Kapitel 1

Juni 1925

Die Hitze lastet schwer auf dem Dorf. Seit Tagen steigt das Thermometer auf über 30 Grad, in den Fachwerkhäusern und Ställen ist die Luft zum Schneiden. Sogar am Sonntag in der Kirche haben die Dingelbacher schwitzen müssen, weil die Wärme inzwischen selbst die dicken Mauern der alten Kirche durchdrungen hat.

Frieda sitzt im Garten hinter dem Haus, auf dem Schoß hat sie eine Blechschüssel, auf dem Tisch steht ein Korb mit Sommerkirschen, daneben ein Topf. Die Kirschen müssen mithilfe einer Haarnadel entsteint werden, danach will Herta daraus Kirschmarmelade kochen. Das Entsteinen ist eine langweilige und eklige Arbeit, weil der rote Saft an den Händen klebt und die Kerne sich nicht gut lösen lassen.

»Du hast richtige Mörderhände«, meint Ida anerkennend, die mit einem Buch neben ihr auf der Wiese sitzt.

»Könntest mir ruhig helfen!«, gibt Frieda brummig zurück.

»Bloß nicht. Ich muss gleich die Wäsche abnehmen!«

Unterwäsche und Büstenhalter hängen schlaff auf der Leine, kein Lüftchen bewegt sie. Friedas neue Hüfthalter schimmern seidig zwischen den ausgebleichten Baumwollsachen. Gestern hat Luise neidisch gefragt, ob sie jetzt »Reizwäsche« tragen würde und ob das zur Schauspielerei dazugehört. Frieda hat sie keiner Antwort gewürdigt. Dingelbach war schon immer ein tristes Kaff voller bornierter Bauern, aber jetzt bei dieser lähmenden Hitze, die nach Kuhmist und Schweinestall stinkt, ist es einfach unerträglich.

Sie wirft die nächste entsteinte Kirsche in den Topf und schaut entmutigt auf den Korb, der einfach nicht leer werden will. Was für ein Aufwand für ein paar Töpfchen Marmelade! Dabei schmecken die Kirschen viel besser, wenn man sie so isst. Sie steckt sich zwei davon in den Mund und spuckt die Steine auf die Wiese. Sie schafft es bis zum Kräuterbeet, Ida kann es besser, die hat vorhin ihren Stein fast bis zum Hühnerhaus gespuckt.

»Heute müssen wir nicht gießen«, meint Ida. »Da gibt’s bald was.«

Sie blinzelt und zeigt nach Westen. Dort sieht man die Wiesen vom Schützhof, wo sie beim Heumachen sind. Der Himmel darüber ist klar und tiefblau, aber ganz hinten, wo es hügelauf geht und die verfallene Hütte steht, kann man ein paar Schleierwölkchen sehen. Wie ein zartes Gespinst schweben sie über dem Hügel, ganz harmlos, aber sie haben es in sich. Die Bauern müssen schauen, dass sie ihr Heu noch von dem Abend in die Scheunen kriegen, sonst ist es hin.

Frieda hätte gegen ein kräftiges Gewitter nichts einzuwenden. Es bringt Abkühlung, und außerdem müssen sie dann am Abend nicht auf den Gemüseacker und das Gießwasser mühsam mit Eimern aus dem Bach herbeischaffen. Sie hadert mit ihrem Schicksal. Warum wurde sie in Dingelbach geboren und hat noch dazu eine überstrenge, pingelige Mutter abbekommen? Es sind Theaterferien, die Schauspielschule hat für einige Wochen den Unterricht eingestellt, was aber nicht heißt, dass in Frankfurt sommerliche Ruhe herrschen würde. Ganz im Gegenteil: Im Zoo, im Palmengarten oder im neuen Waldstadion tummeln sich die Frankfurter auf Großveranstaltungen, da wird zu Jazzmusik getanzt, da gibt es Theateraufführungen, Kabarett, und am Abend wird ein Feuerwerk in den Himmel geschossen. Beim »Sommerfest auf Welle 470« und der »Ersten Presse-Bühnen-Olympiade« auf der Rennbahn sind viele Künstler der städtischen Bühnen dabei, und natürlich gehen auch die Schauspielschülerinnen hin. Alle außer Frieda, die dazu verdonnert ist, klebrige Kirschen zu entsteinen und am Abend zeitig in ihrem Bett zu liegen. Nur mit Ida kann sie darüber reden, höchstens noch mit Lehrer Hohnermann. Aber der wird auch immer spießiger; ständig warnt er sie vor irgendwelchen Gefahren, die in der Stadt auf ein junges Mädchen lauern. Dabei kennt Frieda sich inzwischen aus und glaubt, über solche Dinge besser Bescheid zu wissen als der brave Dorfschullehrer Johannes Hohnermann.

»Frieda! Ida!« ruft die Mutter aus dem Fenster. »Kommt mal helfen!«

»Ach, herrje«, stöhnt Ida missvergnügt und legt den Stiel einer Kirsche als Lesezeichen in ihr Buch. »Jetzt dürfen wir schleppen.«

Frieda steht erleichtert auf und geht zum Regenfass, um ihre Hände zu waschen. Wenigstens etwas Abwechslung.

»War höchste Zeit«, meint sie. »Jetzt kannst du wieder bei uns schlafen, und Mama hat ihre Kammer für sich allein.«

»Meinetwegen hätte Helga ruhig noch bleiben können«, findet Ida.

Es geht darum, dass Helga Schütz, die seit über einem Jahr bei ihnen wohnt, nun endlich eine neue Bleibe gefunden hat. Die Schütz Helga ist damals von ihrem Mann, dem Otto, so schlimm verprügelt worden, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste. Auch der Sohn, der damals neunjährige Heinz, musste in die Klinik, weil der Vater ihn gegen den Küchenherd geschleudert hat. Helga hat daraufhin etwas getan, was noch keine Ehefrau im Dorf gewagt hat: Sie hat ihrem Ehemann verkündet, dass sie sich scheiden lassen will, und hat ihn verlassen. Das war ein Skandal in Dingelbach, denn die Ehe ist heilig, Mann und Frau müssen zusammenstehen in guten und in schlechten Zeiten – so ist es schon immer gewesen, und so sehen es die Dingelbacher noch heute. Ehestreitigkeiten kommen vor, auch dass dabei zugeschlagen wird, ist normal, da kann auch ein Ehemann einmal mit einem blauen Auge herumlaufen. Meist ist es jedoch die Frau, die die Prügel einstecken muss. Aber gerade die Frauen im Dorf haben es der Helga verübelt, und als sie aus dem Krankenhaus zurück ins Dorf gekommen ist, hatte nur Marthe Haller, die den Dorfladen führt, den Mut, die Helga bei sich aufzunehmen. Marthe Haller – das ist Friedas und Idas Mutter.

Seitdem hat Helga Schütz bei ihnen gewohnt, und sie sind gut miteinander ausgekommen, obgleich es eng im Haus gewesen ist, sodass Ida sich schließlich eine Schlafgelegenheit unter dem Dach eingerichtet hat. Alles schien sich zum Guten zu wenden, denn weil es dem Otto Schütz nicht gelungen ist, seine Ehefrau mit Gewalt zurück auf den Hof zu holen, hat er erklärt, dass er selbst die Scheidung einreichen wird. Darüber sind sie alle froh gewesen, schon weil der Otto dann die Kosten tragen muss und die Helga demnächst endlich den Mann heiraten kann, der sie liebt und bei dem sie glücklich sein wird. Das ist der Oskar Michalski.

Aber die Dinge haben sich leider nicht so entwickelt wie erhofft.

Daran ist vor allem die Gertrud schuld, die Mutter vom Otto Schütz. Sie hat der Schwiegertochter schon immer das Leben schwer gemacht, und so hat sie ihren Sohn überredet, die Scheidung hinauszuzögern, damit die Helga nicht wieder heiraten kann. So muss Helga als abtrünnige Ehefrau in Schande leben und abwarten, bis der Otto sie freigibt, während Gertrud allerlei böse Gerüchte über ihre Schwiegertochter verbreitet. Und obgleich sich die Leute im Dorf damals über den Otto Schütz aufgeregt haben, weil er Frau und Kind so übel zugerichtet hat, schimpfen jetzt viele auf die Helga, das »untreue Luder«, das nicht zu seinem Ehemann zurückgehen will.

Sogar Marthe Hallers Dorfladen leidet inzwischen unter dieser Geschichte. Das hat die Mutter damals nicht wahrhaben wollen.

»Ach was«, hat sie gesagt. »Die Leute brauchen Waschpulver und Seife, Zucker und Salz, Nähgarn und Knöpfe und vieles mehr – wo sollen sie es denn kaufen, wenn nicht bei mir?«

Doch leider hat Marthe mit der Zeit einsehen müssen, dass sie sich getäuscht hat. Die Umsätze sind immer weiter zurückgegangen, viele kaufen nur noch das Nötigste bei ihr und warten lieber, dass jemand aus dem Dorf hinüber nach Steinbach oder nach Oberursel fährt, um sich von dort etwas mitbringen zu lassen. Und das alles nur, weil Marthe Haller diese »sündige Person«, die Helga, in ihrem Haus wohnen lässt.

Nach Ostern ist der Schütz Gertrud eine neue Schikane eingefallen. Sie schickt den Knecht Hannes einmal in der Woche mit dem Pferdewagen nach Bad Homburg und hat den Dorffrauen verkündet, jede, die etwas zu besorgen hätte, könne unentgeltlich mitfahren. Das hat vielen Bäuerinnen gefallen, schon weil der Hannes ein junger, fröhlicher Bursche ist, und wenn es die Feldarbeit erlaubt hat, war der Wagen voller Frauen, die an dieser neuen Art der Einkaufsfahrt großen Spaß gehabt haben.

Das hat dem Dorfladen schlimmen Schaden zugefügt, weil die Hallers auf den Waren sitzen geblieben sind und sich zusätzlich noch anhören müssen, dass die Sachen in Bad Homburg besser und sogar preiswerter seien als im Dingelbacher Dorfladen. Helga ist darüber ganz verzweifelt gewesen. Sie hat schon überlegt, in die verfallene Hütte auf dem Hügel einzuziehen, weil sie Marthe Haller nicht solche Schwierigkeiten machen will. Das hat Friedas Mutter ihr ausgeredet, aber dennoch war guter Rat teuer. Niemand in Dingelbach war bereit, Helga eine Unterkunft zu geben. Eine weggelaufene Ehefrau, die auf ihre Scheidung wartet – die will keiner haben, zumal man sich mit dem reichen Otto Schütz anlegt, wenn man ihr auch nur eine Dachkammer vermieten würde.

Schließlich aber haben der Killinger Hannes, der immer zur Helga gehalten hat, und der Rudolf Alberti, der Dorfheiler, sich energisch für die Helga eingesetzt und den Rabenwirt Guckes überredet, ihr eines der beständig leer stehenden Zimmer in seinem Gasthof zu vermieten. Der Guckes Jörg ist bald darauf eingegangen, aber seine Karin hat sich zuerst heftig gesträubt und behauptet, wenn »so eine« bei ihnen wohnen täte, würden ihnen die Gäste wegbleiben. Aber das hat der Killinger Hannes ihr ausgeredet, denn wo sollen die Dingelbacher sonst zum Abendschoppen einkehren, wenn nicht im »Raben«?

»Glaubst du vielleicht, die saufen ihr Bier und den Äppler daheim, wo die Ehefrau mitzählt?«, hat er der Karin lachend vorgehalten. »Des wird so schnell net passiere, und wenn sich der Schütz Otto auf den Kopf stellt.«

Dann haben sie verhandelt, denn die Karin Guckes, die Rabenwirtin, hat ihre Bedingungen gestellt: Helga soll im Haus und in der Küche helfen und am Morgen die Gaststube wischen. Bedienen darf sie auf keinen Fall, auch sonst soll sie sich so wenig wie möglich zeigen, und die vier Guckeskinder dürfen nicht zu ihr hinaufgehen.

»Und der Michalski Oskar hat Hausverbot«, hat die Karin weiter verlangt. »Sonst sagen die Leut noch, dass wir da oben ein ›Etablissemang‹ eröffnet hätten.«

Helga hat sich in alles gefügt. Sie ist unendlich froh, den Dorfladenfrauen nicht mehr zu Last fallen zu müssen, aber in Dingelbach bleiben will sie unter allen Umständen. Wegen dem Heinz, ihrem Sohn, der auf dem Schützhof beim Vater lebt. An dem Heini hängt die Helga mit allen Fasern ihres Herzens. Sie glaubt immer noch, dass sie eines Tages als Oskars Ehefrau unbehelligt in Dingelbach leben kann und dass der Heini bei ihnen ein und aus gehen wird. Frieda wundert sich oft, wie stur die Helga sich dieser Hoffnung verschrieben hat, dabei weiß sie doch recht gut, wie die Dingelbacher sind, sie hat ja lange genug im Dorf gelebt.

»Die Zeiten ändern sich«, hat Helga lächelnd gesagt. »Sie werden es halt einsehen müssen.«

Heute Nachmittag soll also endlich der Umzug in das »Gasthaus zum Raben« stattfinden. Es ist ein guter Zeitpunkt, weil das Dorf beinahe leer gefegt ist, denn alles, was Beine hat und arbeiten kann, ist draußen auf den Wiesen. Heute früh haben sie die letzten Stücke gemäht; wenn sie den Tag über fleißig wenden, können sie das Heu gegen Abend auf die Wagen gabeln und einfahren. Der Schütz Otto und zwei oder drei andere, die es sich leisten können, haben Saisonarbeiter eingestellt und kommen gut voran. Die ärmeren Bauern müssen schauen, wie sie die Arbeit schaffen, da müssen auch die Kinder, sogar die Kleinsten, mit ran, und wer ein guter Nachbar ist, der packt auch einmal zu, wenn er sieht, dass der andere nicht zurechtkommt. Allen voran der Dorflehrer Johannes Hohnermann, der selbst nur einen Garten hat und auf dem Acker hilft, wo er nur kann.

Als Frieda und Ida ins Haus gehen, sehen sie, dass die Kammer, die Helga bewohnt hat, schon leer geräumt ist. Die wenigen Dinge, die Helga gehören, hat sie in zwei Bündeln zusammengepackt. Jetzt geht es darum, die Nähmaschine, die Onkel Schorsch ihr großzügig geschenkt hat, die enge Treppe hinunterzutragen. Da müssen sie alle mit anfassen, denn die Maschine ist schwer, und auch der Tisch mit dem gusseisernen Tretbügel hat sein Gewicht. Ida hat Maschine und Tisch auseinandergebaut und erklärt, sie würde beides zusammensetzen, sodass die Maschine nach dem Transport wieder »picobello« laufen würde. Wenn Ida das sagt, dann schafft sie das auch, deshalb tragen sie nun Maschine und Tisch getrennt hinunter und stellen beides auf den Leiterwagen. Sie legen ein Bettlaken darüber, denn Ida hat gesagt, dass der Staub, der von der Dorfstraße aufgewirbelt wird, der Maschine schaden kann. Aber zum Glück geht draußen nicht das leiseste Lüftchen. Die Fachwerkhäuser brüten in der Sommerhitze, man kann das trockene Gebälk knacken hören, nur die Schwalben fliegen eifrig aus den Ställen ein und aus, weil sie ihre Jungen füttern müssen. Herta, die älteste der drei Hallertöchter, bleibt im Laden zurück, falls sich wider Erwarten doch Kundschaft einstellt, die anderen bewegen sich langsam in Richtung Gasthof. Helga und die Mutter tragen die Bündel über der Schulter, Ida und Frieda ziehen den Leiterwagen.

»Wie eine Karawane in der Wüste«, sagt Ida und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Bloß die Kamele fehlen.«

»Das sind wir«, bemerkt Frieda. »Wir sind die Kamele.«

»Kamele sind kluge und ausdauernde Tiere«, belehrt Ida die Schwester. »Man nennt sie auch ›die Wüstenschiffe‹.«

»Weil da in der Wüste so viel Wasser ist, wie?«, knurrt Frieda.

»Nee. Weil man vom Schaukeln seekrank wird, wenn man draufsitzt.«

Ida findet, dass Helga ein Recht darauf hat, in Dingelbach zu bleiben, und wenn die Dingelbacher das nicht einsehen, sind sie selber schuld. Ida ist ein ungewöhnliches Mädchen – sie tut, was sie will, und nimmt sich rücksichtslos, was sie braucht. Mit ihren erst fünfzehn Jahren ist sie schon lange kein Kind mehr.

Am Eingang vom »Gasthof zum Raben« wartet schon die Karin Guckes ungeduldig mit dem Zimmerschlüssel in der Hand.

»Seid ihr endlich da?«, sagt sie mürrisch. »Hab net den ganzen Tag Zeit. Das Heu muss in die Scheune, und ich steh mir hier die Beine in den Bauch.«

Auch der Guckes Jörg und seine Familie sind beim Heumachen, weil sie neben dem Gasthof noch eine kleine Landwirtschaft betreiben und vier Kühe im Stall stehen haben. Karin winkt Marthe und Helga mit ihren Bündeln hinein, dann rollt sie die Augen, weil die beiden Mädchen umständlich beginnen, die Nähmaschine abzuladen.

»Wie lang soll das denn dauern?«, schimpft sie und läuft herbei, um zu helfen. »Dass die da oben eine Nähstubb einrichtet, das war net ausgemacht.«

Frieda ärgert sich über die Guckes Karin, die sonst eigentlich gar nicht so übel ist, aber im Kopf halt dumpf, wie alle Dingelbacherinnen. Einerseits will sie Geld für das Zimmer haben, aber nähen soll Helga dort nicht. Dabei kann Helga sehr gut nähen, und es finden sich trotz allem Leute im Dorf, die ihr kleine Aufträge geben. So sind sie, die Dingelbacher. Nach außen hin heißt es: Pfui, die hat ihren Ehemann verlassen. Aber wenn es darum geht, etwas zu sparen und aus der alten Jacke des Vaters Hose und Weste für den Sohn zu nähen, dann kommen sie heimlich an und tun freundlich mit der Helga. Weil sie solche Arbeiten gut und für wenig Geld erledigt.

Das Zimmer, in dem Helga von jetzt an wohnen wird, verdient seinen Namen kaum, es ist eher eine Kammer. Winzig klein ist es, gerade das Bett und ein Stuhl passen hinein, einen Schrank gibt es nicht, nur ein paar Haken an der Wand. Mit Mühe quetschen sie die Nähmaschine vor das kleine Fensterchen, das nach hinten zum Hof hinausgeht. Nicht einmal ein Ofen ist vorhanden, aber Karin erklärt, der Rauchfang sei gleich hinter der Wand, das würde im Winter genügend Wärme geben.

»Das soll ein Gästezimmer sein?«, fragt Ida, die kein Blatt vor den Mund nimmt. »Da ist ja unser Hühnerstall ein Palast dagegen.«

»Wenn’s der Helga net gefällt – sie braucht’s net nehmen«, gibt Karin Guckes giftig zurück. »Geraucht wird hier net. Und die Gardinen sind neu, da dürfen keine Flecken drankommen.«

Tatsächlich hat sie Vorhänge aus dickem Stoff angebracht, weil sie nicht will, dass jemand die Helga durchs Fenster sehen kann, wenn am Abend das Licht angeschaltet ist.

»Da wisst ihr jetzt Bescheid«, meint die Karin ungeduldig und gibt Marthe den Zimmerschlüssel. »Ich muss hinauf, der Jörg wartet auf mich. Es liegt ein Unwetter in der Luft, wenn wir nur das Heu rechtzeitig in die Scheune kriegen!«

Damit läuft sie die Stiege hinunter und lässt sie allein.

Die Mutter ist zornig, denn sie weiß, dass dieser Raum kein Gästezimmer, sondern die Abstellkammer gewesen ist, in der früher allerlei Gerümpel stand. Das haben sie ausgeräumt und ein altes Bettgestell mit einer Strohmatratze hineingestellt, damit sie ja keines der drei Gästezimmer hergeben müssen.

»Dass die Karin sich so benimmt, das hätt ich nicht gedacht!«, schimpft sie. »Eine Sünd und eine Schand, dafür auch noch Geld zu nehmen!«

»Lass gut sein, Marthe«, sagt Helga. »Es ist ja nicht für immer.«

Die Mutter hilft Helga, das Bett mit dem mitgebrachten Laken zu beziehen. Ida hat sich darangemacht, die Nähmaschine wieder zusammenzubauen. Frieda verabschiedet sich, sie ist froh, aus dieser trostlosen Kammer hinauszukommen. Lieber draußen in der Hitze braten als in diesem engen Loch ersticken. Arme Helga. Das alles hat sie sich eingehandelt, weil sie seinerzeit so dumm war, den Otto Schütz zu heiraten. Jetzt wird sie hier in Dingelbach ganz sicher keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, da kann sie machen, was sie will. In der Stadt, da ist es anders. Da lassen sich die Frauen scheiden, und niemand stört sich daran. Mindestens zwei Schauspielerinnen am Theater sind geschieden, das weiß Frieda ganz sicher. Und andere haben ein festes Verhältnis, leben ohne Trauschein mit einem Mann zusammen. Die Großmutter hat zwar gesagt, das gäbe es nur unter Künstlern, da seien die Sitten schon immer freier gewesen, aber Frieda glaubt ihr das nicht. In der Stadt denken die Menschen einfach nicht so engstirnig wie auf dem Land. Stadtluft macht frei, heißt es. Ende des Jahres, noch vor der Abschlussprüfung, will sie schon einmal an verschiedenen Theatern vorsprechen, um ein Engagement zu bekommen. Dann ist endgültig Schluss mit Dingelbach.

Draußen ist es immer noch unerträglich heiß, aber das Licht hat sich verändert. Es ist unstet, schwirrend, zugleich liegt eine Spannung in der Luft, die unruhig macht und das Herz beklemmt. Frieda schaut gen Westen, wo sie auf der Schützwiese den Heuwagen beladen. Richtig: Das harmlose Wolkengespinst hat sich zu einer grauen Masse verdichtet und liegt nun wie ein fernes Gebirge am Horizont. Wenn man genau hinschaut, sieht man, wie immer neue, höhere Wolkenspitzen wie drohende Fäuste aus der grauen Formation hinausstoßen und sich zum Dorf herüberrecken.

Vorsichtshalber nimmt sie schon einmal den Leiterwagen mit und zuckelt damit in Richtung Dorfladen. Ein schwacher Wind hat sich erhoben und wirbelt Staubwolken hoch, als beim Dorfbrunnen der erste, hoch beladene Heuwagen auftaucht. Auf dem Kutschbock sitzt der Kappus Dieter, Luises Ehemann, das Hemd klebt ihm am Leib. Er traktiert die Stute mit der Peitsche, weil sie beim Brunnen stehen bleiben will, um zu saufen.

Frieda schiebt den Leiterwagen in die kleine Remise neben dem Laden und steigt die Treppe hinauf. Ihre Schwester Herta sitzt auf dem Hocker und liest in einem Groschenheftchen. Als Frieda eintritt, schaut sie sie mit glasigen Augen an. Aha – sie hat wieder von dem schönen Prinzen geträumt, der das arme Mädchen heiratet.

»Ich hab die Wäsche abgenommen«, sagt Herta vorwurfsvoll, weil das eigentlich Idas Aufgabe gewesen wäre. »Die Kirschen stehen in der Küche.«

»Danke!«

Ein schwaches Donnergrollen ist zu hören. Herta legt das Heftchen weg und läuft zum Schaufenster, weil man von dort auf die Dorfstraße schauen kann. Jetzt ist draußen Bewegung entstanden. Der Grossmann Fritz kommt mit dem Heuwagen, hinter ihm drängelt der Schütz Otto, der zweispännig fährt und in Eile ist, weil er noch eine weitere Fuhre vor sich hat. Man hört ihn laut fluchen und den Grossmann Fritz verwünschen, der sein Heu schief aufgeladen hat, sodass die Ladung zu kippen droht.

»Zu deppert, um anständig aufzugabeln. Gleich liegt’s im Pfarrgarten, du blöder Watz!«

»Endlich tut sich hier mal etwas«, seufzt Herta. »Ich hab schon geglaubt, das Dorf wär ganz und gar ausgestorben, so still ist es gewesen.«

Es rumpelt wieder. Noch ein Stück entfernt, aber nicht minder bedrohlich. Frieda spürt die schwelende Anspannung in allen Fasern, die Luft scheint zu knistern, ihre Hände werden fahrig. In der Küche wirft sie einen Blick auf den Korb, der noch immer randvoll mit roten Kirschen ist – nein, sie hat jetzt keine Ruhe, sich hinzusetzen und das Zeug zu entsteinen. Sie steigt hinauf in die Kammer, um sich in das Drama Der Kaufmann von Venedig zu vergraben. Sie braucht jetzt Theaterluft, eine Rolle, in die sie sich hineindenken kann, das Gefühl, dort zu sein, wo sie hingehört, und nicht in diesem öden Dorf, wo engstirnige Menschen einander sinnlos das Leben schwer machen.

Doch die Flucht gelingt ihr schlecht. Sie kann sich nicht in das Stück hineingeben, sich in die kluge und mutige Portia verwandeln, die als Advokat verkleidet einen Freund vor dem Tod errettet. Vermutlich liegt es an dem Lärm auf der Dorfstraße, vielleicht auch an dem immer lauter heranrollenden Donner und den aufzuckenden Blitzen. Wenn es nur endlich regnen würde – das wäre eine Erlösung.

Die Kammertür fliegt auf, und Ida kommt herein. Ihr Gesicht ist rot und verschwitzt, das Kleid hat dunkle Flecken. Rötliche Locken, die sich aus den Zöpfen gelöst haben, kleben ihr an den Schläfen.

»Jetzt langt’s mir«, stöhnt sie. »Das hält ja keine Sau aus. Schneid sie mir ab, Frieda!«

»Was?«, fragt Frieda irritiert und legt das Textheft zur Seite.

»Was wohl? Die Haare. Ich schwitz mich ja tot mit den langen Zöpfen.«

Ida hat wild entschlossen Mutters Schere aus dem Nähkasten entwendet. Frieda hat Bedenken. Auch sie denkt daran, sich einen Bubikopf schneiden zu lassen, aber die Mutter hat es streng verboten. Keine Frau, kein Mädchen im Dorf trägt das Haar kurz, das tun nur die sittenlosen Frauen in der Stadt, die sich die Lippen anmalen und seidene Unterwäsche mit Spitzen dran anziehen.

»Du kannst die doch nicht einfach abschneiden!«, regt sich Frieda auf. »Das muss ein Frisör machen. Sonst siehst du aus wie ein Wischmopp.«

Ida hat dazu ihre eigene Meinung. Abgeschnitten ist abgeschnitten, ob es der Frisör macht oder Frieda, das ist ihr gleich.

»Ich hab es satt, zehn Pfund Wolle am Kopf hängen zu haben«, schimpft sie und reicht Frieda die Schere. »Los, fang an.«

Ein kräftiger Donnerschlag hindert Frieda an einer Antwort, aber sie nimmt die Schere und schnippelt damit prüfend in der Luft herum.

»Mama kriegt einen Herzschlag, wenn ich das mache«, wendet sie vorsichtig ein.

»Sie wird es überleben.«

Ida schaltet das Deckenlicht ein, weil die Gewitterwolken inzwischen die Sonne verdunkeln, und setzt sich neben die Schwester aufs Bett. Mit einer auffordernden Bewegung hält sie ihr den rechten Zopf hin.

»So geht das nicht. Du musst die Zöpfe aufmachen. Und dann müssen wir das Haar durchkämmen.«

»Was denn noch?«, stöhnt Ida ärgerlich. »Soll ich sie vorher ondulieren und mit Parfüm einsprühen?«

»Nur kämmen. Sonst gibt es lauter Zipfel.«

Widerwillig steht Ida auf und nimmt den Kamm von der Kommode. Dann löst sie die Spangen und entflechtet die langen kupferfarbigen Zöpfe. Das Haar breitet sich wie eine leuchtende, wellige Flut um sie aus, es reicht ihr bis zur Taille und ringelt sich an den Enden in Löckchen. Eigentlich ist es viel zu schön, um es abzuschneiden. Ida kämmt sich jetzt einen Teil des Haars über das Gesicht und fordert: »Schneide mir erst einmal einen Pony.«

Es donnert gewaltig. Das Gewitter ist jetzt direkt über ihnen. Die Schere in Friedas Hand zittert, aber sie setzt sie vorsichtig an und schneidet. Es ist ein seltsames Gefühl, weil Idas Haar sehr dick ist. Fast fühlt es sich an, als würde man Fäden aus Glas zerschneiden.

»Der Pony ist zu lang!«, protestiert die Schwester und pustet sich eine abgeschnittene Strähne aus dem Gesicht. »Ich kann ja gar nichts sehen!«

Frieda bessert nach. Die kurzen Härchen fliegen umher und verteilen sich auf Betten und Fußboden. Ida muss niesen.

»Das kannst du nachher aufkehren«, erklärt Frieda und schnippelt ein paar vorwitzige Spitzen zurecht. Ganz gerade ist es nicht geworden, aber fürs erste Mal nicht übel.

»Jetzt den Rest«, verlangt Ida. »Einen Daumenbreit unter dem Ohr. Und hinten kürzer.«

Frieda nimmt Maß und setzt die Schere an, da kracht über ihnen ein mächtiger Donnerschlag, gerade so, als wäre über dem Haus eine Mörsergranate zerplatzt. Gleich darauf geht das Deckenlicht aus.

Ida schreit wie am Spieß. »Aua! Blöde Kuh! Du hast mich ins Ohrläppchen geschnitten!«

»Entschuldigung«, stottert Frieda. »Tut’s weh?«

»Nein. Es ist ein wunderbares Gefühl. Schneid gleich noch mal ins andere Ohr!«, gibt Ida mit zornigem Spott zurück.

Das Licht flackert auf, geht wieder aus, kommt zurück. Frieda betupft Idas blutendes Ohrläppchen mit einem Taschentuch. Es ist gar nicht so schlimm, wie sie sich anstellt. Das Blut ist rasch gestillt.

»Jetzt mach weiter. Ich kann ja nicht mit einem halben Bubikopf herumlaufen. Und wenn du mich noch mal schneidest, hau ich dich!«

»Dann kannst den Rest selber machen!«

Frieda setzt ihr Werk fort. Lange wellige Haarsträhnen fallen auf das Bett, breiten sich über Decke und Kopfkissen aus, hängen an der Bettkante herab.

»Fertig?«

»Schau mich mal an. Da ist was zu lang. Das muss noch weg.«

Frieda setzt zur Feinarbeit an, schnippelt hier und dort etwas ab, dann ist sie zufrieden. Ida springt auf und läuft zum Waschtisch, an dem oben ein viereckiger, etwas blinder Spiegel befestigt ist.

»Famos!«, schwärmt sie und schüttelt das kurze Haar. »Einfach großartig. Was für ein Gefühl! Die große Freiheit!«

Sie wühlt mit den Händen in ihrem Haar, reibt sich die Kopfhaut, verstrubbelt die ganze schöne Bubikopffrisur, die Frieda so mühevoll zurechtgeschnitten hat.

»Jetzt schaust du aus wie ein Besen. Kämm das wieder glatt!«

»Besen ist auch schön«, behauptet Ida und fährt mit den Fingern durch die Frisur, dass das Haar steil emporsteht. »Die werden staunen, wenn ich so in die Schule komme.«

»Erst mal wird Mama staunen.«

»Und Herta!«

»Die sowieso. Die kriegt einen Ohnmachtsanfall.«

Ein dicker Tropfen klatscht gegen die Fensterscheibe. Es blitzt grell auf, der Donner kracht einige Sekunden später und rollt wie ein Bollerwagen durch die Wolken. Dann kann man hören, wie die Regentropfen auf das Dach fallen. Frieda sammelt die abgeschnittenen Strähnen ein, legt sie ordentlich aufeinander und hält schließlich ein dickes Bündel kupferfarbener Lockenflut in der Hand. Glänzendes rotes Gold.

»Die könnte ich nach Frankfurt mitnehmen und an einen Frisör verkaufen«, überlegt sie.

»Dann krieg ich aber die Hälfte!«, verlangt Ida. »Sind schließlich meine Haare.«

Sie macht das Fenster auf und behauptet, es würde nicht hereinregnen, weil der Wind vom Westen kommt. Die Schwestern stehen nebeneinander, atmen die belebende, warme Feuchte ein und schauen über Wiesen und Äcker, auf die der Regen in dichten grauen Fäden herabstürzt. Was für eine Erlösung! Es ist, als würde die Erde sich ausdehnen und die Nässe durstig einsaugen. Gluckernd rinnt das Wasser durch die Regenrinne, schmatzend plätschert es unten im Regenfass.

»Mitunter ist es doch ganz schön in Dingelbach«, meint Frieda und nimmt einen tiefen Atemzug. Es riecht nach Heu, nach warmer Feuchtigkeit, nach Gartenkräutern und bittersüßem Holunder. Ein heimatlicher Geruch.

»Und wie!«, gibt Ida zurück und schüttelt das kurze Haar. »Dingelbach ist der schönste Ort auf der ganzen Welt!«