Kapitel 6
Während der Rückfahrt zur Villa haben sie von anderen Dingen gesprochen. Richard hat sich zuversichtlich über die Entwicklung der deutschen Wirtschaft geäußert, die nach dem Dawes-Plan nicht mehr von unzumutbaren Reparationen belastet werden wird, da die Zahlungen nun an die wirtschaftliche Lage gekoppelt sind. Sie haben auch über die Reichspräsidentenwahl diskutiert, die nach den überraschenden Tod Friedrich Eberts im Februar nun endlich ansteht, und sich gefragt, ob Paul von Hindenburg der richtige Mann für diese große Aufgabe sei. Ilse hat engagiert und kritisch argumentiert, wie sie es immer tut, wenn sie sich unterhalten, aber zugleich hat sie das Gefühl gehabt, auf der Flucht zu sein, mit Eifer über etwas hinwegzureden, was ihr Inneres in wilden Aufruhr versetzt hat. Hat er sie wirklich gefragt, ob sie ihn heiraten will? Oder war das nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie? Eigentlich kann es gar nicht sein – warum sollte Richard Goldstein, dieser umschwärmte, gut aussehende Mann, ausgerechnet sie, Ilse Küpper, so etwas fragen. Hat er sich einen Scherz mit ihr erlaubt? Aber nein – solche boshaften Scherze passen nicht zu ihm. Vielleicht war es wirklich nur ein unseliges Missverständnis.
Doch als sie vor der Villa aus dem Automobil steigen und Ilse die Haustür aufschließt, steht er neben ihr und legt ihr die Hand auf den Arm. »Sie haben alle Zeit der Welt, Ilse«, sagt er leise mit seiner weichen Stimme. »Aber Sie wissen auch, dass ich auf Ihre Antwort warte, nicht wahr?«
Es durchfährt sie heiß. Nein, es war kein Missverständnis. Keine Traumvorstellung. Kein Scherz. Sie ist so durcheinander, dass sie nur hastig murmelt: »Ja, natürlich …«
Dann dreht sie sich um, geht hinein und verschließt die Haustür umständlich von innen, hängt den Schlüsselbund an den Haken und ist sehr froh, dass er inzwischen die Treppen in den zweiten Stock hinaufgestiegen ist.
»Gute Nacht, Ilse«, hört sie seine Stimme von oben. »Schlafen Sie wohl!«
»Gute Nacht …«
Sie bleibt noch einen Moment im Flur stehen, wie gelähmt von dem Gedanken, einen ernst gemeinten Heiratsantrag bekommen zu haben. Warum fragt ein Mann eine Frau, ob sie ihn heiraten will? Kann es sein, dass er sie … liebt? Für einen kurzen Augenblick bricht der Schutzschild in ihrem Inneren auseinander, und sie lässt Gefühle zu, die sie nicht einmal sich selbst eingestanden hat. Ja, sie liebt ihn. Seit ihrer ersten Begegnung haben seine dunklen Augen sie im Traum verfolgt, sie sehnt sich danach, in seinen Armen zu liegen, seine Küsse zu spüren, ihn zu beschützen und zu umsorgen, während er sie in seine wundervolle Welt der Künste und der Schönheit entführt.
Gleich darauf gibt sie sich einen Ruck und schämt sich für solch kitschige Träume, die zu einer Fünfzehnjährigen passen, aber doch nicht zu ihr, die schon an die vierzig ist und das Leben kennengelernt hat. Das Leben und die Männer. Sie schaltet das Flurlicht aus und geht in ihre Räume im ersten Stock, benutzt das Badezimmer und zieht sich in ihrem Schlafzimmer aus. Zum ersten Mal, seitdem Richard Goldstein in der Villa wohnt, ist sie versucht, ihr Schlafzimmer abzuschließen.
»Mein Gott, wie lächerlich ich mich anstelle«, sagt sie zu sich selbst. »Er wird ja wohl nicht in der Nacht herunterkommen, um mich im Schlafzimmer zu besuchen …«
Natürlich nicht. Dazu ist er viel zu wohlerzogen. Sie sitzt im Bett, und plötzlich überkommt sie die Erkenntnis, dass Richard Goldstein kaum je versucht hat, ihr körperlich näher zu kommen. Sie haben zwar oft dicht nebeneinander im Automobil gesessen, und – ja, das ist wahr – manchmal hat er den Arm auf das Sitzpolster hinter ihrem Kopf gelegt. Hat er sie dabei berührt? Nein, eigentlich nicht. Nur einmal, als sie für ein paar Tage voneinander Abschied genommen haben, weil er in Frankfurt etwas zu erledigen hatte, da hat er den Arm auf ihre Schulter gelegt, als wollte er sie an sich ziehen. Aber sie hat wie eine prüde alte Jungfer reagiert, und vermutlich hat er es deshalb nie wieder gewagt. Wenn er sich also bisher sehr zurückhaltend gezeigt hat, dann hat sie sich das selbst zuzuschreiben. Aber würde ein Mann, der eine Frau erobern will, sich so leicht entmutigen lassen? Ist Richard nicht in der Liebe erfahren und hätte Wege finden können, sie zu verführen, wenn er es nur ernsthaft gewollt hätte? Nein – es kann nur so sein, dass er kein wirkliches körperliches Interesse an ihr hat. Warum auch? Sie ist weder jung noch reizvoll, sie gibt sich burschikos, betont die kameradschaftliche Freundschaft, und wenn sie ihm imponieren will, dann erzählt sie von ihrem guten Geschäftssinn und vom Gedeihen ihrer Fabrik.
Warum also will er sie heiraten? Die Antwort ist klar: Er beabsichtigt eine »Vernunftehe«. Eine Verbindung, die nicht auf romantischer Liebe, sondern auf klugen, praktischen Erwägungen beruht. Auch ihr Vater hatte bei seinen Bemühungen, die Tochter »an den Mann zu bringen«, keine Liebesheirat im Sinn. Ganz im Gegenteil, es ging darum, durch eine familiäre Verbindung wichtige Geschäftspartner für seine Fabrik zu gewinnen. Liebe wäre dabei zwar nicht hinderlich gewesen, allerdings nur dann, wenn der Auserwählte Gnade vor den väterlichen Augen gefunden hätte. Nun – es hat sich kein Kandidat für Fräulein Ilse Küpper finden lassen, daher ist sie seinerzeit um die anvisierte »Vernunftehe« herumgekommen.
Also: Warum sollte sie sich ausgerechnet jetzt darauf einlassen? Leben sie und Richard Goldstein nicht seit über einem Jahr in kameradschaftlicher Freundschaft miteinander in der Villa? Sitzen sie nicht beinahe jeden Abend zusammen, um sich bei einem Glas Wein auszutauschen, die Ansicht des anderen zu hören, darüber nachzudenken, gute Ratschläge zu erteilen? Wozu sollen sie heiraten, wenn es nur um ein angenehmes, einvernehmliches Miteinander geht? Das haben sie doch schon jetzt!
Sie atmet tief durch und gibt die sitzende Haltung auf, um sich bequem im Bett auszustrecken. Wie konnte sie sich nur so verwirren lassen! Mit zwei Sätzen hat er es geschafft, dass sie alle Lebenserfahrung über Bord geworfen und sich höchst albernen, romantischen Gefühlsduseleien hingegeben hat. Nein, sie ist nicht bereit, diesen überraschenden Antrag anzunehmen. Das verlangt schon ihre Selbstachtung. Aber es gibt auch andere Gründe, eine solche Ehe nicht einzugehen. Vor allem seine Frau Mama, der sie am heutigen Abend vermutlich als zukünftige Verlobte präsentiert wurde. Hat er etwa darauf gehofft, seine Mutter würde seine Wahl billigen? Das hat sie mitnichten getan – ganz im Gegenteil. Sie hat nur allzu deutlich gezeigt, dass sie Frau Küpper nicht akzeptieren wird. Nun – auch Ilse Küpper legt keinen Wert auf Frau Goldstein als künftige Schwiegermutter.
Und ihre eigene Familie? Ihr Vater hätte vermutlich nichts gegen eine Heirat mit einem Bankier einzuwenden gehabt, selbst wenn es ein jüdischer Bankier ist. Ihre Mutter schon. Und ihr Bruder Josef? Ach, du liebe Zeit, sie hört innerlich schon seinen entsetzten Ausruf:
»Das ist ein Jud! Der schmiert dir Honig ums Maul, luchst dir die Fabrik ab, und dann hast du ihn gesehen!«
Das ist natürlich vollkommener Unsinn, aber es wäre nicht das erste Mal, dass Josef solche Reden von sich gibt. Und seine Irma bläst ins gleiche Horn. Wobei sie nichts dagegen haben, wohlhabende jüdische Gäste zu bewirten und ihnen für die französischen Winzigkeiten auf den Tellern saftige Preise abzunehmen.
Ilse greift hinüber zum Nachttisch, um die Lampe auszuschalten. Sie ist wieder mit sich im Reinen, zumindest glaubt sie, es zu sein. Eine kleine Unruhe ist noch geblieben, eine Wehmut, die ihr Herz beschwert, die sich aber bis morgen früh verzogen haben wird. Sie legt sich auf die Seite, schiebt das Kopfkissen zurecht und überlegt, wie und wann sie es ihm am besten sagen wird. Es wäre nicht anständig, ihn lange warten zu lassen. Schließlich hat er ihr einen ehrlich gemeinten Vorschlag gemacht und hat ein Recht auf eine ebenso ehrliche Antwort. Sie wird ihm für seinen Antrag danken, der ja von Freundschaft und Sympathie zeugt, und ihre Gründe für die Ablehnung in aller Ruhe darlegen. Im Grunde kann er ihr dankbar sein, dass sie ihn von einem Schritt abgehalten hat, der sein Verhältnis zu seiner Mutter entscheidend trüben würde.
Am Morgen erwacht sie mit einem flauen Gefühl im Magen, wie es sie stets befällt, wenn eine unangenehme Angelegenheit bevorsteht. Nein, so einfach, wie sie sich diese Aussprache vorgestellt hat, wird es wohl nicht werden. Sie kennt ihn doch – er kann ungemein überzeugend sein, ist ein gewiefter Taktiker und weiß Emotionen einzusetzen, die sie in Schwierigkeiten bringen werden. Und sie will sich auf keinen Fall seine Freundschaft verscherzen, also muss sie diplomatisch vorgehen. Was ihr jedoch nicht gegeben ist – sie sagt ihre Meinung meistens geradeheraus.
Sie schiebt es vor sich her – erst einmal wird sie frühstücken und hinüber in die Fabrik gehen, wo eine Menge Arbeit auf sie wartet. Heute müssen die Maschinen in der neuen Halle installiert werden, da muss sie den Transport überwachen und dafür sorgen, dass der Plan, den sie von der Aufstellung der Anlagen gezeichnet hat, genauestens eingehalten wird. Es kommt auf den Zentimeter an, denn sie hat verschiedene Gestelle und Tische anfertigen lassen, die den Arbeitsablauf erleichtern und vor allem beschleunigen sollen, die jedoch nur dann funktionieren, wenn sie exakt an Ort und Stelle eingepasst werden.
Während sie im Bad ist, lauscht sie auf die Geräusche im Haus. Unten in der Küche wirkt Carla, die ihr Frühstück vorbereitet. Oben regt sich nichts. Gut so. Richard hat die Angewohnheit, spät aufzustehen, um sich dann ausgeschlafen und voller Tatendrang an seine Staffelei zu begeben.
Beim Frühstück, das sie gemeinsam mit Carla im Esszimmer einnimmt, ist sie so zerstreut, dass sie sich zweimal Zucker in den Kaffee gibt.
»Haben Sie auch so schlecht geschlafen, gnädige Frau?«, fragt Carla mitleidig. »Ich hab heut Nacht ja kaum ein Auge zugetan.«
»Wie? … Nein, ich habe gut und fest geschlafen …«
»Das wundert mich aber. Wo der Herr Goldstein doch die halbe Nacht herumgelaufen ist. Ich hab immer seine Schritte gehört. Am Schluss hab ich mitgezählt. Zehn Schritte vom Fenstererker zur Wand, dann drei Schritte zum Sessel. Aber da ist er net lang geblieben, gleich ist er wieder aufgesprungen und sieben Schritte zum Fenster gelaufen. Wieder und immer wieder. Man konnt schier rammdösig davon werden …«
»Gib mir doch bitte die Marmelade, Carla …«
»Der wird doch net krank sein, gnädige Frau? Sollt ich vielleicht einmal hinaufgehen und fragen, ob er etwas benötigt?«
»Unsinn, Carla. Er wird noch schlafen, da solltest du ihn auf keinen Fall stören. Und falls er etwas benötigen sollte, wird er sich schon bei dir melden.«
Carla nickt einsichtig und bestreicht sich ein Brot mit Himbeermarmelade. Aber dann muss sie ihrem Herzen doch Luft machen.
»Sie haben doch net etwa gestritten, Sie und der Herr Goldstein?«, fragt sie besorgt. »Ach, Frau Küpper, das wär jammerschad, wo er doch so ein feiner Mensch ist …«
Langsam geht ihr Carla auf die Nerven mit ihrer Fragerei. Gut – er hat in der Nacht nicht schlafen können. Womöglich hat er seinen Antrag schon bereut und über die Folgen nachgedacht. Nun – sie wird ihm heute Abend entgegenkommen.
Seltsamerweise erleichtert sie diese Vermutung nicht; stattdessen verspürt sie Enttäuschung, was ihr unverständlich ist und aufs Gemüt schlägt. Wenn diese dumme Geschichte nur bald erledigt ist, schließlich braucht sie für ihre Arbeit einen klaren Kopf.
In der alten Halle sind die Arbeiter beschäftigt, die ersten Maschinen abzumontieren. Die Geräte werden auf einen speziell dafür ausgeliehenen Rollwagen gehoben und über den Hof in die neue Halle transportiert. Wie befürchtet stellen sich Probleme ein. Beim Lösen einer Drehbank aus der Bodenverankerung zerbricht ein Schraubenkopf, und die neue elektrische Sägemaschine kippt um ein Haar vom Rollwagen und muss von mehreren Männern gestützt werden, um heil an ihrem neuen Platz anzukommen. Zu allem Überfluss hat Richard Bommel zwei Regale miteinander vertauscht, sodass Ilse zunächst ratlos davorsteht und gar nicht begreifen kann, wieso die Abstände nicht stimmen.
Um die Mittagszeit sind alle verschwitzt und staubbedeckt, man sitzt in der alten Halle auf Kisten und Hockern zusammen, um das Mittagessen einzunehmen, das Carla für die Belegschaft zubereitet hat. Angesichts der besonderen Anstrengungen gibt es heute verlängertes Gulasch mit Stampfkartoffeln und eingekochtem Apfelmus. Für die Männer hat Ilse zwei Kästen Bier heranbringen lassen, für die Arbeiterinnen, die den Transport des »Kleinkrams« wie Werkzeuge und andere Utensilien zu besorgen haben, steht echter Bohnenkaffee mit Milch und Zucker bereit. Ilse selbst bekommt keinen Bissen herunter. Sie nimmt einen Becher Kaffee mit in die neue Halle, um dort noch einmal alles genau nachzuprüfen. Wieso hat sie die Aufstellung der Tische und Regale ausgerechnet Richard Bommel anvertraut? Sie weiß doch, dass der nichts richtig machen kann. Nun sind sie hinter dem Zeitplan zurück, und dabei hat sie gehofft, die Produktion der gerahmten Spiegel spätestens morgen Mittag wieder aufnehmen zu können!
Ausgerechnet jetzt gesellt sich Oskar Michalski zu ihr und meint, der Umzug würde bisher ja recht gut klappen.
»Gut?«, fragt sie nervös. »Nichts als Probleme gibt es! Wir können froh sein, wenn wir bis heute Abend wenigstens alle Maschinen hier stehen haben. Wann wir sie zum Laufen kriegen, steht noch in den Sternen.«
Früher besaß die Fabrik eine eigene Stromversorgung, das war ein Generator, der mit der Wasserkraft des Baches gespeist wurde. Inzwischen ist die Fabrik an die Überlandzentrale angeschlossen, die einen permanenten Wechselstrom garantiert. Trotzdem gibt es immer wieder Schwierigkeiten, weil einige der älteren Maschinen mit dem Stromanschluss nicht zurechtkommen.
»Die kriegen wir schon angeschlossen, Frau Küpper«, beruhigt er sie. »Bis morgen Mittag läuft hier alles wieder astrein.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr!«
Sie wendet sich ab, um in das neue Büro zu gehen, wo sich die Kartons bis zur Decke stapeln. Oskar folgt ihr, denn er hat noch etwas auf dem Herzen.
»Ach, Frau Küpper … Ich wollte noch mal auf meine Idee zurückkommen. Wir hatten neulich einmal kurz darüber gesprochen.«
Diese verrückte Geschichte mit dem Grundstück, das er von ihr haben will, um dort ein Haus für sich und seine Helga zu bauen. Ilse ist ausgerechnet jetzt wenig geneigt, darüber zu sprechen.
»Ich sagte Ihnen ja, dass ich darüber nachdenken muss, Herr Michalski …«
»Das weiß ich doch, Frau Küpper. Ich hab nur gedacht, dass ich dort vielleicht Schafe halten könnte. Die würden auch die Wiesen kurz halten, wenn Sie wieder einen Park anlegen lassen. Da könnt man doch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, netwahr?«
»Vielleicht …«, meint sie und öffnet einen der beschrifteten Kartons, um die Geschäftsvorgänge mit der Firma herauszunehmen, die die Spiegelgläser für die Rahmen liefert. Wo ist die Mappe denn? Sie hatte sie doch obenauf gelegt, um sie gleich als Erstes zur Hand zu haben!
»Und dann hab ich mir noch überlegt, dass Sie die Helga vielleicht in der Fabrik beschäftigen könnten. Sie hat geschickte Finger, die Helga. Nähen kann sie und gewiss auch zeichnen. Es könnt auch sein, dass sie zur Sekretärin im Büro taugt …«
Jetzt reißt Ilse endgültig der Geduldsfaden. Die verdammte Akte ist nicht zu finden, das ist eine Katastrophe, weil sie gleich morgen dort anrufen und eine neue Bestellung aufgeben will. Die Kartei ist auch noch nicht ausgepackt, deshalb hat sie keine Telefonnummer, und jetzt bedrängt sie dieser Mensch mit seinen irrwitzigen Plänen, die sie nur Geld kosten und ihr Ärger einbringen werden.
»Wissen Sie was, Herr Michalski«, fährt sie ihn an. »Lassen Sie mich mit diesem Unsinn in Ruhe. Ich verkaufe kein Land und halte auch nichts davon, wenn jemand sich in Schulden stürzt, nur um einer Frau zu gefallen, die mit ihm ein böses Spiel treibt!«
Sie wühlt weiter in dem Karton herum, ohne sich um die Wirkung ihrer Worte zu kümmern. Als sie die gesuchte Akte endlich unter einem Stück Packpapier entdeckt, das sie selbst zum Schutz der wichtigen Unterlagen dort hineingelegt hat, tut es ihr schon leid, ihn so hart abgefertigt zu haben. Doch als sie sich nach ihm umwendet, um ein paar erklärende Worte zu sagen, hat er die Halle verlassen.
Ich rede später mit ihm, denkt sie. Zuerst geht es darum, den Umzug so weit wie möglich voranzutreiben.
Drüben in der alten Halle haben die Arbeiter ihre Mittagspause beendet; sie stellt mit raschem Blick fest, dass die beiden Kästen bereits bis auf zwei Flaschen geleert sind. Na dann! Tatsächlich geht es nun fast ohne Schwierigkeiten voran. Während die letzten Maschinen und Gerätschaften hinübergebracht werden, beginnen Ignatz Krum, Oskar Michalski und Helmut Kettler – einer der neu eingestellten Leute –, die Sägemaschinen und die Drehbank wieder an das elektrische Stromnetz anzuschließen. Die alte Drehbank macht Schwierigkeiten, sie will nicht laufen, vermutlich ist ein Wackler in der Leitung.
»Da gehört was Neues angeschafft, Frau Küpper«, sagt Kettler, der vor dem Krieg als Ingenieur in einer Fabrik in Frankfurt gearbeitet hat und sich mit diesen Dingen auskennt. »Das alte Ding mag den Strom vom Kraftwerk nicht. Über kurz oder lang gibt die sowieso den Geist auf.«
Oskar hat gar nicht hingehört, sondern sich hinter die Drehbank geklemmt, um das Kabel auf eine geknickte oder gebrochene Stelle zu untersuchen.
»Gib mal das Isolierband, Helmut«, sagt er und streckt die Hand aus. »Ich glaub, ich hab’s gefun…«
Dann hört man ihn aufschreien.
»Was ist los?«, fragt Helmut. »Hast du eine gewischt bekommen?«
Oskar antwortet nicht. Er bleibt steif und unbeweglich hinter der Maschine hocken, als wäre er dort eingeklemmt.
»Strom aus!«, brüllt Helmut, der endlich den Ernst der Lage begriffen hat. Er stößt zwei Kollegen grob beiseite, die herbeilaufen und Oskar hinter der Maschine hervorziehen wollen.
»Nicht anfassen, ihr Deppen. Sonst hängt ihr mit dran. Strom aus, verdammt noch mal!«
Ilse reagiert als Erste, sie läuft zum Stromkasten, der neben dem Büro in der Wand eingelassen ist, und drückt den breiten roten Hebel herunter. Zwei Sägemaschinen, die gerade zum Laufen gebracht worden waren, stellen mit einem langsam absinkenden Summton ihre Tätigkeit ein. Von draußen kommen weitere Arbeiter in die Halle gelaufen, umringen die Drehbank und starren entsetzt auf Oskar Michalskis leblosen Körper, den Ignatz Krum und Helmut Kettler jetzt hinter der Maschine hervorziehen.
»Ist der tot?«, hört Ilse jemanden flüstern.
»Den hat’s bös erwischt.«
»Der braucht einen Arzt!«
»Eher einen Platz auf dem Friedhof!«
Ilse stürzt herbei, kniet neben Oskar auf dem Boden und reibt seine Schläfen. Als das nicht helfen will, verpasst sie ihm mehrere Ohrfeigen.
»Herr Michalski! Oskar! Machen Sie doch nicht solche Geschichten!«, ruft sie verzweifelt. »Das können Sie der Helga doch nicht antun!«
Seine Lider zittern, der Mund zuckt. Endlich schlägt er die Augen auf und schaut sie verständnislos an.
»Was … Wie …«, murmelt er mit schwerer Zunge.
»Sie haben einen Stromschlag bekommen, Herr Michalski«, sagt sie. »Bleiben Sie liegen, wir holen einen Arzt.«
Sie schaut sich um. Julius Offenbach steht schon an der Hallentür.
»Ich lauf rasch hinunter zu dem Dorfheiler«, ruft er ihr zu.
»Was denn, Dorfheiler!«, regt sich Ignatz Krum auf. »Der braucht einen anständigen Doktor und keinen Quacksalber!«
»Am besten schaffen wir ihn in die Klinik«, meint Helmut Kettler. »So ein Ding mit voller Wucht – das ist nicht ohne!«
Oskar Michalski setzt sich langsam und vorsichtig auf. Er ist immer noch benommen und scheint die Arme nicht richtig bewegen zu können. Aber er hat begriffen, was mit ihm geschehen ist.
»Ach was«, sagt er. »Ich brauch keinen Doktor. Es geht schon wieder. Muss nur einen Augenblick ausruhen …«
Er atmet unnatürlich schnell, aber er scheint sich jetzt besser zu fühlen, steht auf und schafft es, sich auf den Beinen zu halten.
»So ein kleiner Schubs macht mir nichts aus«, sagt er zu Ilse, die ihn mit besorgten Augen beobachtet. Als er schwankt, macht sie eine unwillkürliche Bewegung, um ihn zu stützen, doch er stößt ihren Arm beiseite.
»Brauch keine Hilfe. Von niemandem.«
Er geht zwischen den Umstehenden hindurch auf den Hof hinaus und blinzelt in die Sonne. Dann nimmt er den Weg hinunter zum Parkgelände, wo jetzt Roggen und Gemüse wachsen, und verschwindet im Gartenhäuschen.
Ratlos bleiben die anderen zurück. Ilse geht hinüber in die Villa und alarmiert Carla, die mit dem Abwasch der Teller und Bestecke beschäftigt ist.
»Schauen Sie gleich mal im Gartenhäuschen nach Herrn Michalski, Carla. Er hat einen Stromschlag bekommen.«
Carla lässt den Teller, den sie gerade bearbeitet, zurück in die Schüssel fallen. »Um Gottes willen, Frau Küpper! Er wird doch net dran sterben?«
»Reden Sie keinen Unsinn!«, schimpft Ilse. »Gehen Sie hinüber und fragen Sie, ob er etwas braucht. Und wenn es ihm schlecht geht, sagen Sie mir sofort Bescheid. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Frau Küpper … Ach, du liebe Zeit! Was für ein Tag! Ein Unglück jagt das nächste …«
Ilse läuft zurück in die Fabrik, beruhigt die besorgten Gemüter und ordnet an, dass die Arbeit weitergeht. Die letzten Kisten und Kartons werden in die neue Halle getragen und ausgeräumt, während Helmut Kettler sich mit vermehrter Vorsicht daranmacht, die Maschinen an den Strom anzuschließen. Gegen vier Uhr erscheint Oskar wieder auf dem Fabrikgelände. Er ist wortkarg, behauptet, es ginge ihm gut, und beschäftigt sich mit der Drehbank, die beim Transport gelitten hat und defekt ist. Er schraubt sie auseinander, sucht nach Ersatzteilen, biegt sie mit der Zange zurecht und arbeitet auch dann noch verbissen weiter, als die Kollegen längst Feierabend gemacht haben. Ilse räumt Kartons im Büro aus und schaut immer wieder hinüber in die Halle, wo er herumwerkelt. Schließlich geht sie zu ihm, um ihn zu überreden, Schluss zu machen.
»Das hat Zeit bis morgen, Herr Michalski. Sie sollten sich jetzt besser ausruhen …«
Er steht auf, ohne zu antworten, spannt ein Stück Holz in die Drehbank und betätigt die Schaltung. Die Maschine arbeitet. Zufrieden nickt er und stellt das Gerät wieder ab.
»Läuft«, sagt er, ohne Ilse anzusehen.
»Hören Sie, Herr Michalski. Ich war vorhin sehr schroff, das tut mir leid. Wir sollten die Sache noch einmal in Ruhe …«
»Sie haben gesagt, was zu sagen war, und ich hab’s gehört.«
Er blickt ihr mit unbeweglicher Miene ins Gesicht, dann wünscht er »Schönen Abend« und geht davon.
Er ist beleidigt, denkt Ilse. Ich habe mich entschuldigt, aber der Herr hat den Motzkopf aufgesetzt und lässt mich im Regen stehen. Ärgerlich schließt sie das Büro ab, macht die Runde durch die neue Halle und verschließt auch dort die Türen. Eigentlich kann sie zufrieden sein, morgen wird alles nach Plan weitergehen, auch die Kundenkartei steht wieder auf ihrem Büroregal. Trotzdem plagt sie das Gefühl, versagt zu haben. Sie hat ihre Nerven nicht im Griff gehabt und sich zu einem völlig überflüssigen Zornesausbruch verleiten lassen. Genau das, was sie an ihrem Vater und auch an Josef so gehasst hat. Was ist heute nur mit ihr los?
Beim Abendbrot mit Carla sitzt sie wortkarg am Tisch, trinkt Tee und bringt mit Mühe eine Scheibe Brot mit Butter herunter.
»Sie sind doch net etwa krank, Frau Küpper?«
»Ich bin müde, Carla. Es war ein langer Tag.«
»Ein furchtbarer Tag ist’s gewesen, Frau Küpper. Gut, dass er vorbei ist!«
Ilse weiß, dass dieser Tag noch nicht zu seinem Ende gekommen ist. Ihr steht noch eine schwierige Aussprache bevor, vor der sie sich nicht drücken will. Nein, sie ist nicht feige, sie geht auf die Probleme zu und stellt sich ihnen. Richard wartet oben auf sie, wie jeden Abend hat er einen Wein zurechtgestellt, er wird sie fragen, wie ihr Tag war, und ihr zeigen, woran er heute gearbeitet hat. Sie wird sich zusammennehmen und ihm ihren Entschluss mit freundlicher, ruhiger Gelassenheit erläutern.
Sie findet ihn vor seiner Staffelei stehend, bemerkt jedoch sofort, dass er nicht gemalt hat, sondern sein Werk nur nachdenklich betrachtet.
»Da sind Sie ja«, sagt er. »Ich hatte schon gefürchtet, dass Sie nach diesem harten Tag gleich zu Bett gehen würden.«
»Aber nein. Gar so schlimm ist es nun doch nicht gewesen …«
Als er sich zu ihr umwendet, sieht sie die Schatten unter seinen Augen. Der mühsam zusammengeraffte Mut sinkt ihr. Auf einmal begreift sie, dass er ihre Antwort mit großer Anspannung erwartet und sie ihn möglicherweise verletzen wird.
»Setzen Sie sich doch, Ilse«, bittet er sie. »Ich habe einen Moselwein für uns kaltgestellt. Trocken, aber dennoch leicht und fruchtig …«
Sie lässt sich in einem der Sessel nieder und überlegt fieberhaft, wie sie beginnen soll. Sie ist gewohnt, gerade auf ihr Ziel loszusteuern, aber genau das wäre hier sicher der falsche Weg.
Er reicht ihr das Glas und setzt sich zu ihr, trinkt ihr zu, und sie sieht seine dunklen Augen, die sie über den Rand des Glases hinweg aufmerksam betrachten. Der Wein ist angenehm kühl, nach einem Schluck fühlt sie sich neu ermutigt.
»Lieber Freund, ich habe gründlich nachgedacht und möchte Ihnen meinen Entschluss mitteilen …«
»Nein!«, unterbricht er sie energisch.
Sie hält irritiert inne und verstummt. Nein? Wie kann er einfach »Nein« sagen? Sie will ihm etwas erklären, und er fällt ihr ins Wort.
»Nicht heute«, fügt er sanft hinzu. »Bitte nicht, Ilse.«
»Wieso nicht?«, fragt sie stirnrunzelnd.
»Es ist der falsche Zeitpunkt. Lassen Sie uns heute beieinandersitzen und einfach nur den Abend genießen. Warten Sie, ich habe eine neue Schallplatte gekauft, die wird Ihnen gefallen …«
Er besitzt ein Grammofon und mehrere Platten, die er allerdings nur selten hört, in ihrer Gegenwart bisher gar nicht.
»Es ist eine Sinfonie von Franz Schubert«, verkündet er, während er am Grammofon hantiert, die Platte auflegt, den Trichter in ihre Richtung dreht.
Er hat Angst, denkt sie verblüfft. Er schiebt meine Antwort vor sich her, will sie nicht hören. Warum? Hat er mir nicht erklärt, dass er darauf wartet?
Eine Melodie steigt auf, von Hörnern geblasen, das Orchester nimmt sie auf, variiert sie, vermischt sie mit anderen Motiven. Es klingt schön: weich und doch kraftvoll, beglückend und wehmütig. Man kann darin versinken, vor allem, wenn man dazu diesen Moselwein trinkt. Sie überlässt sich für einen Moment der angenehmen, lösenden Wirkung, legt den Kopf zurück und schließt die Augen.
»Eine große, wunderbare Musik«, hört sie ihn leise sagen.
Sie schlägt die Augen auf und bemerkt, dass er neben ihrem Sessel steht. Er stützt die Arme auf die Rückenlehne und beugt sich zu ihr herunter. Sie bewegt sich nicht. Was wird er tun? Will er sie … verführen?
»Schubert hat eine merkwürdige Wirkung auf mich«, sagt er. »Er macht mich glücklich und traurig zugleich. Geht es Ihnen ähnlich?«
»Ich weiß es nicht … Vielleicht wirkt es auf mich eher entspannend … Sie wissen ja, dass ich nicht so gefühlvoll auf Musik reagiere wie Sie. Ich bin eine Realistin.«
Sie hört ihn leise lachen. Nein, er will sie nicht verführen. Er will nur ein wenig über Musik plaudern. Sie ist erleichtert. Nein, enttäuscht ist sie nicht. Warum auch? Sie weiß ja, was sie erwarten darf und was nicht.
»Sind Sie in Ihrem Leben einmal wirklich glücklich gewesen?«, hört sie ihn fragen.
Was für eine Frage! Sie denkt nach, aber es will ihr kein großer Glücksmoment einfallen.
»Vielleicht als Kind …«, redet sie sich heraus. »Und wie ist es mit Ihnen?«
Er schweigt einen Moment. Als er dann weiterspricht, ist seine Stimme leise und von großer Intensität.
»Ich bin sehr glücklich, Ilse! Weil ich liebe. Ich liebe diese Landschaft, diese Villa, die Freiheit und Geborgenheit, die ich hier genieße. Und die Quelle all dessen sind Sie.«
Noch schaut sie lächelnd zu ihm hinauf, weil er so überschwänglich ist und in seinen Augen kleine Lichter aufflammen. Dann erstarrt sie.
»Sie sind es, die mich glücklich macht, Ilse«, flüstert er. »Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen gestehe, dass ich Sie liebe?«
Sie hört diesen Satz und meint zugleich, in einem Film zu sein. Liebesgeständnisse gehörten ins Kino, nicht in ihr Leben. Sie sitzt steif und starr im Sessel und schaut ihn an, als habe sie nicht recht verstanden.
»Ich dachte mir schon, dass es Ihnen schwerfällt«, sagt er lächelnd.
Dann beugt er sich vor, und sie spürt seine Lippen auf ihrer Wange. Die Berührung ist flüchtig, eine kurze, zärtliche Liebkosung, die einen Hauch von Begehren in sich trägt. Es erschüttert sie so sehr, dass sie zu zittern beginnt.
»Und doch ist es die Wahrheit«, sagt er, bevor er aufsteht, um die Schallplatte umzudrehen.