Kapitel 12
Lehrer Hohnermann ist unzufrieden. Er ist in aller Frühe in die Kirche gegangen, um eine Stunde Orgel zu üben, bevor er das Schulhaus aufschließt. Seine Hand ist gottlob geheilt, nur eine Narbe ist zurückgeblieben, die spannt ein wenig, wenn er die Hand bewegt, doch das vergeht mit der Zeit. Aber die Geläufigkeit der rechten Hand beim Orgelspiel hat sehr gelitten. Stillstand ist Rückgang – er kennt diesen Satz und weiß, dass er seine Berechtigung hat. Deshalb hat er in den vergangenen Jahren jede Gelegenheit genutzt, an der Orgel zu sitzen. Aber nun hat er die rechte Hand wochenlang kaum bewegen dürfen, und er ist erschrocken, wie schwerfällig die Finger geworden sind und wie holprig die Läufe und Figuren gehen. Da wird regelmäßiges Üben nötig sein, um wieder auf den gewohnten Stand zu kommen.
Es ist ein Regentag. Er läuft mit gesenktem Kopf und hochgeschlagenem Kragen hinüber ins Schulhaus, schließt die Eingangstür auf und bedauert, dass er die Fenster des Schulzimmers nicht öffnen kann, um den Klassenraum durchzulüften. So lässt er wenigstens die Tür offen, die durch ein Vordach geschützt ist, legt ein Scheuertuch für die nassen Schuhe der Kinder davor und macht sich daran, die mitgebrachten Bücher auf dem Lehrerpult zu sortieren. Heute will er mit den Schülern noch einmal über die Auswanderer sprechen und ihnen erklären, wie gefährlich und entbehrungsreich eine Schiffsreise nach Amerika gewesen ist, als man noch mit Segelschiffen über den Ozean fuhr. Dazu hat er mehrere Bücher mit Fotografien zusammengestellt. Er ist sich bewusst, dass er solche Themen ein wenig zu häufig und zu ausführlich mit seinen Schülern behandelt. Es liegt daran, dass er selbst hin und wieder vom Fernweh erfasst wird und vor Jahren einmal daran gedacht hat, nach Afrika oder Amerika auszuwandern. Er hat es seiner Mutter zuliebe nicht getan, und auch wegen der Musik, die er nicht hat aufgeben wollen. Aber die Sehnsucht nach fernen Ländern ist ihm geblieben, darum kauft er auch so gern Reiseberichte, die Landkarten und Fotografien enthalten.
Die Schüler sind gut erzogen, sie treten sich die Schuhe auf dem Scheuertuch ab; einige sind barfuß, obgleich es jetzt im September am Morgen schon recht kühl ist. Leider muss er feststellen, dass heute wieder einige der älteren Kinder nicht erschienen sind, und das, obgleich das Getreide und das Grummet längst in den Scheunen sind und die Kartoffelernte noch nicht ansteht. Karl und Erich fehlen, dazu Kati Dönges, dann die beiden Grossmann-Kinder Kurt und Julia und auch Heinz Schütz. Klaus Dönges wird wohl später noch kommen, der muss vor der Schule immer melken und füttern und schafft es oft nicht rechtzeitig. Aber wenn von zwanzig Schülern ganze sieben nicht da sind, schaut es doch löchrig aus im Schulzimmer. Er fühlt sich bedrückt. Es gibt eine Schulpflicht, aber hier im Dorf wird sie leider oft umgangen, weil die Kinder für die Landarbeit notwendig gebraucht werden. In wenigen Wochen beginnen schon die Herbstferien, da werden die Kartoffeln und die Dickwurz geerntet. Danach stehen gottlob nur noch die üblichen Haus- und Stallarbeiten an – der Winter ist für das Lernen in der Dorfschule die beste Zeit.
»Guten Morgen, Kinder!«
»Guten Morgen, Herr Lehrer!«
Er legt Wert darauf, dass sie dieses »Guten Morgen« schön deutlich im Chor sprechen, obgleich der übliche Gruß im Dorf zu jeder Tageszeit eigentlich das »Guude!« ist. Aber es ist wichtig, den Kindern korrektes Deutsch beizubringen: Nicht jeder wird hier im Dorf bleiben, schon jetzt zieht es viele hinüber in die Großstadt. Da schadet es nicht, wenn sie »hochdeutsch« reden können.
Er beginnt wie üblich mit einem Lied und stimmt »All Morgen ist ganz frisch und neu« an, das den Kindern keine Mühe macht, weil er es oft mit ihnen singt. Die jungen Stimmen sind kräftig, das Lied klingt munter in den regnerischen Morgen hinein. Anders ist es am Sonntag in der Kirche, wenn er die Choräle begleitet, da hinkt die Gemeinde immer schwerfällig der Orgel hinterher.
Nach dem Lied macht er die übliche Runde, gibt den Älteren auf, Aufgaben zu lösen oder etwas von der Tafel abzuschreiben, während er mit den Kleinen neue Buchstaben erarbeitet. Als er gerade dem kleinen Jochen einige »O«s auf die Schiefertafel malt, damit sie dort in die richtigen Zeilen geraten, tut sich die Tür auf, und Klaus Dönges kommt herein. Er muss wie ein Wilder gerannt sein, denn seine Hosen sind schlammbespritzt, und auch das Hemd ist klatschnass. Er reißt die triefende Kappe herunter und schwenkt sie aus. Dabei ruft er ins Schulzimmer hinein: »Wisst ihr’s schon? Der Heinz und die Julia sind fort.«
Unruhe bricht aus, die Kinder drehen sich zu ihm um, einige stehen auf, Willis Tornister fällt auf den Boden, Lisas Schiefertafel rutscht vom Pult und zerbricht.
»Seid einmal ruhig, Kinder!«, befiehlt Lehrer Hohnermann. »Und du, Klaus, setz dich auf deinen Platz.«
Er wartet, bis Klaus unter allgemeiner Aufmerksamkeit an seinem Pult Platz genommen hat, dann will er von ihm wissen, was eigentlich los ist.
»Was meinst du mit ›fort‹?«
»Die sind heut früh net in ihren Betten gewesen. Der Schütz Otto und der Grossmann Fritz laufen überall herum und fragen nach den beiden. Die Mama hat gemeint, die sind vielleicht in den Weiher gefallen und ertrunken …«
Entsetzen unter den Kleinen. Astrid fängt an zu weinen, Lisa heult sowieso schon wegen der zerbrochenen Schiefertafel. Alle wissen, dass vor Jahren einmal ein Kind im Weiher ertrunken ist. Auch die Großen schauen bedenklich.
»Die Wasserleich, die kommt immer erst am dritten Tag wieder hoch«, verkündet Willi sachverständig.
»Vielleicht sind se ins ›Puddelloch‹ gefalle?«, mutmaßt Frieder, dem dies vor Jahren einmal passiert ist. Der Knecht hat ihn damals zu seinem Glück wieder aus der Jauchegrube herausgezogen.
»Alle zwei ins gleiche Puddelloch?«, zweifelt Pauline. »Des glaubt doch kaaner, Frieder.«
»Ei freilich. Die Julia ist hineingefalle, weil se alsfort so dabbisch is, und der Heinz hat se rausziehe wolle und is dabei kopfüber enoigeplumpst.«
Lehrer Hohnermann ist selbst tief erschrocken. Jetzt unterbindet er die Diskussion und will wissen, wer Julia und Heinz zuletzt gesehen hat.
Tilde meldet sich, dann auch Pauline.
»Die haben gestern nach der Schule beim Anger gestande und Cremehütscher gefresse! Ganze drei Stücker.«
Neid bricht aus. Cremehütchen sind ein seltener Genuss für die meisten; wenn die Mutter mal großzügig ist, dann bekommen sie höchstens eines gekauft.
»Man sagt nicht ›fressen‹, wenn es sich auf Menschen bezieht, Tilde. Menschen essen, Tiere fressen.«
»Und was ist mit den Menschenfressern?«, hört er Annelie flüstern.
Niemand beachtet die Bemerkung, alle sind empört über die Völlerei, die Heinz und Julia betrieben haben.
»Die haben sich überfressen und sind geplatzt«, meint Jochen.
»Oder sie sind von den Landstreichern gestohlen worden«, flüstert Pauline. »Oder von den Juden. Die stehlen auch Kinder.«
»Das ist ein dummes Vorurteil, Pauline«, greift Lehrer Hohnermann ein und will nun erklären, was ein Vorurteil ist. Doch da erhebt sich draußen auf der Dorfstraße lautes Geschrei, und die Kinder springen aus den Bänken.
»Alle zurück auf die Plätze«, schimpft er. »Annelie hat die Aufsicht. Ich geh rasch hinaus und schaue nach, was da los ist.«
Vor dem »Gasthof zum Raben« ist ein Auflauf. Der Rabenwirt und seine Frau, die Karin, stehen an der Treppe und versuchen, Otto Schütz den Zutritt zu verwehren. Hedi Schmidtkunz und Lore Dippel sind aus dem Backes gekommen, wo sie gerade die Brote einschieben, sie schimpfen und wedeln mit den Armen. Jetzt eilt auch noch der Killinger Hannes herbei und fasst Otto Schütz am Kragen. Aber der ist außer sich vor Wut, schlägt um sich und brüllt, dass er die Polizei holen will.
»Entführt hat sie den Bub. Heimlich in der Nacht ins Haus geschlichen, die Hex. Lass mich hinein, ich will meinen Buben zurückhaben!«
»Ich sag’s zum dritten Mal: Der ist net hier, Otto«, schreit der Guckes Jörg. »Die Karin hat nachgeschaut …«
»Ihr steckt doch alle unter einer Decke!«
»Das sagst du net noch einmal, Otto!«
Da ist auf einmal die Helga Schütz an der Tür vom Gasthof und ruft etwas, was Hohnermann nicht verstehen kann, weil Otto Schütz jetzt einen wütenden Schrei ausstößt und sich auf seine Frau stürzen will. Aber der Hannes Killinger hält ihn an der Jacke fest, und die beiden ringen miteinander. In seinem Zorn entwickelt der Schützbauer trotz seiner Kriegsverletzung erstaunliche Kräfte, sodass der Schmied Mühe hat, ihn zu bändigen. Hohnermann eilt über die Dorfstraße hinüber zum Ort des Geschehens und versucht, die Kampfhähne zu trennen.
»So nehmen Sie doch Vernunft an, Herr Schütz. Warum sollte denn Ihre Frau gleich zwei Kinder entführen? Sehen Sie denn nicht, dass sie genauso betroffen ist wie Sie selbst?«
Die wohlgesetzten Reden des Schulmeisters erreichen die aufgebrachten Dörfler jedoch nicht. Weitere Nachbarn laufen aus den Höfen herbei, Schorsch Altmann fällt dem Schmied in den Arm, weil er Sorge hat, der große Kerl könne Otto Schütz ernsthaft verletzen. Vom Pfarrhaus humpelt der alte Pfarrer Seybold, den der Ischiasnerv plagt, zum »Raben« hinüber, von der anderen Seite kommt der Dorfheiler Alberti im Eilschritt angelaufen.
»Im Namen Gottes«, ruft der Pfarrer. »Wer die Hand gegen seinen Nächsten erhebt, dem soll sie verdorren …«
»Lass den Schütz Otto los, Hannes«, befiehlt der Dorfheiler. »Der kriegt ja kaum noch Luft.«
Der Schmied schiebt Otto Schütz gegen die Hauswand, wo er japsend lehnt und nach Luft ringt. Auch der Hannes ist nicht ohne Blessuren geblieben, er blutet im Gesicht, weil der Bürgermeister seinen Bart zu fassen bekommen hat.
»Was ist denn geschehen?«, will der Alberti Rudolf wissen.
»Fort ist er, der Bub«, keucht Otto Schütz. »Den Schulranzen hat er mitgenommen. Wäsche und Strümpf fehlen. Eine Decke. Die guten Schuh …«
Immer mehr Dorfbewohner kommen herbei. Hohnermann erfährt, dass Gertrud Schütz auf den Grossmannhof gelaufen ist, weil sie geglaubt hat, die Anni, die Oma vom Heinz, hätt den Buben hinübergelockt. Aber drüben haben sie schon nach der Julia gesucht, weil die auch nicht in ihrem Bett gewesen ist.
»Die sind davongelaufen«, entscheidet der Dorfheiler. »Hannes und Schorsch – ihr schaut drüben in den Wiesen und beim Waldrand, ob ihr eine Spur findet. Ich geh mit dem Otto bei der Fabrik und am Bahnhof nachsehen. Der Grossmann Fritz und die anderen sollen oben zum alten Friedhof gehen. Wir treffen uns beim Weiher …«
Der Dorfheiler Rudolf Alberti ist der heimliche Bürgermeister von Dingelbach; wenn er auf seine ruhige Art etwas anordnet, gibt es selten Widerspruch. Auch dieses Mal nicken die Leute, froh, dass es einen gibt, der Ordnung in das Durcheinander bringt und ihnen sagt, was zu tun ist. Alle wissen, warum Alberti mit dem Otto Schütz hinauf zur Fabrik gehen will: Dort arbeitet Oskar Michalski, den der Bürgermeister ohne Zweifel ebenfalls verdächtigen wird, seinen Sohn entführt zu haben. Alberti wird dafür sorgen, dass die Begegnung friedlich verläuft.
Johannes Hohnermann sieht beklommen das verzweifelte Gesicht der Helga Schütz, die sich jetzt dem Schmied und dem Schorsch Altmann anschließt, um nach ihrem Sohn zu suchen. Er selbst kann nichts unternehmen, um bei der Suche zu helfen, denn er muss den Unterricht halten. Als er sich umwendet, um zurück ins Schulhaus zu gehen, sieht er seine Schüler im Hof und auf dem Kirchanger verteilt – natürlich haben sie der Annelie nicht gehorcht und sind hinausgelaufen, um das aufregende Geschehen zu verfolgen. Nur Ida Haller hätte es wohl geschafft, diese Rasselbande auf ihren Plätzen zu halten.
Im Grunde genommen, ist an diesem Vormittag mit den Kindern nichts mehr anzufangen. Immer wieder schauen sie zum Fenster, ob die beiden Vermissten nicht gefunden wurden; in der Pause stehen sie beim Schulgarten an der Dorfstraße und fragen die Anni Christ aus, die mit Lenchen Grossmann aus dem Dorfladen kommt. Aber die Anni muss so schlimm weinen, dass sie nicht reden kann, und Lenchen Grossmann meint nur, dass sie alle für die Julia und den Heini beten sollen.
Nach Schulschluss geht Hohnermann hinüber in den Dorfladen, wo immer die neusten Nachrichten zu erfahren sind. Dort stehen mehrere Frauen und schwatzen aufgeregt miteinander.
»Gibt’s was Neues, Herr Lehrer?«, fragt Marlis Alberti.
»Von mir nicht. Hat man sie gefunden?«
Bis auf Rudolf Alberti und Helga Schütz sind alle Sucher unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Es heißt, Oskar Michalski habe Otto Schütz vorgeschlagen, die Polizei anzurufen, was sie vom Apparat der Fabrik aus auch getan hätten.
Herta Haller ist der Ansicht, dass die Ausreißer von selber zurückkommen werden.
»Wenn sie noch können«, meint Lore Dippel düster. »Die Julia ist ja net g’sund.«
»Die haben doch Socken und Kleider mitgenommen«, meint Marthe Haller. »Da wollten sie gewiss weit fort. Vielleicht hoch in den Taunus?«
Hohnermann kauft anstandshalber ein Viertelpfund Malzkaffee, obgleich er daheim noch welchen hat. Dann geht er mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen zurück ins Schulhaus und setzt sich in die Küche, um einen Kanten Brot und ein Stück Räucherwurst zu Mittag zu essen. Ein warmes Essen, wie es ihm die Frauen aus dem Dorf oft in seiner Küche bereitstellen, gibt es heute nicht. Er hat auch eh keinen Appetit, weil ihm ein Gedanke im Kopf herumgeht, der so ungeheuerlich ist, dass er ihn zuerst gar nicht wahrhaben will. Mein Gott! Ist das alles am Ende seine Schuld?
Er kaut noch am letzten Stückchen Wurst, da klopft es an der Haustür, und er springt hoffnungsvoll vom Stuhl auf. Sind sie gefunden worden? Lösen sich die brennenden Sorgen in nichts auf? Aber draußen steht Ida Haller, die gerade aus der Schule in Frankfurt zurückgekommen ist.
»Guude, Herr Hohnermann«, sagt sie und geht unaufgefordert durch den Flur in seine Küche. Da steht sie und wartet, dass er die Haustür wieder zumacht. Erst dann stellt sie ihre Frage, und wie üblich trifft sie damit ins Schwarze.
»Sind die zwei vielleicht auf dem Weg nach Amerika?«.
Der Schrecken fährt ihm ins Gebein, er muss sich hinsetzen.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil der Heinz den Lederstrumpf liest.«
»Woher weißt du das?«, haucht er, weil ihm die Stimme versagt.
»Die Gertrud hat’s im Laden erzählt. Dass der Heinz jetzt Bücher lesen würde, hat sie gesagt. Und dass sie meint, das Lesen sei für den Buben net gesund.«
Wenn Gertrud Schütz das im Dorfladen zum Besten gegeben hat, dann weiß inzwischen ganz Dingelbach davon. Hohnermann bekommt heftiges Herzklopfen.
»Ich hab auch schon daran gedacht«, gibt er zu. »Aber das ist doch nicht möglich. Wie wollen die zwei denn zu Fuß nach Amerika gelangen?«
Ida verzieht den Mund, weil er so einfältig ist.
»Zu Fuß bestimmt net«, sagt sie. »So dumm ist der Heini net. Mit der Bahn bis Frankfurt. Und dann nach Hamburg. Oder Bremerhaven. Da, wo die Schiffe abfahren.«
»Wie soll das gehen, Ida? Sie haben kein Geld.«
Einen kleinen Moment lang ist es still. Ida schaut ihn mit kühlen grauen Augen an. Er weiß, dass sie ihrem Denken keine Grenzen setzt, wie er es tut. Für Ida ist auch das Undenkbare möglich.
»Und wenn er sich Geld beschafft hat? Der Schütz Otto hat ganz sicher ein hübsches Sümmchen im Haus. Weil der doch allweil mit seiner Zukünftigen in Bad Homburg Einkäufe tätigt.«
»Du meinst – er hätte … gestohlen? Aber nein, so etwas tut der Heinz nicht«, wehrt Hohnermann ab.
»Ich an seiner Stelle hätt’s getan«, sagt Ida gelassen.
Dann erklärt sie ihm, dass die beiden in diesem Fall wahrscheinlich bis Steinbach gelaufen sind, um dort in die Vorstadtbahn zu steigen. Weil man sie hier in Dingelbach am Bahnhof sonst gesehen hätte. Steinbach ist eine Station näher an Frankfurt dran.
»Die sind net am frühen Morgen gefahren, weil ich da in der Bahn sitz und auch der Hans Bommel und der Gustav Ruck, die in Rödelheim Arbeit haben. Die haben eine spätere Bahn genommen, weil da keiner aus Dingelbach drin fährt.«
Hohnermann will nicht recht glauben, dass der Heinz das alles so geplant hat, aber immerhin – möglich wäre es.
»Aber selbst wenn die zwei bis zum Frankfurter Bahnhof gelangt sind«, meint er beklommen. »Da kommen sie doch nicht weiter.«
»Nein, da ist für die beiden Endstation«, stimmt Ida zu. »Weil die zwei Kindern ganz bestimmt keine Fahrkarte nach Hamburg oder Bremerhaven verkaufen. Und dann fliegen sie auf.«
»Oder sie laufen verzweifelt in Frankfurt herum«, stöhnt Hohnermann und rauft sich das Haar. »Mein Gott! Was habe ich da angerichtet?«
»Dass einer so blöd ist und davonläuft, das konnten Sie ja net wissen«, tröstet Ida. »Aber es wär gut, die Polizei in Frankfurt anzurufen, dass sie am Bahnhof nach den beiden schaut.«
»Da hast du recht!«
Nur oben in der Fabrik Pilz & Küpper gibt es ein Telefon, also lässt er alles stehen und liegen, wirft die Jacke über und läuft hinauf zur Fabrik. Ida begleitet ihn und gibt unterwegs gute Ratschläge. Wie er die beiden am besten beschreibt, erklärt sie ihm. Dass sie Tornister mithaben, soll er sagen, dass sie Dingelbacher Dialekt reden und dass Julia eine schwache Lunge hat und oft husten muss. Er hört nur halb hin, weil in seinem Kopf schreckliche Bilder auftauchen, die ihm den Puls so hochtreiben, dass ihm schwindelig wird. Wenn sie auf die Gleise geraten sind… Wenn sie einem Verbrecher in die Hände gefallen sind … Wenn sie ohne Fahrkarte in irgendeinen Zug eingestiegen sind und wer weiß wohin fahren?
»Ich werde mir das nie verzeihen!«, murmelt er.
»Sie können nichts dafür«, sagt Ida. »Der Heinz, der wird zwischen der Mutter und dem Vater hin- und hergezerrt. Dass der meschugge wird, ist doch klar.«
In der Fabrik klopfen sie an die Bürotür. Die neue Sekretärin öffnet ihnen, sie wirkt freundlich und mütterlich, was Hohnermann etwas beruhigt.
»Da müssen Sie einen Moment warten, Frau Küpper ist gerade in einem Gespräch.«
»Sagen Sie ihr, es geht um Leben und Tod«, drängelt Ida. »Wir brauchen das Telefon sofort!«
Die Sekretärin lässt sich von der vorlauten Fünfzehnjährigen nicht aus der Ruhe bringen. Sie müssen draußen auf dem Hof warten, bis sie hereingerufen werden; dort stehen sie im Nieselregen, treten von einem Fuß auf den anderen, und wenn ein Handwagen voller Kisten von einer Halle in die andere gezogen wird, müssen sie beiseitegehen. Endlich kommt Frau Küpper persönlich aus dem Büro, begrüßt sie und entschuldigt sich, dass sie warten mussten.
»Leider hat mir Fräulein Sonntag nicht gleich mitgeteilt, dass Sie hier sind. Kommen Sie doch bitte herein. Geht es um die verschwundenen Kinder? Carla hat es mir heute Morgen erzählt. Fräulein Sonntag – seien Sie den Herrschaften bitte behilflich.«
Jetzt ist Fräulein Sonntag auf einmal eifrig bemüht, ihnen zu helfen. Sie stellt die Verbindung her und reicht Hohnermann den Hörer.
Wenig später hat er die Polizeidienststelle in Frankfurt erreicht. Er bemüht sich, die Sachlage so klar wie möglich zu schildern. Zwei Kinder, elf und dreizehn Jahre alt, werden in Dingelbach vermisst. Sie sind wahrscheinlich nach Hamburg oder Bremerhaven unterwegs und auf dem Hauptbahnhof Frankfurt gestrandet. Er gibt die Personenbeschreibung durch, nennt die Namen. Hinterlässt den eigenen Namen, nennt seinen Beruf, seine Adresse. Dann muss er Fräulein Sonntag nach der Telefonnummer der Fabrik fragen, weil sie dort anrufen werden, falls sie die Kinder aufgreifen.
»Ich gebe es weiter, Herr Hohnermann. Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn die zwei am Bahnhof herumlaufen, dann finden wir sie.«
»Gut gemacht!«, lobt Ida ihn, als er den Hörer auflegt.
Und zu der Sekretärin meint sie hoheitsvoll: »Sie können jetzt weitertippen.«
Da Frau Küpper wieder ihr Büro betritt und fragt, ob sie erfolgreich waren, kann die Sekretärin nicht antworten, aber man sieht ihr an, dass sie gern etwas zu Ida gesagt hätte.
Hohnermann bedankt sich bei Frau Küpper, hat aber das Gefühl, wirres Zeug zu reden. Er ist immer noch aufs Höchste beunruhigt. Wer sagt, dass die Polizei die beiden findet? Und wenn ja – wie werden sie mit den Kindern umspringen? Gewiss werden sie sie hart anfassen, vielleicht sogar einsperren.
»Ich habe keine Ruhe«, sagt er zu Ida. »Ich fahre mit der nächsten Bahn nach Frankfurt und suche nach den beiden.«
Ida schaut ihn mitleidig an und hebt dann die Schultern. »Wenn Ihnen danach ist, dann müssen Sie das halt tun, Herr Hohnermann. Aber ich meine, die Polizisten kennen sich am Frankfurter Bahnhof auf jeden Fall besser aus …«
Er ist trotzdem entschlossen. Er will nichts unversucht lassen, das ist er den Kindern schuldig. Es ist auf jeden Fall besser, wenn er sie findet, als wenn sie von der Polizei aufgegriffen werden. Und wenn es denn geschehen sein sollte, dann könnte er sie beruhigen und heimbringen.
Als er schon hinüber zum Bahnhof laufen will, hält ihn Ida am Ärmel zurück. »Haben Sie denn überhaupt Geld eingesteckt?«, fragt sie.
Nein, das hat er in der Eile natürlich vergessen. Also muss er zuerst hinunter zum Schulhaus gehen und seine Geldbörse holen, am besten auch den Ausweis einstecken – vermutlich muss er sich bei der Polizei ausweisen, damit er die Kinder mitnehmen darf. In seiner Wohnung durchwühlt er den Schreibtisch nach dem Ausweis, den er längere Zeit nicht gebraucht hat, und findet ihn nach langem Suchen ganz hinten in der Schublade.
Im Dorf laufen jetzt zwei Polizisten herum, gehen mit wichtigen Amtsmienen von Haus zu Haus und scheinen den Bewohnern Fragen zu stellen. Helga Schütz ist bei ihnen, ganz aufgelöst und verzweifelt, überall stehen neugierige Frauen und stecken die Köpfe zusammen. Hedi Schmidtkunz und Lore Dippel machen sich hastig am Backes zu schaffen, das Brot riecht verbrannt. Oh weh – auch das noch!
Er hat es eilig, hinauf zum Bahnhof zu laufen, denn es ist kurz vor fünf; wenn er die Beine in die Hand nimmt, kann er den Fünfuhrzug erwischen, der nächste und letzte fährt erst nach sieben Uhr. Bedenklich schaut er zum Himmel hinauf, der sich wieder mit grauen Regenwolken bezogen hat. Drüben auf dem Acker vom Fritz Grossmann haben sie vorgestern das letzte Korn geschnitten und in Heucheln gestellt, nun steht es schon zwei Tage im Regen und wird wohl nicht trocknen. Er hört das Pfeifen des heranrollenden Zuges und beginnt zu rennen, erreicht den Unterstand bei den Gleisen gerade in dem Moment, als die Bahn anhält, und wartet, dass der Schaffner die Tür öffnet.
»Dingelbach … Dingelbach … Obacht an der Bahnsteigkante …«
Aufatmend steigt er ein und will die Geldbörse herausziehen, um eine Fahrkarte zu lösen, da stutzt er. Durch das gegenüberliegende Zugfenster kann er auf das zweite Gleis schauen, auf dem die Züge in die Richtung Hohemark und Oberursel fahren. Das Gleis ist leer, aber – spielt ihm seine Fantasie jetzt schon Streiche? Dort sitzt ein Kind im Gras des Wegrands, ein Mädchen, das blonde Haar leuchtet hell.
»Ich will aussteigen!«, schreit er und schiebt den Schaffner, der gerade die Zugtür schließen will, rüde beiseite.
»Erst rein, dann raus!«, schimpft der Schaffner. »Verutze kann ich mich selber!«
Er steigt hastig aus, steht am Bahngleis und muss warten, bis die Bahn abgefahren ist. Einen Moment lang fürchtet er, allmählich ein wenig verrückt zu werden. Doch dann, als der letzte Waggon an ihm vorübergezogen ist, sieht er sie.
»Julia!«
Sie dreht den Kopf und schaut ihn aus rot verweinten Augen an. Hastig steigt er über die Gleise, kniet neben dem Mädchen auf den Boden. Sie zittert am ganzen Körper. Als er ihre Hände fasst, spürt er, dass sie eiskalt sind.
»Ich bin ja so froh, dass du wieder da bist, Julia«, sagt er sanft. »Wo ist der Heinz? Ist er hinunter ins Dorf gelaufen?«
Sie muss husten, presst die Hände vor den Mund und schüttelt den Kopf.
»Er war doch bei dir, oder?«
»Der Heini ist bei mir geblieben, weil ich wieder heimgewollt hab«, wispert sie. »Aber jetzt ist er fort. Weil er nicht wieder zurück nach Hause will.«
»Fort? Wohin?«
»Irgendwohin.«
Ihre Zähne schlagen aufeinander; wie es scheint, hat sie Schüttelfrost vor Erschöpfung. Hohnermann entscheidet, dass er sich zuerst um Julia kümmern muss, das kranke Mädchen darf hier nicht länger im Nieselregen sitzen. Was aus Heinz geworden ist, muss später geklärt werden.
»Komm, Julia. Wir gehen jetzt miteinander ins Dorf. Du musst keine Angst haben, deine Eltern haben sich große Sorgen gemacht, sie werden froh sein, dich wiederzuhaben.«
Sie gibt keine Antwort. Doch als sie nun mühsam aufsteht und ganz wackelig auf den Beinen ist, begreift er, dass sie den Weg nicht schaffen wird. Kurz entschlossen nimmt er sie auf seine Arme und trägt sie hinunter ins Dorf.