgelassen, war aber stehengeblieben. Heiko entdeckte ihn plötzlich und riß ihn zu sich herüber. »Markus, du kennst diesen Scheißhaufen hier! Wo ist die Frau! Wo, verdammt!?«
»Welche Frau?«
»Die goldene, Mann! Die in Gold mit der Maske. Markus, ich muß die wiederfinden!«
»Vielleicht draußen?« Marc blieb höflich und cool. Markus. Sie kannten sich. Heiko blökte waidwund auf.
»Da war ich schon. Ich hab da draußen jeden Millimeter und jedes gottverdammte Auto abgesucht. Jede Menge Drogen, jede Menge Porno, aber die Kuh ist weg.«
»Die Kuh?« fragte ich höflich, er wischte mich und meine Frage mit einem Linkerhandwedeln hinweg.
»Ach, komm, halt du dich raus, ja!«
Das war der Punkt. Ich stand auf, nahm Maß und langte zu. Die Dreier-Kombi nach Hausmacherart. Faust, Handkante, Knie, Nase, Hals, Eier.
Er brach zusammen wie der Stier bei Hemingway. Männlich grunzend, aber sonst ohne ein Zeichen der Schwäche. Bei der Handkante hatte ich nicht richtig gezielt, zu hoch getroffen, eine Zahnbrücke gelockert. Die hing jetzt da in seinem Maul rum, während er sich die Eier hielt und vor mir rumkrümmte.
Ich konnte nicht mehr hinschauen.
Musik setzte ein.