Kapitel 10

Sie hat ein Verhältnis! Es ist so unwirklich, dass Ilse sich manchmal in den Arm kneifen muss, um festzustellen, ob sie nicht träumt. Sie, Ilse Küpper, die unattraktive Tochter des Fabrikanten Heinrich Küpper, das Mauerblümchen, das keiner der angepeilten Ehekandidaten haben wollte, das späte Mädchen, die alte Jungfer … Sie hat ein Liebesverhältnis mit einem charmanten, gut aussehenden Mann, der ihr sogar einen ernst gemeinten Antrag gemacht hat.

Und dabei hat sie sich sozusagen mit Händen und Füßen dagegen gewehrt! Alle Stacheln hat sie aufgestellt, um nur nicht wieder enttäuscht zu werden. Aber Richard Goldstein hat diese Burg aus Misstrauen und Trotz erobert, er hat ihr das Gefühl vermittelt, eine begehrenswerte Frau zu sein, und ihr Leben damit auf den Kopf gestellt.

Im Sturm hat er sie nicht genommen. Eher in vielen kleinen, vorsichtigen Anläufen, mit kluger Zurückhaltung und einer erstaunlichen Einsicht in ihre komplizierte Gefühlswelt, die sie so sorgsam vor ihm verborgen gehalten hat. Nach dem ersten flüchtigen Kuss ist an jenem Abend nicht viel passiert. Sie war wie betäubt, wollte diese unerwartete und heimlich so erhoffte Zärtlichkeit fast nicht wahrhaben, saß steif und starr auf ihrem Sessel und redete sich ein, es müsse eine Wahnvorstellung gewesen sein. Auch er tat, als sei nichts gewesen, setzte sich wieder zu ihr, und während sie die Schallplatte hörten, beobachtete er sie aufmerksam. Leise begann er dann ein Gespräch, goss ihr Wein ein, sie redeten von belanglosen Dingen, er lächelte hin und wieder, sie benahm sich fahrig, nervös, krampfhaft um freundliche Gelassenheit bemüht. Da es ihr nicht gelingen wollte, das Durcheinander ihrer Empfindungen zu verbergen, verabschiedete sie sich eilig, wünschte eine »Gute Nacht« und flüchtete die Treppe hinunter in ihre Räume. Erst viele Tage später hat sie ihm gestanden, dass sie an diesem Abend tatsächlich ihre Schlafzimmertür abgeschlossen hat.

»So sehr habe ich dich erschreckt?«

»Ich bin eine alte Jungfer, Richard.«

»Da muss ich energisch widersprechen, mein Schatz. Du bist weder das eine noch – mit Verlaub – das andere.«

Er hat drei Abende gebraucht, um sie endgültig zu erobern. Oh, er weiß um das Spiel von Angriff und Rückzug, er kennt die Wirkung eines sanften Kusses, einer zärtlichen Umarmung, eines geflüsterten Wortes. Er hat ihr Begehren geduldig angefacht, bis sie ihm endlich nach vielen Fluchten und Rückzügen entgegenkam. Dann allerdings war er verblüfft, welche Leidenschaft er erweckt hat.

Die erste Nacht war schrecklich. Sie hat ihm gestanden, dass sie tatsächlich noch Jungfrau ist, was für ein Mädchen eigentlich eine Tugend darstellt, in ihrem Alter jedoch eher lächerlich ist. Er war nicht sonderlich überrascht, was sie sowohl erleichtert als auch verletzt hat. Er muss es gewusst haben, vermutlich hat er es erraten, weil sie sich in Dingen der Liebe so furchtbar ungeschickt anstellt.

Zu ihrer Überraschung war auch er in dieser ersten Liebesnacht unsicher und zögerlich, zeigte sich keineswegs als der erfahrene Frauenheld, für den sie ihn gehalten hat. Es wurde eine mühsame Geschichte voller Missverständnisse und Peinlichkeiten – keine Spur von dem großen, wunderbaren Erlebnis, das einige ihrer Freundinnen ihr seinerzeit mit glänzenden Augen und blassen Wangen schilderten. Natürlich nicht im Detail, über solche Dinge sprach man nicht. Viel eher war sie nach dieser Nacht geneigt, ihrer Mutter zu glauben, die immer behauptet hat, diese Sache sei nicht so wichtig, sie gehörte nun einmal zu einer Ehe, aber der Mann habe mehr Vergnügen dabei als die Ehefrau.

Schön war nur, dass er sie danach mit den Armen umschlossen hat und sie dicht aneinandergeschmiegt eingeschlafen sind. Auch am Morgen miteinander aufzuwachen, sich sanft wieder zu finden, leise miteinander zu flüstern – das hat sie genossen. Dann hat sie allerdings auf die Nachttischuhr geschaut und ist hastig aus dem Bett gesprungen, weil sie auf keinen Fall zu spät in die Fabrik kommen will. Den Tag über hat sie sich unwohl gefühlt, Schuldgefühle haben sie geplagt, die dumme, strenge Erziehung ihrer Eltern hat sich in ihrem Denken durchgemogelt, die besagt, dass sich ein Mädchen einem Mann auf keinen Fall vor der Ehe hingeben darf. Wie anhänglich solche veralteten Erziehungsprinzipien doch sind, die man als moderne Frau längst überwunden glaubte! Erst am Abend, als er ihr unbefangen und liebevoll entgegengekommen ist, haben sich diese Ängste in nichts aufgelöst.

»Verzeih mir, Ilse. Ich glaube, ich habe mich gestern Nacht sehr ungeschickt angestellt«, hat er zu ihrer Überraschung gesagt.

»Du? Es war wohl eher umgekehrt. Ich fürchte, ich habe dich maßlos enttäuscht.«

»Keineswegs. Gibst du mir eine zweite Chance, Liebste?«

»So viele Chancen, wie du nur willst.«

In dieser Nacht wurden ihre Träume wahr. Nicht die zarten, romantischen Luftgespinste von süßer Sehnsucht und hingebungsvoller Liebe, sondern jene wilden nächtlichen Fantasien, die sie schweißgebadet und voller Scham erwachen lassen. Unter seinen Liebkosungen sind alle Schranken gefallen, ihre Erziehung, ihre Ängste, ihr kluger, kritischer Verstand – all das ist untergegangen in den leidenschaftlichen Begierden ihres Körpers.

Der Himmel der Liebe ist ein irdischer Himmel, er wölbt sich über ihrem Schlafzimmer und umhüllt, was dort an Wundern geschieht, mit einer zerbrechlichen Schicht aus reinem Glück.

In ihrer Euphorie ist sie übermütig geworden. Seinen Antrag erwähnt sie nicht mehr – er wollte nicht darüber sprechen, nun, sie will es auch nicht. Warum soll sie heiraten? Sie hat einen wunderbaren Liebhaber, einen Freund, einen Berater, einen zärtlichen Vertrauten. Er wohnt in ihrem Haus, sie leben miteinander, essen miteinander, schlafen miteinander. Die klugen Pläne ihres verstorbenen Vaters interessieren sie nicht. Sie braucht keine familiäre Bindung an das Bankhaus »Blum & Hirschberg«, sie besitzt eine prosperierende Fabrik, ist finanziell unabhängig, muss nicht »versorgt« werden. Würde sie heiraten, wäre sie nicht mehr vertragsfähig, dann wäre Richard nominell der Fabrikbesitzer. Gewiss, sie liebt ihn, und ihr Vertrauen in ihn ist groß – trotzdem ist ein Rest von Vorsicht zurückgeblieben. Sie ist eine moderne Frau – sie braucht keinen Ehemann, sie hat ein Verhältnis. Was über sie geredet wird, ist ihr gleich.

Natürlich ist ihr neuer Status nicht verborgen geblieben. Als Erste hat Carla es mitbekommen, das war unvermeidlich, weil sie die Zimmer aufräumt und die Betten macht. Sie hat es beim gemeinsamen Frühstück nicht gleich erwähnt, aber schließlich konnte sie den Mund nicht mehr halten.

»Da darf ich wohl gratulieren, Frau Küpper.«

Ilse hat sie strafend angeschaut, aber weil Carla so gutmütig gelächelt hat, wurde ihr klar, dass sie sich für sie freut.

»In gewisser Weise – ja. Aber nicht so, wie du vielleicht denkst, Carla. Ich habe nicht die Absicht, Herrn Goldstein zu heiraten.«

»Nein? Ach du liebe Zeit!«

Sie hat ihre treue Angestellte wohl doch etwas überschätzt. Carla stammt aus einem Nachbardorf, ihre Vorstellungen von Liebe und Ehe sind traditionell. Wenn zwei Menschen miteinander im Bett waren, dann muss auch geheiratet werden.

»Wir werden eine freie Partnerschaft führen, Carla. Ohne Trauschein. So etwas ist heutzutage möglich.«

Sie erwähnt nicht, dass es auch in der heutigen Zeit eine schwierige Sache ist, wenn ein Paar ohne Trauschein miteinander lebt. Zumindest für eine Frau.

»Na ja …«, seufzt Carla und beißt in das Frühstücksbrötchen. »Herr Goldstein ist ja auch Jude, nicht wahr? Da ist es mit einer Heirat net so einfach. Weil er doch kein Christenmensch ist.«

Darüber hat Ilse zwar auch schon nachgedacht, es aber mangels Notwendigkeit in den Hintergrund geschoben. Richard ist kein strenggläubiger Jude, aber er gehört der jüdischen Gemeinde in Frankfurt an, wie auch seine gesamte Familie. Eine kirchliche Heirat käme also nicht infrage.

»Ich hoffe, dass du über diese Dinge Stillschweigen bewahrst, Carla. Ich habe zwar nicht vor, es zu verheimlichen – aber man braucht es auch nicht an die große Glocke zu hängen, nicht wahr?«

»Aber Frau Küpper – was denken Sie denn von mir!«, regt sich Carla auf. »Alles, was in diesem Haus geschieht, bleibt fest in meinem Herzen verschlossen. Über die Verhältnisse meiner Herrschaft kommt mir kein Sterbenswörtchen über die Lippen!«

Ilse ist von Carlas gutem Willen zur Diskretion überzeugt. Dennoch ist die Ermahnung nötig, denn die Dingelbacher sind stets eifrig bemüht, Carla über die »Villa« auszuhorchen, wenn sie im Dorfladen einkauft.

»Hat Oskar Michalski keine Lust mehr, dich beim Einkauf zu begleiten?«, wechselt sie das Thema.

Carla zuckt mit den Schultern und macht ein betrübtes Gesicht.

»Der Oskar, der macht sich rar in letzter Zeit. Das kommt wohl von dem Stromschlag, den der arme Kerl erwischt hat. Ganz komisch ist er seitdem …«

Ilse weiß es besser. Oskar Michalski nimmt es ihr immer noch übel, dass sie ihm kein Grundstück verkaufen will, auf dem er für sich und seine Helga ein Haus bauen könnte. Sie hat inzwischen erfahren, dass Otto Schütz die Scheidung eingereicht hat. Wie es ausgehen wird, ist klar: Helga trifft alle Schuld, weil sie ihn verlassen hat. Damit bleibt sein Besitz bei ihm und der Sohn ebenfalls. Doch immerhin hat Oskar nun die Hoffnung, seine Helga heiraten zu können.

Ilse hat ihn vor ein paar Tagen in ihr Büro gerufen und ihm noch einmal klargemacht, weshalb sie sein Vorhaben nicht unterstützt. Der Park ist nicht als Bauland ausgeschrieben, er könnte offiziell dort gar kein Haus errichten. Natürlich werden unten in Dingelbach seit Generationen Remisen, Scheunen und sogar Wohnhäuser ohne Genehmigung gebaut. Aber da wäscht eine Hand die andere, und wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. In seinem Fall aber würde der Bürgermeister Otto Schütz ganz genau hinschauen und schnell dafür sorgen, dass er sein Häuschen wieder abreißen muss.

»Dazu kommt, dass Sie einen Kredit aufnehmen müssten, Herr Michalski. Der muss abbezahlt werden …«

Das zweite Argument zählt weniger, weil die Banken momentan mit Krediten großzügig sind. Es gibt eine Menge amerikanischer Banken und Geldgeber, die in Deutschland investieren, das kommt den deutschen Banken und Firmen zugute und damit auch den kleinen Privatleuten. Oskar hat sich alles in Ruhe angehört, dann ist er aufgestanden, hat sich höflich für die »Belehrung« bedankt und verabschiedet. Seitdem erledigt er seine Aufgaben in der Fabrik zuverlässig wie immer, privat hat er sich jedoch von den Bewohnern der Villa zurückgezogen.

»Bedauerlich«, meint Ilse. »Aber er muss selbst wissen, was er tut.«

»Der will jetzt auf dem Grund vom Killinger Hannes ein Haus bauen«, platzt Carla mit der Neuigkeit heraus. »Im Dorfladen hat’s die Schmidtkunz Hedi erzählt.«

Das ist Ilse neu. Was hofft er damit zu gewinnen?, denkt sie besorgt.

»Aber … Das ist doch sicher kein ausgewiesenes Bauland, oder?«

»Eine Wiese ist’s. Gleich bei der Koppel vom Willibald. Der Killinger Hannes hat eigentlich eine Remise hinsetzen wollen, für das Zeug, was bei ihm im Hof herumsteht, dass es net immer vom Regen nass wird. Aber jetzt will er das Land dem Oskar geben.«

Der Hannes Killinger will nicht einmal Geld dafür, er tut es aus Freundschaft. Und weil er dem Otto Schütz eins auswischen will.

»Wenn das nur keinen Ärger gibt«, meint Ilse bedenklich.

»Könnt schon sein«, sagt Carla, der auch nicht wohl bei dieser Sache ist. »Der Killinger Hannes hat wohl verlauten lassen, dass er sich vor dem Bürgermeister nicht fürchtet, weil der Otto Schütz selber ohne Baugenehmigung einen Anbau an sein Wohnhaus gesetzt hätt. Was soll man dazu sagen, Frau Küpper?«

»Gar nichts, Carla«, meint Ilse kopfschüttelnd. »Soll er tun, was er will – ich mische mich da nicht mehr ein.«

Sie ist auch aus anderen Gründen ärgerlich auf Oskar Michalski. In der Fabrik gibt es inzwischen einen Betriebsrat, einige der neuen Arbeiter sind im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund organisiert, und man hat Oskar Michalski zum Vorsitzenden des Betriebsrats gewählt. Einstweilen herrscht noch Einigkeit – sie hat schon im vergangenen Jahr freiwillig die Löhne erhöht und den Achtstundentag eingeführt, sie bietet ein Mittagessen und Getränke zu einem angemessenen Betrag. Alles Vergünstigungen, die es unter ihrem Vater nicht gegeben hat. Aber es passt ihr nicht, dass sie sich ständig mit diesem Betriebsrat auseinandersetzen soll. Wie man hört, strebt der ADGB inzwischen sogar an, auch bei wichtigen geschäftlichen Entscheidungen mitreden zu wollen. Aber da hört der Spaß für Ilse endgültig auf. Schließlich ist sie diejenige, die das gesamte Risiko allein trägt! Hätte sie vor drei Jahren nicht mutig Kredite aufgenommen und Neues gewagt, dann gäbe es Pilz & Küpper nicht mehr, und kein Arbeiter oder Angestellter könnte bei ihr sein Brot verdienen.

Aber all diese kleinen Ärgernisse sind Nebensächlichkeiten, die ihr Glück nicht trüben können. Es ist, als wären ihr Flügel gewachsen. Die Liebesnächte mit Richard erschöpfen sie nicht – im Gegenteil, sie fühlt sich stärker als je zuvor, mutiger, kämpferischer, energischer. Pünktlich ist sie jeden Morgen in der Fabrik, kontrolliert den Arbeitsablauf in der neuen Halle, bespricht die anstehenden Produktionen mit den Vorarbeitern und zieht sich dann in ihr Büro zurück, wo inzwischen Adelheid Sonntag für sie arbeitet. Fräulein Sonntag kommt aus Oberursel, dort war sie früher Sekretärin in der Schuhmaschinenfabrik, sie ist um die fünfzig, willig, fleißig und sehr gewissenhaft. Für Ilse eine große Erleichterung, da sie sich nun ganz auf die geschäftlichen Dinge konzentrieren kann.

An den Abenden verlässt sie die Fabrik pünktlich um 18 Uhr mit ihren Arbeitern. Überstunden wie früher macht sie nicht mehr. Die Abende gehören Richard, auch die Sonntage verbringen sie gemeinsam. Allerdings findet ihr Liebster sie hin und wieder zu nachtschlafender Zeit in ihrem Büro in der Villa über Kalkulationen sitzend und Zahlen vor sich hinmurmelnd. Dann erscheint er leise im Schlafanzug bei ihr, legt ihr lächelnd die Hand auf die Schulter und fragt besorgt, ob sie sich nicht übernimmt.

»Nur noch dieses Angebot rasch durchrechnen, Richard. Dann komme ich hinüber.«

»Ich wollte dich nicht bedrängen, Liebes. Ich weiß ja, dass du eine berufstätige Frau bist.«

Er selbst ist seit Wochen nicht mehr nach Frankfurt gefahren, benutzt tagsüber jedoch häufig das Telefon und scheint seine Angelegenheiten auf diese Weise zu regeln. Wenn sie an den Abenden beieinandersitzen, reden sie oft über geschäftliche Dinge. Sie erfährt, dass auch »Blum & Hirschberg« mit Geldern aus Amerika arbeitet und dass die Bank in verschiedene Unternehmen investiert, die alle auf einem guten Weg sind.

»Seit die Steuerreform der Regierung Luther die Betriebe entlastet hat, kommt unsere deutsche Wirtschaft wieder in Schwung«, meint er. »Der Aktienmarkt hat sich erholt – jetzt kann man optimistisch in die Zukunft blicken.«

Diese Steuerreform entlastet vor allem die großen Betriebe, da der Höchststeuersatz auf 40 Prozent herabgesetzt wurde. Die Verbraucher müssen hingegen höhere Steuern zahlen. Trotzdem scheint es, dass das Konzept der Regierung aufgeht, die Wirtschaft auf diese Weise anzukurbeln. Dazu trägt auch bei, dass die Ein- und Ausfuhrverbote inzwischen aufgehoben sind und deutsche Unternehmer wieder gleichberechtigt Im- und Export betreiben können. Die Regierung fördert diese Entwicklung zusätzlich mit günstigen Krediten. Ilse verkauft ihre Kästchen, Etageren und Bilderrahmen nach Frankreich und Holland, auch die geschnitzten Schirmstöcke werden vermehrt bestellt, es gibt sogar Anfragen aus Übersee. Die Menschen haben wieder Geld in der Tasche, Luxusgüter sind gefragt – nach den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren will man das Dasein in vollen Zügen genießen.

Dazu kommt, dass die über zweijährige Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich nun ihr Ende finden wird. Die Besatzer wollen sich nach längerem Hin und Her im August dieses Jahres zurückziehen, sie hinterlassen einen Scherbenhaufen, aber die Zechen und Betriebe sind wieder deutsch, die Stahlproduktion kann aufgenommen werden.

»Wir sollten dennoch nicht übermütig werden«, warnt Richard, wenn Ilse begeistert von neuen Produkten spricht, die sie auf den Markt bringen will. »Dieser Aufschwung kann rasch in sich zusammenfallen, wenn die Republik in eine Schieflage gerät und – was Gott verhüten möge – radikale Kräfte an die Macht gelangen.«

»Ach was!«, winkt sie ab. »Die Regierungen wechseln zwar, aber ich bin überzeugt, dass die Republik dennoch stabil ist. In einer Republik gelten nun einmal andere Regeln, da geht es im Reichstag hin und her, man ist manchmal verwirrt und fragt sich, wie es überhaupt weitergehen soll. Aber es geht weiter. Und zwar bergauf.«

Richard bestätigt dies zwar, dennoch erinnert er bedenklich an den Ausgang der Reichstagswahlen im vergangenen Jahr, als die radikalen Parteien auf der rechten und der linken Seite starken Zuwachs erhalten haben.

»Die Kommunisten sehe ich auch als Gefahr«, meint sie. »Die wollen die Betriebe enteignen und den Arbeitern alle Macht in die Hände geben. Das ist doch völliger Unsinn! Man hört ja, wie schrecklich es in Russland zugegangen sein muss.«

»Allerdings. Aber auch die Deutschnationale Volkspartei und die Deutschvölkische Freiheitspartei haben dazugewonnen. Du wirst verstehen, dass mir das nicht gefallen kann.«

Ja, sie weiß sehr wohl, warum er diese Tendenzen fürchtet. Alle diese Parteien sind extrem antisemitisch eingestellt. Früher hat sie sich wenig Gedanken darüber gemacht, in ihrer Familie war man deutsch-national und konservativ, durchaus auch antisemitisch. Sie hat diese Haltung unkritisch übernommen; auch sie hegt »den Juden« gegenüber ein gewisses Misstrauen. Die hängen alle zusammen und schieben sich gegenseitig die Geschäfte zu, hat ihr Vater einmal gesagt. Leider hat Frau Goldstein ihre Vorurteile aufs Beste bestätigt – von einer nichtjüdischen Schwiegertochter will die alte Dame nichts wissen. Richard allerdings ist eine Ausnahme. Er ist zwar Jude, aber er ist vor allem der Mann, den sie liebt, der sie glücklich macht, der Angelpunkt in ihrem Leben. Sie versteht seine Sorgen, weil sie sich in ihn hineindenkt und langsam beginnt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Mit den Augen eines jüdischen Menschen.

»Ach, das sind doch nur dumpfe Schreihälse«, versucht sie seine Sorgen zu zerstreuen. »Ihr seid eine alteingesessene Frankfurter Familie, ihr besitzt Immobilien und nicht zuletzt ein florierendes Bankunternehmen. Was kümmert es den starken Löwen, wenn ein Mäuschen an seiner Mähne zupft?«

Er ist nicht überzeugt, muss aber über ihren fantasievollen Vergleich lachen und nimmt sie liebevoll in den Arm.

»Du bist so voller Energie und Zuversicht«, sagt er und küsst sie auf Stirn und Wangen. »Ich wüsste nicht, was ich ohne diese Kraft, die von dir ausgeht, anfangen sollte.«

»Du überschätzt mich, Richard«, meint sie, von seinem Geständnis tief bewegt. »Ich bin nur stark, weil du bei mir bist.«

»Oh nein«, sagt er lächelnd. »Das warst du schon immer, Liebste.«

Sie denkt an die Jahre, die sie als »Mädchen für alles« in der Fabrik zubringen musste, als Josef der Herr Direktor war und sie weniger als nichts zu sagen hatte. Nein, sie war nicht immer stark, sie hat es mühsam lernen müssen. Aber in der Not hat sie gezeigt, was in ihr steckt.

»Was meinst du«, fragt sie ablenkend, »sollten wir Frieda Haller einmal fragen, ob sie mit ihren Kollegen eine szenische Lesung in der Villa machen möchte?«

Er ist sofort dabei, auf sein Lieblingsthema aufzuspringen: die Planung der kulturellen Veranstaltungen in der Villa. »Frieda Haller aus Dingelbach?«, fragt er mit leicht ironischem Unterton. »Nun – auf diese Weise würden wir vermutlich das halbe Dorf als Zuhörer bei uns sehen.«

»Warum denn nicht? Wäre es nicht schön, den Dörflern ein wenig Kunst und Kultur zu vermitteln? Ich kenne das Mädchen, sie ist nicht nur sehr hübsch, sondern auch begabt.«

»Richtig«, erinnert er sich. »Sie ist die Enkelin von Frau Haller, die unseren Frankfurter Kulturverein so tatkräftig unterstützt. Nun – wenn du meinst, dann fragen wir sie. Wo wir allerdings die vielen Zuhörer unterbringen sollen, ist mir noch ein Rätsel.«

»Das ist einfach«, schlägt sie vor. »Wir räumen die Kisten in der alten Halle beiseite und richten eine Bühne ein.«

Die alte Produktionshalle wird momentan als Lager für die versandfertigen Kisten benutzt, die hier auf ihren Abtransport zur Bahn warten. Damit ist das Gebäude allerdings höchstens zur Hälfte ausgelastet, die andere Hälfte dient als improvisierte Kantine. Dort sind Tische und Stühle aufgestellt, auch stehen Getränke in Kästen bereit.

»Ich sehe schon«, erwidert er lachend. »Wenn du die Sache in die Hand nimmst, wird hier bald ein Theater plus Opernbühne entstehen.«

»Die Dingelbacher Dorfoper!«, stimmt sie kichernd ein und schmiegt sich an ihn. »Mit internationalen Künstlern erster Güte. Eintritt: Zwei Kartoffeln und eine Dickwurz.«

»Du bist komplett verrückt, meine süße Geliebte!«

Natürlich schleichen sich immer wieder unliebsame Ereignisse in dieses neue, glückliche Dasein. Eines Tages ruft ihr Bruder Josef in der Fabrik an, während sie gerade einen Geschäftsbrief diktiert.

»Ich diktiere später zu Ende, Fräulein Sonntag«, sagt sie zu der Sekretärin. »Schreiben Sie schon einmal die anderen Briefe.«

Fräulein Sonntag zieht sich mit dem Stenoblock ins Vorzimmer zurück, und Ilse nimmt die Hand von der Sprechmuschel, die sie vorsichtshalber abgedeckt hat. Aber Josef hat den Satz trotzdem mitbekommen.

»Du hast jetzt eine Schreibkraft, wie? Ich hab’s neulich zur Irma gesagt: Die Ilse kommt immer mehr auf unseren Vater heraus. Der hat auch immer seine Post diktiert, weil er zum Schreiben zu faul war.«

Ilse kann sich gut an diese Zeit erinnern. Damals musste sie dem Vater als Schreibkraft zur Verfügung stehen, was nicht selten zu Konflikten geführt hat. Später hat Josef sie mit solchen Aufgaben betrauen wollen, da hat sie sich jedoch beharrlich geweigert, und er hat eine Sekretärin eingestellt.

»Eine Sekretärin war nötig, damit ich mich auf meine Aufgaben als Fabrikdirektorin konzentrieren kann.«

»Ja, wenn’s so gut läuft in deiner Fabrik. Da muss man halt kalkulieren, ob man sich eine teure Angestellte leisten kann.«

Ausgerechnet er will ihr zur Sparsamkeit raten! Früher hätte sie sich geärgert, inzwischen kann sie sich zum Glück darüber amüsieren.

»Wie geht’s denn bei euch? Seid ihr alle gesund?«

Er erzählt, dass Lottchen die Masern aus der Schule mitgebracht und leider die ältere Schwester angesteckt hat.

»Inzwischen sind die zwei wieder wohlauf, aber das war hart für die Irma mit zwei kranken Kindern und dann auch noch die Küche. Da haben die Mädchen ja net mithelfen können, und der Erich ist allweil so widerspenstig. Stell dir vor, der hat sich geweigert, das Gemüse zu putzen, weil das Weibersach sei. Da hab ich dann einmal ein Machtwort sprechen müssen …«

Erich ist fünfzehn – Ilse kann sich gut vorstellen, dass der Junge andere Dinge im Kopf hat, als jeden Nachmittag in der Restaurantküche zu stehen.

»Wieso macht die Irma jetzt wieder die Küche? Ihr habt doch einen französischen Koch eingestellt.«

»Ach, der Gaston? Den haben wir entlassen. Einen Haufen Geld hat er gekostet, und dazu war er noch unverschämt. Stell dir vor, er hat die Irma aus der Küche geschickt. Aus unserer eigenen Küche hat er sie hinausgeworfen! Weil sie ihm immer dazwischenreden würde.«

Ilse muss sich ein Lachen verbeißen. Dass ihre Schwägerin sich in alles einmischen muss, ist ihr bekannt. Da wird es über Schüsseln und Kochtöpfen zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen sein. Von wegen entlassen. Vermutlich hat der Franzose gekündigt, was Ilse gut verstehen kann.

»Und jetzt kocht die Irma? Oder habt ihr einen neuen Koch eingestellt?«

»Meine Irma, die macht das schon«, versetzt Josef mit stolzer Zuversicht. »Schließlich hat sie dem Franzosen ja auf die Finger geschaut und weiß jetzt, wie die feine Küche geht. Die Gäste sind anspruchsvoll, da müssen Delikatessen her. Austern haben wir bestellt, russischen Kaviar, weil der der beste ist, und geräucherten Lachs. Weine aus Italien gibt’s bei uns und Champagner direkt aus Frankreich …«

»Eure Gäste werden es euch danken«, bemerkt sie und schaut auf die Armbanduhr, weil sie noch mehrere Schreiben diktieren will und außerdem auf einen Anruf wartet.

»Ja, die Gäste«, sagt Josef mit einem Seufzer. »Mal kommen sie und dann wieder net. Die einen mögen die französische Küche, die anderen wollen lieber deutsche Hausmannskost. Du kannst es halt net jedem recht machen.«

»Natürlich. Die Geschmäcker sind verschieden«, sagt sie in freundlichem Ton. »Dann richte doch den Kindern und der Irma liebe Grüße von mir aus …«

»Ich hätt da noch ein kleines Anliegen, Ilse.«

Das hat sie sich schon gedacht. Er hat eigentlich immer ein Anliegen, wenn er sich bei ihr meldet.

»Heraus damit, Josef. Ich bin etwas im Druck, du weißt ja, ich habe viel zu tun.«

»Ich will dich net von der Arbeit abhalten«, meint er vorwurfsvoll. »Ich hab nur gedacht, weil du meine Schwester bist und wir doch eine Familie sind …«

»Schon gut. Was hast du auf dem Herzen?«

Drüben im Vorzimmer zieht Fräulein Sonntag ein fertig geschriebenes Blatt aus der Maschine und spannt das nächste Blatt ein. Ilse muss nicht hinübergehen, sie kann es an den Geräuschen der Maschine erkennen.

»Das ist halt so«, beginnt Josef umständlich. »Du stehst doch in einer engen Beziehung zu deinem Mieter, dem Herrn Goldstein, netwahr?«

»Was meinst du mit ›in einer engen Beziehung‹?« Langsam geht ihr der Humor aus. Dieser anzügliche Unterton stört sie. Was geht ihn das an?

»Komm, Schwesterlein. Du glaubst doch net, ich sei blind, oder? Wie ihr zwei so dicht beieinandergesessen habt neulich. Und wie er dich so angehimmelt hat. Da braucht’s net viel Fantasie, um zu sehen, dass da was läuft zwischen euch beiden.«

»Ich warte, Josef. Wo ist das Anliegen, das du mir vortragen wolltest?«

»Ich freu mich ja, dass sich endlich einer gefunden hat. Und noch dazu einer, der mit einer Bank daherkommt. Das hätt unser Vater immer gewollt, dass du einmal so einen heiratest.«

»Ich warte immer noch.«

Ihr Tonfall ist jetzt kühl. Er hat es wieder einmal geschafft, dass sie sich über ihn ärgert.

»Ja, schau, wir müssen doch weiterkommen mit dem Umbau. Du weißt ja: das Hotel und der Park mit dem Spielplatz für die Kinder und einem Teich mit Springbrunnen. Wie’s halt von Anfang an geplant war.«

»Lass mich raten, Josef: Du brauchst Geld.«

»Jetzt reg dich net gleich auf – ich weiß ja, dass du dich in dieser Beziehung nicht familiär verhalten willst. Das ist schad, weil es ja sein könnt, dass du auch einmal von mir eine Gefälligkeit brauchst. Aber sei’s drum.«

Sie hat ihm vor einiger Zeit in aller Deutlichkeit erklärt, dass sie nicht bereit ist, ihm Geld zu leihen. Sie weiß, warum.

»Ich wollt dich halt freundlich bitten, ob du deinen lieben Freund Goldstein net einmal bitten könntest, dass er ein gutes Wort für uns bei den Verwandten in Frankfurt einlegt.«

Er hat das Bankhaus »Blum & Hirschberg« um einen weiteren Kredit ersucht, der ihm jedoch verweigert worden ist. Ilse ahnt den Grund: Ganz sicher zahlt Josef seinen Kredit nicht regelmäßig ab. Leider schweigt sich Richard darüber aus, weil sie ihm von vornherein davon abgeraten hat, ihrem Bruder Geld zu leihen.

»Das ist eine Angelegenheit zwischen dir und der Bank, Josef«, sagt sie energisch. »Ich habe damit nichts zu tun und kann dir leider nicht helfen.«

»Ja, willst du denn, dass hier alles den Bach hinuntergeht?«, platzt er heraus. »Die Schulden drücken, das Restaurant läuft schlecht, und der Umbau kommt auch net voran. Wenn dir die Irma und ich schon ganz gleichgültig sind, dann denk doch wenigstens an die armen Kinder …«

Jetzt ist Ilses Geduld am Ende. Er hat das Geld, das Richard ihm verschafft hat, in überflüssige Dinge investiert; er hat den Koch, der viele Gäste angezogen hat, entlassen und bildet sich jetzt ein, seine Irma sei in der Lage, luxuriöse Menüs zu zaubern. Dass ihm die Gäste wegbleiben, ist wahrlich kein Wunder.

»Ich habe zu tun, Josef. Lass uns am Wochenende in Ruhe darüber sprechen.«

Als sie den Hörer aufgelegt hat, wird ihr vor Ärger richtig schlecht. Sie muss aufstehen und das Fenster öffnen, um ein paar Atemzüge frische Luft zu nehmen. Danach geht es ihr etwas besser. Aber die Sache ist ihr auf den Magen geschlagen.