Kapitel 3
»Da haben Sie Glück im Unglück gehabt«, meint Rudolf Alberti. »Das hätte auch bös ausgehen können.«
Johannes Hohnermann schaut beklommen auf seine rechte Hand, die der Dorfheiler mit einem dicken Verband umwickelt hat. Er hat Ursula Dönges beim Heumachen geholfen, weil sie Kriegerwitwe mit zwei Kindern ist und die Landwirtschaft allein nicht bewältigen kann. Beim Dengeln der Sense ist ihm die Hand ausgerutscht, und er hat sich einen tiefen Schnitt in der Handinnenfläche eingehandelt.
»So geht’s halt, wenn ein Städter bei der Landwirtschaft helfen will«, sagt er mit verlegenem Lächeln. »Da werden meine Schüler ihre Freude haben, wenn ich mit der linken Hand an die Tafel schreibe. Das wird ausschauen, als sei eine Krähe darübergelaufen.«
Alberti lacht ein wenig, dann tröstet er ihn damit, dass die Schule erst in zwei Wochen beginnt. Bis dahin ist die Wunde zwar nicht geheilt, aber er kann einen leichteren Verband anlegen, mit dem Hohnermann schreiben kann.
»Gut, dass es gleich ordentlich geblutet hat«, meint Alberti. »Da ist kein Dreck in die Wunde gekommen, sonst hätte es leicht eine Blutvergiftung werden können.«
Geblutet hat es in der Tat heftig. Hohnermann hat zunächst sein Taschentuch um die Hand gewickelt und weiter die Sense geschwungen, aber Rudolf Alberti, der Ursula Dönges ebenfalls bei Heumachen geholfen hat, ist gleich herbeigelaufen und hat Hohnermann die Sense aus der Hand genommen.
»So geht das net, Herr Hohnermann. Kommen Sie mit zu mir hinüber, dass ich die Wunde verarzten kann.«
Nun sitzt Hohnermann in trüber Stimmung an seinem Schreibtisch, hält den Arm in einer Schlinge und ärgert sich über die eigene Ungeschicklichkeit. Hätte er besser aufgepasst, dann wären sie längst mit der Wiese fertig und könnten das Heu morgen einfahren. Es tut ihm leid, weil die Ursula sowieso mit der Arbeit hintendran ist. Die neunjährige Kati und der elfjährige Klaus helfen zwar, wie sie können, aber ohne einen Mann geht es nun einmal nicht in der Landwirtschaft. Bald werden Korn und Gerste geerntet, dann muss geschnitten, gebunden, aufgeladen und gedroschen werden, da ist die Ursula wieder auf Hilfe angewiesen. Aber bis dahin wird seine Hand ja wohl hoffentlich geheilt sein.
Seufzend nimmt er sich ein Buch vor, das er in der vergangenen Woche in Frankfurt erstanden hat. Es ist ein Bericht über eine Expedition nach Ruanda, die ein deutscher Adeliger ausgerüstet und durchgeführt hat, weil ihn die dortigen Vulkane fasziniert haben. Der Band ist mit vielen Fotografien illustriert, er wird einige davon herausschneiden und auf einen Karton kleben, um sie seinen Schülern vorzuführen, wenn er ihnen von Schwarzafrika erzählt.
Sie fehlen ihm, seine Schüler. Seit drei Wochen ist es beklemmend still im Schulhaus, kein lautes Schwatzen, kein fröhliches Gelächter und Füßescharren, kein Herumtoben auf dem Schulhof. Die Buben und Mädchen sind daheim auf den elterlichen Höfen und müssen beim Heumachen helfen. Nur manchmal sieht er sie im Dorf oder unten am Bach spielen, mitunter treiben einige Buben auch am Dorfanger ihr Unwesen. Ferienreisen wie für die Stadtkinder gibt es nicht auf dem Dorf, da muss das Vieh täglich versorgt werden, und die Arbeit auf Wiesen, Äckern und im Gemüsegarten reißt nicht ab. »Herumlaufen« dürfen die Dorfkinder nur, wenn daheim einmal weniger zu tun ist, und oft gibt es Schläge, weil sich einer davongemacht hat, der eigentlich auf dem Feld hat helfen sollen. Nicht wenige seiner Schüler sind froh, wenn der Unterricht wieder beginnt, weil sie dann wenigstens den Vormittag über nicht im Stall oder auf dem Acker arbeiten müssen.
Es ist ein trauriger Zustand, den er aber nicht ändern kann, denn er weiß, dass die harte Landarbeit nur erledigt werden kann, wenn alle, auch die Kinder, mit anpacken. Der Lehrplan der Dorfschulen orientiert sich seit Jahrhunderten an diesen Gegebenheiten – Dorfkinder brauchen keine umfangreiche Bildung, sie sollen lesen, schreiben und rechnen lernen, dazu Fleiß und Gehorsam üben, mehr braucht es nicht. Zu mehr wäre auch kaum Zeit. Johannes Hohnermann, der eigentlich einmal Musiker werden wollte und den das Schicksal nach dem Krieg zum Dorflehrer in Dingelbach gemacht hat, versucht trotz allem dagegenzuhalten. Er will seinen Schülern den Blick über das Dorf hinaus erweitern, ihnen geschichtliche Ereignisse, neue technische Entwicklungen oder ferne Länder auf kindgerechte Weise nahebringen. Die Schüler danken es ihm mit liebevoller Anhänglichkeit – die Eltern sind weniger erfreut. Nicht selten bekommt er zu hören, dass er den Kindern nur »Flöhe ins Hirn« setzen würde, anstatt ihnen mit dem Rohrstock Anstand und Sitte einzubläuen, wie es eigentlich seine Aufgabe als Schulmeister sei.
Seufzend schiebt er das Buch beiseite, weil der Schnitt in seiner Hand jetzt unangenehm zu schmerzen beginnt. Nun fällt ihm ein, dass er eine ganze Weile nicht Orgel spielen kann, höchstens mit der linken Hand und den Pedalregistern, aber das ist wenig befriedigend.
Warum hat er nur nicht besser aufgepasst? Eine dumme Unachtsamkeit, und man hat wochenlang die Folgen zu tragen. Er steht auf und geht im Zimmer umher, überlegt, wie er die ungewollt gewonnene Zeit sinnvoll nutzen kann, und nimmt sich vor, auf dem Schützhof vorbeizuschauen. Heinz, der jetzt in der fünften Klasse ist, macht ihm Sorgen, weil er seit geraumer Zeit ungewöhnlich aufsässig ist. Er macht alberne Zwischenbemerkungen, die die Mitschüler zum Lachen bringen, und in den Pausen sucht er Streit mit anderen Buben. Hohnermann hat mehrfach eingreifen müssen, sonst wäre es wohl zu Prügeleien gekommen, die für den schmalen Heinz schlecht ausgegangen wären. Er hat eine fatale Leidenschaft, sich gerade mit den größeren und kräftigeren Buben anzulegen, so als müsse er das Schicksal herausfordern. Hohnermann weiß natürlich, dass der Bub zwischen Vater und Mutter hin- und hergerissen ist, und er will versuchen, auch mit Helga Schütz darüber zu reden.
Als er gerade hinunter in die Küche geht, um sich zum Mittagessen den Eintopf aufzuwärmen, den ihm Lenchen Grossmann gestern gebracht hat, läutet es an der Haustür. Hoffnungsvoll eilt er hinunter und wird zu seiner großen Freude nicht enttäuscht. Es ist Frieda Haller, die, seit die Schauspielschule Ferien hat, beinahe täglich zu ihm herüberkommt, um ein wenig zu plaudern und sich über das triste, öde Dingelbach zu beklagen. Jetzt hält sie einen kleinen Topf in der Hand und schaut ihn besorgt an.
»Was haben Sie da nur angestellt!«, ruft sie statt einer Begrüßung. »Die Alberti Marlis war gerade eben im Laden und hat erzählt, Sie hätten sich alle Finger an der Hand abgeschnitten.«
»So ein Unsinn«, widerspricht er kopfschüttelnd. »Das ist nur ein kleiner Kratzer, weiter nichts. Die Finger sind alle noch dran.«
Es ist ihm peinlich, dass sein dummer Unfall nun schon im Dorf herumgeht und dazu noch völlig übertrieben dargestellt wird.
»Für einen kleinen Kratzer ist das aber ein dicker Verband«, findet Frieda mit Blick auf seinen Arm, den er in der Schlinge trägt.
»Magst du zu mir hinaufkommen?«, fragt er, um von dem unangenehmen Thema abzulenken.
»Schrecklich gern! Da! Das da hat mir die Mutter für Sie mitgegeben. Rote Rüben in Essig eingelegt. Das soll blutbildend sein, hat sie gesagt …«
Er bedankt sich und stellt das Töpfchen in die Küche. Rote Rüben mag er nicht, weder in Essig eingelegt noch als Gemüse. Trotzdem ist es sehr lieb und fürsorglich von Marthe Haller, so für seine Gesundheit zu sorgen. Vermutlich werden ihn bald auch andere Dörflerinnen mit solchen Hausmitteln beglücken, um seine Genesung zu fördern. Bei den Frauen im Dorf hat er einen Stein im Brett, die schimpfen zwar auch über seinen Unterricht, aber weil er unverheiratet ist, meinen viele, ihn versorgen und bemuttern zu müssen.
Oben in seinem Arbeits- und Wohnzimmer stellt er für Frieda den Stuhl zurecht, das kann er auch mit der linken Hand. Er selbst setzt sich auf den Schreibtischstuhl, sodass der Tisch zwischen ihnen steht. Das erscheint ihm wichtig, weil man sie durchs Fenster sehen kann und er Frieda nicht ins Gerede bringen möchte. Sie ist ungewöhnlich hübsch, dieses Mädchen, eine Ausnahmeerscheinung im Dorf, wo die Bauernmädchen alle runde Gesichter und dunkelblonde Zöpfe haben und eher pummelig von Gestalt sind. Frieda hat schwarzes, lockiges Haar, dazu dunkle Augen wie eine Südländerin, und auch ihr lebhaftes Wesen und ihre ausdrucksvolle Mimik unterscheiden sie von den Dorfmädchen. Er sieht sie gern, hat sich immer für sie eingesetzt, wenn sie seine Unterstützung gebraucht hat. Was sich ansonsten an unausgesprochenen Wünschen in seinem Herzen bewegt, hält er fest verschlossen. Er ist gut zehn Jahre älter als Frieda, und zudem hat ihm eine Granate im Krieg das Gesicht böse zerschnitten. Es wäre unsinnig, sich falschen Hoffnungen hinzugeben.
»Wie schaut es im Laden aus?«, will er von ihr wissen. »Jetzt, wo die Helga Schütz drüben im ›Raben‹ wohnt, werden die Kunden doch wohl wieder bei euch einkaufen, oder?«
Frieda hebt bekümmert die Schultern. Nein, da hat sich bisher noch nichts verändert. »Es steht nicht gut«, seufzt sie. »Manchmal kommt stundenlang keine einzige Kundin in den Laden. Der Herbert Krug, der uns die Lebensmittel liefert, war neulich ganz verärgert, weil die Mutter kaum etwas bei ihm bestellt hat. Aber was soll sie machen? Das Lager ist voll, die Sachen müssen erst einmal verkauft werden.«
Er tröstet sie. Es wird noch ein Weilchen dauern, weil die Helga Schütz ja erst vor einer Woche weggezogen ist. »Aber mit der Zeit werden sie alle wiederkommen, da bin ich ganz sicher«, meint er aufmunternd.
»Hoffentlich«, seufzt sie. »Die Mutter ist furchtbar streng und unleidlich. Nichts kann man ihr recht machen. Ich wünschte, ich könnte nach Frankfurt zur Großmutter fahren und dort bleiben, bis die Schauspielschule wieder anfängt. Aber das hat die Mutter verboten, also muss ich hier in Dingelbach sitzen und mich zu Tode langweilen!«
Sie steckt eine Locke hinters Ohr, die sich aus der Frisur gelöst hat. Seit einigen Monaten trägt sie das Haar aufgesteckt, manchmal sogar offen, was im Dorf streng verpönt ist. Auch ihre kurzen Kleider und zierlichen Schuhe, die sie in Frankfurt von dem Geld kauft, das ihr die Großmutter zusteckt, erregen heftigen Anstoß. Er weiß, dass Frieda sich inzwischen fremd in Dingelbach fühlt, es zieht sie in die Stadt, ans Theater, ihre Zukunft liegt weit fort von ihrem Heimatdorf. Dass sie in diesem Sommer noch hier ist und ihn so oft aufsucht, ist ein unerwartetes Geschenk. Im kommenden Frühjahr wird sie die Abschlussprüfung an der Schauspielschule ablegen, dann sucht sie sich ein Engagement in irgendeiner deutschen Stadt. Und dann wird er sie nicht mehr sehen.
»Ist’s denn gar so schlimm?«, fragt er mitfühlend. »Du hast doch die Ida, mit der verstehst du dich gut. Und deine Cousine Luise, die früher so gern mit dir Theater gespielt hat.«
»Die Luise?«, platzt sie heraus und blitzt ihn aus schmal zusammengekniffenen dunklen Augen an. »Die hat schon lange nichts mehr mit dem Theaterspielen im Sinn. Seit sie verheiratet ist und einen Buben hat, redet sie nur noch von der Landwirtschaft und vom Kinderkriegen. Das Zweite ist schon unterwegs, glaub ich.«
Er überlegt, was er tun könnte, um ihr die Zeit zu verkürzen. Er hat versucht, sie für das Orgelspiel zu interessieren, hat ihr das Instrument erklärt und ihr ersten Unterricht erteilt. Aber sie hat bald die Lust daran verloren, weil es ihr zu mühsam ist, so lange zu üben. Eine Weile hat sie Freude an seiner Fossiliensammlung gehabt, zweimal ist er mit Ida und ihr hinauf in den Wald gegangen, wo es Schieferfelsen gibt, die hin und wieder Abdrücke urweltlicher Pflanzen enthalten. Ida hat eifrig mit seinem Hämmerchen geklopft und tatsächlich einen Abdruck gefunden, aber Frieda hat sich auf den Daumen gehauen und danach genug von der Klopferei gehabt. Nur mit den Liedern, die er früher einmal aus einer Laune heraus geschrieben und in Melodie gesetzt hat, konnte er sie eine Weile begeistern. Er hat sie hervorgekramt und ihr vorgesungen, wobei er sich auf dem grauslichen Klavier vom Gasthaus »Zum Raben« begleitet hat. Zu seiner großen Freude hat sie gleich mitgesungen und gemeint, das klänge richtig flott und modern. Doch auch diese Zerstreuung hat inzwischen ihren Reiz verloren. Sie kennt nun alle seine Kompositionen, kann sie auswendig singen, und etwas Neues will ihm nicht gelingen. Es fehlt ihm wohl die jugendliche Unbefangenheit der Vorkriegszeit, als er noch Student war und glaubte, aus ihm würde einmal ein großer Musiker werden.
Heute könnte er wegen der verletzten Hand nicht einmal Klavier spielen. Er muss etwas anderes finden.
»Da, schau einmal, was ich gekauft habe. Vielleicht ist das etwas für dich.«
Er zeigt Frieda das neu erworbene Buch über die Expedition durch Ruanda, dreht es herum, damit sie die Bilder sehen kann, und merkt zu spät, dass dies keine gute Idee gewesen ist. Auf den Fotos sieht man Angehörige vom Stamm der Watussi und Wahutu, und die Frauen zeigen ganz selbstverständlich ihre bloßen Brüste. Was mag Frieda wohl von ihm denken, wenn er ihr solche Bilder zeigt?
Sie scheint sich zum Glück wenig daran zu stören, was ihn etwas erleichtert. Interessiert blättert sie herum, liest hie und da ein wenig und schaut sich die Fotografien aufmerksam an.
»Afrika ist ein faszinierender Erdteil«, seufzt sie und blättert weiter. »Einer der Schauspieler in Frankfurt, der Leo Biberti, der war im vergangenen Jahr in der Wüste Sahara unterwegs. Er hat uns Fotos gezeigt, wie er mit einem Handtuch auf dem Kopf auf einem Kamel reitet. Neben ihm läuft ein Beduine im wehenden weißen Burnus, und im Hintergrund sieht man etwas verwischt die Hügel aus hellem Sand. Er hat mir einen Armreif aus schwarzem Ebenholz mitgebracht.«
»Wie nett von ihm«, meint Hohnermann und muss trocken schlucken, was ihm immer passiert, wenn sie von ihren männlichen Kollegen berichtet. »Er ist sicher ein gefragter Schauspieler, oder?«
»Ja. In der kommenden Spielzeit geht er fort von Frankfurt …«
Sie klappt das Buch zu und klemmt es unter den Arm, dann erklärt sie, sie müsse jetzt hinüber, sonst würde die Mutter wieder fragen, wo sie herumliefe. Er bringt sie zur Haustür und schaut ihr nach, wie sie in dem kurzen, hellen Kleid leichtfüßig davonrennt. Natürlich hat sie in Frankfurt Bekannte und Freunde im Ensemble. Warum auch nicht? Und solange sie ihm so freimütig davon erzählt, wird es nichts Ernstes sein.
Das Anheizen des Küchenherdes gestaltet sich mit der linken Hand recht schwierig, gelingt aber schließlich. Er stellt den Topf auf, rührt mit dem Löffel, damit es nicht anbrennt, und isst gleich aus dem Kochtopf, damit er keinen Teller abspülen muss. Auch den Topf wird er mit einer Hand nicht gut reinigen können, er lässt ihn voll Wasser laufen und im Spülbecken stehen – Lenchen Grossmann wird es ihm verzeihen. Da er seine Lektüre nun weggegeben hat, beschließt er, hinüber zum Schützhof zu gehen, um einmal vorsichtig zu schauen, wie er dem Heinz helfen könnte. Er weiß ja, dass der Otto Schütz seinen Buben hart anfasst und nicht mit Schlägen spart, wenn er schlecht gelaunt ist. Auch die Gertrud ist im Dorf nicht als liebevolle Großmutter bekannt, eher als eine Person, die Haare auf den Zähnen hat und niemals auf die Idee käme, den Enkel zu verwöhnen. Vielleicht kann er ja doch ein paar gute Worte für den Buben einlegen.
Natürlich erregt er Aufsehen, wie er so mit dem Arm in der Schlinge die Dorfstraße entlanggeht. Lina Altmann ist mit dem Handkarren auf dem Weg zum Backes, um die fertig gebackenen Brote zu holen. Als sie ihn sieht, bleibt sie stehen und schlägt die Hände zusammen.
»Das darf doch net wahr sein, Herr Hohnermann! Da können Sie ja net mehr Orgel spielen. Aber es heißt ja, die Finger könnt man wieder annähen …«
Er versichert ihr, dass alle seine Finger noch an der Hand seien und die kleine Wunde bald heilen werde. Als er weitergeht, hört er, wie sie beim Backes der Alma Grossmann erzählt, dass sich ein junger Bauer aus dem Nachbardorf vor Jahren beim Dengeln der Sense die Pulsader durchgeschnitten hätte. »Da ist das Blut meterweit über die ganze Wiese gespritzt …«
Auf dem Schützhof sitzt die Gertrud friedlich in der Mittagssonne und verliest rote Johannisbeeren. Neben ihr auf einem Schemel hockt die zwölfjährige Julia Grossmann, die Tochter vom Fritz Grossmann, der vor einem Jahr den Hof des verstorbenen Vaters übernommen hat. Heinz sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Hofpflaster und ist eifrig mit den Bleisoldaten beschäftigt, die vermutlich Julias Bruder gehören. Er hat sie in zwei rechteckigen Formationen aufgestellt und ist gerade dabei, den abgebrochenen Gewehrlauf eines Rekruten mit einem Streichholz zu reparieren.
Hohnermann wird von Gertrud Schütz freundlich begrüßt, wobei er das Gefühl hat, dass ihr Lachen unecht ist und möglicherweise ein schlechtes Gewissen überspielt.
»Ach, der Herr Hohnermann. Haben Sie sich arg verletzt? Es heißt ja, die Finger wären ab. Mögen Sie einen Kaffee? Julia, lauf mal schnell in die Küche und bring die blaue Kanne und einen Becher …«
Er ist ein wenig erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das Nachbarmädchen zu Handreichungen einsetzt. Julia ist zart und blond, ein Stadtkind, das immer noch nicht richtig in Dingelbach angekommen ist und keine Freundinnen im Dorf gefunden hat. Dafür hat sie sich an Heinz angeschlossen, der hin und wieder mit ihr spielt. Wobei er sorgsam darauf achtet, dass es die anderen Buben im Dorf nicht mitbekommen, weil es für einen Buben in seinem Alter eigentlich peinlich ist, mit Mädchen zu spielen.
Heinz ist von dem überraschenden Besuch seines Lehrers wenig begeistert. Er steht auf und macht zur Begrüßung seinen »Diener«, schaut aber misstrauisch drein, und man sieht ihm an, dass er am liebsten verschwinden würde.
»Gibt’s etwa Beschwerden?«, fragt Großmutter Gertrud und füllt einen Becher mit Kaffee für Hohnermann. »Der Heinz ist doch ein kreuzbraver Bub, netwahr, Heini?«
»Ja, Oma.«
Heinz schaut die Großmutter mit treuherzigen Augen an; der Blick, mit dem er dann zu Hohnermann hinüberlinst, ist schräg und voller böser Ahnungen.
»Beschwerden hab ich keine«, schwindelt Hohnermann. »Ein wenig aufmerksamer könntest du im Unterricht sein, Heinz. Das fällt dir momentan wohl schwer, wie?«
»Geht so …«, murmelt der Junge.
»So sind die Buben halt, die haben Ameisen unterm Hintern, wenn sie still sitzen müssen«, meint Gertrud und fährt Heinz mit den roten Johannisbeerfingern durchs Haar. Er bewegt sich nicht, aber sobald sie die Hand fortgenommen hat, streicht er sich die Haare wieder glatt.
»Ich denk, der Heinz wird sich bald wieder fangen«, meint Hohnermann begütigend. »Da helfen Liebe und Verständnis viel mehr als harte Strafen, Frau Schütz.«
»Ei, was denken Sie dann?«, ruft sie aus. »Der hat’s gut bei uns, der Bub. Unser Augenstern ist er. Netwahr, Heini?«
Gertrud ist nun eifrig bemüht, dem Lehrer zu schildern, wie sehr sie um den Enkel besorgt ist, dass sie ihm in Oberursel vier schöne Bleisoldaten gekauft hätte und er bald noch einen Leutnant dazukriegen würde. Nein, im Dorf soll der Bub nicht so viel herumlaufen, das will der Otto nicht, der Heinz hat ja im Stall und im Garten zu helfen und kann mit der Julia spielen.
Ob Gertruds liebevolle Fürsorge für den Enkel nun vorgetäuscht oder echt ist, kann der Lehrer nicht sagen, es scheint ihm aber, dass sie um den Jungen bemüht ist. Fasst auch Otto Schütz den Buben jetzt sanfter an als früher? Gertrud berichtet, der Otto sei vorgestern mit dem Heinz zum Weiher gefahren, um ihm das Schwimmen beizubringen.
»Das hat der Otto damals gelernt, als er Soldat war«, erklärt Gertrud. »Da hat er es seinem Buben zeigen wollen, weil es doch lebenswichtig sein kann, wenn einer mal ins Wasser fällt.«
Tatsächlich lernen die Dingelbacher Kinder das Schwimmen nicht; auch die Erwachsenen sind Nichtschwimmer. Vielleicht passiert es deshalb immer wieder, dass eines der Kinder beim Baden im Weiher so unglücklich ertrinkt.
»Ist Ihr Sohn daheim?«, fragt er. »Ich hätt gern ein paar Worte mit ihm geredet.«
Otto Schütz ist nicht auf dem Hof, er ist in eines der Nachbardörfer gefahren, um dort »etwas zu erledigen«.
»Er schaut sich halt um«, sagt Gertrud und wehrt die Fliegen ab, die sich auf die Johannisbeeren setzen wollen. »Es muss ja eine neue Bäuerin auf den Hof, netwahr? Eine fleißige Ehefrau, die zupacken kann und die unserem Heinz eine gute Mutter sein wird …«
Das Gesicht des Jungen ist verschlossen, er senkt den Kopf, greift den Bleisoldaten mit dem abgebrochenen Gewehrlauf und kratzt mit der Figur über das Hofpflaster.
»Du darfst den net kaputt machen«, warnt Julia. »Die gehören dem Kurt, der haut mich, wenn einer kaputt ist.«
»Dann kriegt er was von mir!«, sagt Heinz und schaut gleich darauf ängstlich zu Hohnermann hoch.
»Geliehene Sachen muss man sorgfältig behandeln, Heinz«, mahnt Hohnermann. »Das ist Ehrensache.«
Er gibt Gertrud den Kaffeebecher zurück, bedankt sich und bittet, einen schönen Gruß an Herrn Schütz auszurichten. Dann verabschiedet er sich, halb beruhigt, halb besorgt. Einstweilen scheinen sie den Buben gut zu behandeln. Ob das so bleiben wird, wenn erst eine Stiefmutter auf dem Hof ist, wird sich herausstellen. Er überlegt kurz, ob er versuchen soll, mit Helga Schütz zu sprechen, aber er weiß nicht recht, was er ihr sagen könnte. Kann man einer Mutter, die ihr Kind liebt, klarmachen, dass sie dem Sohn mit dieser Liebe vielleicht keinen Gefallen tut? Dass sie besser fortgehen sollte, damit der Bub zur Ruhe kommt und nicht hin- und hergerissen wird? Ach, er ist ja selbst nicht sicher, ob er mit seiner Ansicht recht hat oder ganz danebenliegt, wie kann er sich da anmaßen, einen Rat zu geben? Und außerdem würde ihn die Karin Guckes gar nicht hinauf zur Helga Schütz lassen, weil Männerbesuche auf den Gastzimmern verboten sind.
Wie er am Dorfladen vorbeikommt, fällt ihm ein, dass er Zucker und Malzkaffee kaufen könnte, weil seine Vorräte zur Neige gehen, und er steigt die Stufen zum Laden hinauf. Drinnen ist es sehr still, keine einzige Kundin hat sich eingefunden, und auch hinter dem Ladentisch ist niemand zu sehen. Einzig die Sommerfliegen tanzen beim Schaufenster einen vielstimmig summenden Reigen.
»Frau Haller?«
Hinten in der Küche regt es sich, er hört Friedas Stimme aus dem oberen Geschoss.
»Ich geh schon …«
Sie schaut rosig und erhitzt aus, als sie nun hinter den Ladentisch tritt, die aufgesteckte Frisur ist verrutscht, dunkle glänzende Löckchen ringeln sich über die linke Schulter.
»Was kann ich Ihnen Gutes bringen?«, fragt sie und lächelt ihn an.
»Ein Viertelpfund Zucker und eine Tüte Malzkaffee hätt ich gern.«
Sie reißt eine Tüte von der grünen Holzschlange ab, die über dem Ladentisch hängt, und wiegt den Zucker ab. Großzügig, sie gibt eine ganze Schaufel mehr in die Tüte.
»Hast du schon ein wenig in dem Afrikabuch gelesen?«, erkundigt er sich.
»Und wie!«, ruft sie und faltet die Tüte zu. »Ich laufe gerade durch den Urwald auf der Suche nach den rauchenden Vulkankegeln. Da droben in der Kammer ist es so heiß, da braucht’s net viel Fantasie, um sich eine Expedition durch Afrika vorzustellen.«
Er freut sich, dass er wohl das Rechte getroffen hat, und meint, sie könne das Buch ruhig bis zum Ende der Ferien behalten.
»Gar so lang werd ich nicht brauchen«, sagt sie und langt eine Tüte Malzkaffee vom Regal herunter. »Da ist vieles drin, was langweilig ist. Was sie für Instrumente dabeihaben und wie sie das Land vermessen und so … Aber die Ida wird’s wohl interessieren. Darf ich ihr das Buch geben, wenn ich fertig bin?«
»Aber sicher, gern. Sie soll es mir zurückbringen, wenn sie es ausgelesen hat.«
Also wird sie wohl morgen oder übermorgen wieder über Langeweile klagen. Wie schade. Er muss sich etwas anderes ausdenken.
»Wie geht’s der Hand? Tu sicher weh, oder?«, fragt sie und schaut ihn mitfühlend an.
»Ein wenig«, gibt er zu. »Aber das geht vorbei.«
Es gefällt ihm, dass sie besorgt um ihn ist.
»Können Sie die Finger bewegen?«
»Aber ja. Alle fünf.«
»Dann ist’s net so schlimm … Das macht dann eine Mark und zehn Pfennige.«
»Das musst du leider anschreiben, weil ich mein Portemonnaie nicht dabeihab.«
»Macht nichts …«
Sie zieht die Schublade auf, in der die Mutter das »Schuldenbüchlein« aufbewahrt, und sucht den Bleistift.
»Drüben sitzt der Sirius Engelke bei der Mutter«, erklärt sie flüsternd. »Und die Herta sitzt auch dabei, weil sie auf einmal ihr Herz für den Sirius mit seinen Kurzwaren und den bunten Haarspangen entdeckt hat. Ganz glänzende Augen hat sie, und der Sirius schaut auch immer zu ihr hin und plinkert so komisch mit den Augendeckeln. Man könnte glatt eine Theaterszene draus machen!«
Er lacht herzlich und meint, das passe wohl eher in ein modernes Stück.
»Romantik zwischen Sockenhaltern und Selbstbindern«, witzelt sie. »Liebesleben auf dem Dorf. Ein modernes Lustspiel in drei Akten.«
»Mit einem glücklich verlobten Paar am Schluss«, steuert er bei.
»Natürlich. Aber vorher kommt das große Drama.«
»Die Eltern sind dagegen!«
»Zu abgedroschen!« Sie schüttelt den Kopf und dreht die Augen nachdenklich zur Decke. »Er hat eine dunkle Vergangenheit!«, meint sie dann mit tief verstellter, hauchender Stimme. »Er wurde in ein Verbrechen hineingezogen. Es hat Tote gegeben!«
»Dann ist es aber kein Lustspiel mehr, sondern ein Kriminalstück!«, findet er.
»Stimmt. Dann ist er vielleicht bloß zu schüchtern und traut sich nichts …«
»Das soll’s geben …«, stimmt er ihr zu.
Sie schaut ihn mit einem seltsamen Blick an, sodass er ganz unsicher wird. Macht sie sich lustig? Oder denkt sie nur über etwas nach? In ihren Mundwinkeln steht ein kleines Lächeln.
»Vielleicht solltest du ein Theaterstück schreiben«, schlägt er vor, um sich von seiner Befangenheit zu befreien. »Das hast du doch früher schon getan.«
»Genau das hab ich auch gerade gedacht«, sagt sie und strahlt ihn an. »Was für eine grandiose Idee. Darauf hätt ich längst kommen können!«
»Besser spät als nie!«
Er hat ins Schwarze getroffen, das sieht er ihr an. Sie wirft das Büchlein in die Schublade, den Bleistift hinterher, und hat es eilig, hinauf in ihre Kammer zu laufen.
»Morgen schau ich vorbei und erzähl, was ich mir ausgedacht hab«, verspricht sie aufgeregt.
»Da bin ich gespannt!«
Malzkaffee und Zuckertüte in der rechten Hand balancierend, kehrt er zum Schulhaus zurück. Er ist hochzufrieden, beinahe glücklich. Und die Hand tut auch kaum noch weh.