Die Bücher lagen auf dem Boden, die Bilder hatten keine Rücken mehr. Ich hatte nie gelernt, eine Hausdurchsuchung spurenlos vorzunehmen. Hatte ich auch nicht vor. Ich riß alles raus und runter, was mir in die Finger kam.
Mein Foto an seinem Fußende.
Kinogröße.
Die Matratze lag auf einem Sperrholzbrett, ich hatte Mühe, es herunterzuwuchten. Die Wut half mir, und um ein Haar hätte ich alle Zehen meines linken Fußes dafür geopfert. Ein Reflex rettete sie, ich konnte das in dem Moment kaum würdigen.
Unter dem Brett war die Betonwanne, in der früher der Wein landete. Knapp einen halben Meter tief und fast zwei lang. Bis oben hin voll mit Aktenordnern, Fotoalben, Mappen und Kartons.
Ich setzte mich an den Rand und fing an.
Fotos.
Alle Fotos, so schien es, die jemals von mir gemacht worden waren. Aus Zeitungen, Zeitschriften, direkt von Negativen. Hunderte, Tausende. Zum Teil immer wieder dieselben. Alle.
Zeitungen.
Jede Kritik, und sei sie es auch nur so eine Winzbesprechung im Oberbayerischen Tagblatt oder in der Augsburger Allgemeinen. Jede Zeile. Sorgsam ausgeschnitten und abgeheftet. Gute Kritiken, mit Lack besprüht und auf Tonpapier geklebt. Viel Mühe, und doch vergilbte alles. Das war nicht meine Vergangenheit, die ich da entdeckte, das war ein Museum.
Der Gilb.
Unbestechlich.
Ich hörte auf zu lesen und blätterte nur noch. Kam zu Zeitungen, die deutlich älter waren. Das hatte nichts mehr mit mir zu tun. Es ging um irgendeine Rauschgiftstory in St. Pauli. SPITZEL ODER OPFER lautete die Schlagzeile. Das Foto daneben zeigte wieder mich. Das kapierte ich nicht, ich hatte nie in so einer Klamotte mitgespielt, ich kannte immerhin noch die Titel meiner Filme.
Das war auch nicht ich.
Meine Haare, mein Alter, mein Gesicht.
Dann noch ein anderes Foto. Da war ich auf älter geschminkt, beugte mich vor und lachte blöd in die Kamera. Und noch eins. Von hinten.
Nein.
Und da erst begann ich den Text zu lesen.
Marion Allermann.
Die Drogenmafia von St. Pauli. Drahtzieher nach Costa Rica abgesetzt. Die blonde Venus. Ausgenutzt bis zum Verrat. War sie nur seine Geliebte oder auch seine Henkerin? Und immer weiter so. Blablabla. Was ich so an Facts mitbekam war: Marion Allermann kannte einen gewissen Chris Neumeyer. Der dealte mit Drogen im großen Stil. Sitz: St. Pauli. Heroin, Kokain. Alles weiß. Wie seine Weste.
Er wurde verpfiffen. Alles flog auf. Es kam zu einem blutigen Feuergefecht in seiner Stammkneipe. Er wurde getroffen und starb. Extra langsam für die Bild-Zeitung. Die schöne Frau, die neben ihm stand, wurde versehentlich getroffen. Eine Gangsterkugel?
Sie war seine Geliebte.
Sie starb mit einem Lächeln.
Marion Allermann.
Marcs Mutter.
Sie sah aus wie ich.
Planlos wühlte und blätterte ich weiter in den Papierhaufen, las hier und da eine Schlagzeile, starrte ein gerastertes Foto an. Kälte. Plötzlich wurde es dunkel. Ich schrak hoch. In der Tür lehnte ein Mann. Füllte sie fast vollständig aus und verdüsterte den Raum. Ich erkannte ihn erst, als er sprach.
»Na, alles gefunden?«
»Du Arschloch. Du hast das gewußt!«
»Alles nicht«, Drei-Tage-Bart-Andreas kam näher und beugte sich neugierig über den Weinbottich. Nahm den Artikel mit der Schießerei hoch. »Es wird nie erwähnt, daß sie einen Sohn hatte.«
»Er ist in Heimen aufgewachsen.«
»Fang bloß nicht gleich wieder an zu heulen! Er hat sie verpfiffen.«
»Weißt du, wie alt Marc damals war?« Mir kamen tatsächlich die Tränen, das fehlte noch. »Dreizehn Jahre. Ein Kind!«
»Er war alt genug, um zu telefonieren. Er war auch selten länger als ein paar Monate im gleichen Heim. Und da waren ein paar üble Kerker dabei.«
»Du weißt alles, oder!?«
»Jemand hat bei der Polizei angerufen. Anonym, aber mit einer Menge Detailkenntnisse über diesen Chris Neumeyer und seine Drogengeschäfte. Zuerst dachte man, es wäre eine Frau gewesen. Aber es war nur eine sehr helle Stimme, und sie hatte Kiekser, so Überschnapper. Sie hielten das für die Aufregung, aber es waren Stimmbruchpfeifer. Marc.«
»Du willst wirklich behaupten, er hätte als Kind seine Mutter verpfiffen?« Ich bekam kaum Luft. Seine Stimme blieb ruhig.
»Nicht die Mutter. Das war der böse Irrtum, das Versehen, das Unglück. Es gab sogar Anzeichen dafür, daß sie von einer Polizeikugel getötet worden war, da wurde viel Schlamm aufgewühlt damals.«
»Und du?« Ich schluckte, atmete tief durch und fing noch mal von vorn an. »Und du? Was spielst du für eine Rolle in der Geschichte?« Er ging nicht drauf ein, nahm noch mal das Foto von Marcs Mutter hoch, verglich es mit mir, dann mit dem Eastman-Kodak-Poster.
»Irre Ähnlichkeit, oder? Wie Schwestern.« Ich riß ihm das Foto aus der Hand und zerfitzelte es zu Konfetti.
Er steckte sich eine Zigarette an, seine Finger zitterten.
Mir war so übel, daß ich nichts sagen konnte. Ich konnte mich auch nicht bewegen. Er schnipste seine Asche gedankenlos auf den Fußboden. Automatisch stellte ich ihm eine rostige Sardinendose als Aschenbecher hin. Ärgerte mich über diese kleine Hausfrauengeste. Wurde wütend, das half.
»Was hast du in der ganzen Sache zu suchen? Das frage ich jetzt noch mal, und ich will eine Antwort, verdammt noch mal!«
Drei-Tage-Bart-Andreas sah mich an, die hektisch gerauchte Zigarette verbrannte seine Finger, er merkte es nicht. Sah immer nur mich an und schnaufte schließlich tief auf. Warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus wie eine Giftspinne. Blieb so sitzen, die Augen auf den Boden gerichtet.
»Ich bin schon lange hinter der Story her. Der Ausgangspunkt war hier. Drogenhandel in Spanien. Das Zeug geht hier tonnenweise über die Küsten, und es ist so gut wie unmöglich, das zu kontrollieren. Tausende von Booten, unendliche Küstenkilometer. Und Afrika gleich vor der einen Tür, der Rest von Europa hinter der anderen. Das ist ein idealer Umschlagplatz. International, unübersichtlich, vom Tourismus abhängig. Diese Insel hier ist die kleinste, aber zufällig kenne ich sie gut, sie ist ein Spiegel der großen Welt. Hier sitzen die Dealer wie überall. Und einer von ihnen ist Marc. Ein kleiner, ein Knirps, aber einer von den Smarties. Er kommt mit den Bossen gut aus, er pfuscht keinem ins Handwerk, er hat Kontakte in die besten Kreise, und er war nie unbescheiden. Und natürlich ist er lieb, hübsch und charmant.«
Er schien auf einen Einwurf zu warten, ich schwieg, er richtete sich wieder auf und steckte sich eine neue Zigarette an. »Ich kannte Felix, aber er war schon vorher auf Drogen. Ich habe Marc nie pushen gesehen, und er selber ist auch clean. Ich hab ihn nie ganz verstanden, bis ich dann mal hier war und das Foto sah. Ich hab ihn gefragt, wer das sei. Und er hat gesagt, die Frau meines Lebens. Ich hatte dich schon mal in so einer Schnulze gesehen, machte den Fehler zu lachen. Er hätte mich fast umgebracht. Ehrlich.« Jetzt sah er mich an. Die Augen waren doch blau. »Er hatte plötzlich eine Pistole in der Hand und ballerte rum.« Er drehte sich um und suchte die Wände nach Einschußlöchern ab. Vergebens. »Er hat hinterher alles verputzt und gestrichen.« Die Zigarette wollte nicht brennen, der Wunsch, sie ihm wegzunehmen und fertig zu rauchen, wurde fast übermächtig, aber ich war immer noch wie gelähmt.
»Ich habe mich an ihn drangehängt. Habe ihn verfolgt. Er beobachtet dich seit Jahren. Er weiß alles über dich. Und dann tauchte er in München auf, fragte alle nach dir aus. Auf die Party bei diesen Ehrenbergs bin ich nur gegangen, weil ich dachte, er würde da aufkreuzen. Er kennt alle die Leute. Hilda Pikurt ist die Ex-Frau von Balonders, eine von seinen Ex-Frauen. Dieser ganze Haufen ist eine einzige Sippe.« Er machte eine Pause, um sich eine andere Zigarette anzustecken. Ich dachte an die Begegnung am Bahnhof. Ich sagte nichts. Er hätte sonst nur behauptet, Marc habe mir absichtlich Zeug in den Rucksack getan, selbst die Polizei verständigt. Beobachtet. Verfolgt. Ich merkte nicht, daß ich heulte, bis Drei-Tage-Bart mir ein schmuddeliges Taschentuch in die Hand drückte.
»Tut mir leid. Echt. Ich hab dich für eine von denen gehalten. Dabei bist du nur blöd und hast Komplexe.« Er hustete keuchend. »Hör auf zu heulen. Ich mein’s ja nicht so. Ich mag dich. Du kannst nicht spielen, aber du bist zäh. Und immerhin bist du ja hier. Du hast es ja gemerkt. Von diesem Zuhälter seiner Mutter und der Ähnlichkeit konntest du nichts wissen. Aber die anderen. Armin Pfentner, Lutz Lippert. Jeden, der drohte, dich ihm wegzunehmen. Vermutlich hast du Heiko Krest mit deinem Karateschlag das Leben gerettet.«
»Nein«, ich schrie. Ziemlich grell und hysterisch. »Du lügst. Das ist doch an den Haaren herbeigezogen! Pfentner hatte einen Herzinfarkt und Lutz einen Unfall!«
»Drogen, Morde, das alles stört dich nicht?« Er stand auf und schaute auf mich herunter wie Gottvater persönlich. »Und daß er kaputt ist, daß er Hilfe braucht, daß er sonst immer so weitermachen wird, weil seine Mutter ihn nie …«
»Raus!« Das bekam ich ruhig hin. Scharf. »Hau ab. Du mieses, widerliches Schnüffelschwein. Und du behauptest, keine Phantasie zu haben, mit genauen Recherchen zu arbeiten. Das ist ja wohl der Witz des Jahres. Kein Wunder, daß deinen Namen noch keiner gehört hat, außerhalb von Backnang.
Er stand da, festgenagelt, ein bißchen krumm, als hätte er Angst, mit dem Kopf an das flache Balkendach zu stoßen. Seine Jeans schlotterten, und das linke Knie war verschorft wie bei einem kleinen Jungen. Einer von unseren nächtlichen Stürzen. Er nickte, wollte noch etwas sagen, wandte sich zur Tür, blieb wieder stehen. Deutete aus der Tür in die gleißende Sonne hinaus.
»Siehst du diese komische Zypresse da hinten? Die da ganz einzeln und fremd rumsteht? Dahinter wohne ich. Ein halbes Haus mit schrägem Ziegeldach. Die Türen sind offen. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Okay?«
Er zögerte.
Ich schwieg.
Er ging. Ich sah noch seinen im Sonnenglast immer dünner werdenden Umriß. Ein senkrechter Strich, dann verschwamm er mit dem Flimmern über den staubig grauen Feldern.