Kapitel 15

Als sie in der Fabrik bemerken, dass die Gartenhütte der Villa brennt, ist schon alles zu spät. Richard Bommel sieht es, als er den Handwagen voller Holzplatten aus dem Lager hinüber in die Halle zieht, und schreit laut: »Feuer! Feurio!«

Einige Arbeiter laufen auf den Hof hinaus, Julius Offenbach eilt zu Ilse Küpper ins Büro, und sie ist so erschrocken, dass sie das Telefonat, das sie gerade führt, abrupt beendet. Vom Hof der Fabrik aus kann sie sehen, wie die Flammen aus dem Dach der Hütte schlagen. Hastig fragt sie, wo Oskar Michalski sei.

»Der ist hinübergerannt wie der Deibel.«

Um Gottes willen, denkt sie und ruft drei der jüngeren Arbeiter zu sich. »Schnell! Laufen Sie hinüber und halten Sie Herrn Michalski fest. Dass er nicht versucht, in die brennende Hütte einzudringen!«

Dann schickt sie ihre Leute mit Eimern und Kannen zur Villa, dass sie Wasser zum Löschen holen. Es ist ihr klar, dass die Hütte nicht mehr zu retten ist, aber das Feuer darf auf keinen Fall die umstehenden Bäume und das Buschwerk entzünden.

Als sie selbst schließlich zum Ort des Geschehens läuft, ist dort eine wilde Rangelei im Gang. Oskar Michalski muss von drei Männern festgehalten werden, er schlägt um sich wie ein Wilder, weil er noch etwas von seiner Habe aus der Hütte holen will.

»So nehmen Sie doch Vernunft an!«, schreit sie ihn an. »Wollen Sie sich umbringen? Dadrin ist nichts mehr zu retten!«

Er starrt sie aus rot entzündeten Augen wie ein Irrsinniger an, dann unternimmt er noch einen halbherzigen Versuch, sich loszureißen, aber schließlich hockt er sich auf den Boden und vergräbt das Gesicht in den Händen.

»Der ist schon drin gewesen«, sagt einer der jungen Arbeiter. »Wir haben ihn grad noch rausgeholt, bevor das Dach eingestürzt ist.«

Dann kommen ihre Leute mit Eimern und Kannen voller Wasser, und sie sorgt dafür, dass sie es auf das Buschwerk und die Baumstämme gießen. Es ist eine mühsame Arbeit, die wohl nicht viel gebracht hätte, aber sie haben Glück, denn es beginnt zu regnen, und so können sie verhindern, dass sich das Feuer weiter verbreitet. Sie ist die ganze Zeit über beschäftigt, rennt hierhin und dorthin, fasst selbst mit an und steht schließlich erschöpft und verdreckt von den schwelenden Trümmern der ehemaligen Gartenhütte. Da erst sieht sie, dass Helga Schütz neben Oskar Michalski am Boden kniet und ihm das ascheverschmierte Gesicht streichelt.

»Das ist doch alles net so schlimm«, hört sie sie auf ihn einreden. »Ich bin nur froh, dass dir nix geschehen ist, Oskar. Die Hütte, die war sowieso baufällig, um die ist es net schade. Wenn wir erst das Haus haben, dann wird alles gut …«

Ilse ist so gerührt, dass sie Helga die despektierliche Äußerung über das schöne alte Gartenhaus verzeiht. Bisher ist Helga noch nie hinauf zur Fabrik gelaufen, weil sie nicht will, dass die Leute im Dorf über sie reden. Was Ilse nicht recht verstehen will, aber wie es scheint, sind die Dörfler mitunter gnadenlos. Nun aber muss Helga solche Angst um Oskar Michalski gehabt haben, dass ihr alles gleich ist.

»Ich war neulich so grob zu dir, Oskar«, hört sie Helga weiterreden. »Das darfst du net ernst nehmen. Das war nur wegen dem Heini, weißt du …«

Da geht Ilse beiseite und kümmert sich lieber um ihre Arbeiter, denn sie will die privaten Gespräche der beiden nicht belauschen. In der Fabrik bedankt sie sich bei ihren Leuten, gibt ihnen eine halbe Stunde Zeit, sich zu besinnen und die Gerätschaften wieder an Ort und Stelle zu räumen. Dann will sie rasch Carla Ritter hinüber zu dem verbrannten Gartenhaus schicken, dass sie sich um Oskar Michalski kümmert, aber noch bevor sie die Villa erreicht, sieht sie ihn schon im Fabrikhof stehen. Helga Schütz ist nicht mehr bei ihm, sie geht den Weg zum Dorf hinunter, dreht sich immer wieder um, als sei ihr etwas ganz unverständlich.

»Gehen Sie hinüber in die Villa zu Frau Ritter«, sagt sie zu Oskar. »Damit Sie sich ein wenig ausruhen und zu sich kommen können. Frau Ritter soll Ihnen fürs Erste eine Unterkunft in der Villa richten. Wenn’s besser geht, schauen Sie bei mir im Büro herein, ich bin jederzeit für Sie da.«

Er steht so niedergeschlagen vor ihr, dass sie ganz besorgt wird. Hemd und Hose sind angesengt, das Gesicht schwarz vom Rauch, die Augen entzündet.

»Vielen Dank, Frau Direktor«, sagt er. »Ich wasch mir nur den Dreck aus dem Gesicht, dann geh ich wieder an meine Arbeit.«

Das kennt sie schon von ihm, und es gefällt ihr nicht. Immer wenn es ihm besonders schlecht geht, tut er so, als wäre nichts, und stürzt sich in die Arbeit. Was weder für ihn noch für seine Arbeit gut ist, das hat man neulich gesehen, als er sich ganz unnötigerweise einen Stromschlag eingehandelt hat. Aber leider kann sie nicht verhindern, dass er kurze Zeit später schon wieder in der Halle an seinem Platz steht. Kopfschüttelnd geht sie ins Büro, wo Fräulein Sonntag auf die Schreibmaschine einhämmert, und notiert in der Akte »Betriebsrat« den Tagesordnungspunkt »Anschaffung einer Feuerspritze für die Fabrik«. Das ist nach der heutigen Erfahrung eine Investition, zu der sie fest entschlossen ist, aber sie wird es den Herren Betriebsräten als Vorschlag verkaufen, damit sie etwas zu bereden haben, und ihnen schließlich das Gefühl vermitteln, der Frau Direktor eine wichtige Anschaffung zum Wohl der Arbeiterschaft abgerungen zu haben. So sind sie zufrieden und mischen sich nicht in ihre geschäftlichen Entscheidungen ein. Als sie die Akte aufatmend wieder zuklappt, merkt sie, dass ihr Magen schon wieder rebelliert. In letzter Zeit passiert ihr das häufig; vor allem am frühen Morgen wacht sie oft mit einem Übelkeitsgefühl auf, das sich zum Glück bis zum Frühstück wieder gibt. Vermutlich hat sie sich bei den vielen Aufregungen einen nervösen Magen eingehandelt, ein Erbe, das ihr Vater ihr weitergegeben hat, der in schwierigen geschäftlichen Situationen zu Mittag nur Haferbrei zu sich nehmen konnte. So weit ist es mit ihr zum Glück noch nicht, sie isst mit gutem Appetit alles, was Carla für sie kocht, nimmt sich sogar größere Portionen als früher, und wenn sie sich nicht täuscht, hat sie etwas zugenommen.

Nach Fabrikschluss sieht sie Oskar Michalski bei der ausgebrannten Hütte stehen und in den regennassen Trümmern herumstochern. Er tut ihr unendlich leid, wie er so verzweifelt nach den Resten seiner Habe sucht, und sie fragt sich, wie es möglich war, dass die Hütte plötzlich in Flammen aufgegangen ist. Hat er den Ofen angeheizt und vergessen, die Ofenklappe zu schließen? War die Petroleumlampe nicht gelöscht und hat ein Stück Papier oder etwas anderes Brennbares entzündet? All das ist unwahrscheinlich, dennoch wird sie ihn fragen. Es wäre gut, wenn sich dieser Brand auf solche Weise klären ließe, denn die andere Möglichkeit wäre, dass jemand die Hütte angezündet hat. Aber wer? Und warum?

Ach, jetzt fehlt ihr das abendliche Gespräch mit Richard, der solch eine kluge und einfühlsame Art hat, sie zu beruhigen. Aber er ist vorgestern nach Frankfurt gefahren, wo er offensichtlich ernste Angelegenheiten zu besprechen hat, denn er ist vor seiner Abfahrt ungewöhnlich nervös und auch etwas kurz angebunden gewesen. Ob die Bank in eine Schieflage geraten ist? Aber das ist bei der momentan positiven wirtschaftlichen Entwicklung eher unwahrscheinlich. Vielleicht hat er sich Ärger eingehandelt, weil er den Kredit an ihren Bruder Josef befürwortet hat, der ja offenbar seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Nun – sie hat Richard seinerzeit abgeraten, aber er hat nicht auf sie hören wollen.

Das Abendbrot nimmt sie in Richards Abwesenheit gemeinsam mit Carla im Speisezimmer ein und hat alle Mühe, ihre aufgeregte Haushälterin zu beruhigen.

»Immer trifft’s die Leut, die sowieso schon arm dran sind«, jammert Carla, die Oskar Michalski ins Herz geschlossen hat. »Ich hab ihm oben eine der Dienstbotenkammern hergerichtet, dass er wenigstens ein Bett hat, wo er doch nur noch die Kleider besitzt, die er am Leib trägt. Frisch bezogen hab ich’s und alles sauber gemacht, dass er sich ein bisschen wohlfühlen kann nach dem Schrecken. Ein Abendbrot hab ich ihm auch gerichtet und eine Flasche von dem guten Rotwein hingestellt, das werden Sie mir doch gewiss net verübeln, Frau Küpper …«

»Natürlich nicht. Allerdings wird er die Flasche wohl heute Abend noch leeren.«

»Ach, der verträgt das schon. Nach dem Schrecken ist ein guter Wein Balsam für die Nerven …«

Carla macht sich in mütterlicher Sorge auch Gedanken, wie man ihm das Nötigste beschaffen könnte. Kleider und Wäsche. Rasierzeug, was ein Mannsbild doch benötigt. Schuhe und Socken. Eine warme Jacke für den kommenden Winter.

»Das wird sich alles finden, Carla. Ich werde ihm eine Summe vorstrecken, da kann er einkaufen. Und außerdem hat er ja Freunde, die ihm helfen können.«

»Hier in der Fabrik, da hat er gewiss Freunde, da ist er gut gelitten, der Herr Michalski«, meint Carla. »Aber drunten im Dorf, da werden nur boshafte Reden über ihn geführt. Vor allem die Schütz Gertrud, die lässt keine Gelegenheit aus, über den Herrn Michalski herzuziehen. Und andere tun’s auch. Weil er ja die Helga Schütz zur Untreue verführt hätt und darum schuld sei, dass sie ihren Mann verlassen hat. So reden die und noch Schlimmeres, das kann ich hier bei Ihnen gar net aussprechen, weil’s so unchristlich ist.«

Ilse bemerkt amüsiert, dass sie in dieser Hinsicht nicht empfindlich sei, aber Carla will ihr trotzdem nicht die Ausdrücke nennen, mit denen der Herr Michalski unten im Dorf bezeichnet wird.

»Dass die ihm die Hütte angezündet haben, da steckt die Schütz Gertrud dahinter, darauf schwör ich jeden Eid, Frau Küpper!«

»Nun mal keine vorschnellen Verdächtigungen, Carla«, wendet Ilse ein. »Der Brand kann ja auch eine natürliche Ursache haben.«

Das hält Carla für ganz unmöglich. Am späten Nachmittag sei es passiert, wo der Herr Michalski seit dem Morgen gar nicht mehr in seiner Hütte gewesen ist.

»So eine Hütte brennt doch net von selber ab, Frau Küpper. Da hat sich einer hingeschlichen, ein Fenster eingeschlagen und einen ölgetränkten Lappen hineingeworfen, den er vorher angezündet hat. So geht das, Frau Küpper, wenn man einen Brand legen will!«

»Du kennst dich ja gut aus«, scherzt Ilse.

»Das will ich meinen«, nickt Carla. »Vor Jahren in Steinbach, da hat ein Onkel von meinem Mann selig seine eigene Scheune angezündet. Der hat das grad so gemacht. Aber wie er es der Versicherung gemeldet hat, da ist es aufgeflogen, weil er die Ölflasche bei der Scheune hat liegen lassen …«

»Ich hab gar nicht gewusst, dass du so eine kriminelle Verwandtschaft hast, Carla …«

Dann hält sie inne, weil Oskar draußen an der Tür der Villa läutet und Carla ihn einlassen muss. Wie lästig, denkt Ilse. Solange er hier wohnt, werde ich ihm einen Hausschlüssel geben müssen. Richard wird das wenig gefallen, aber es ist praktischer. Sonst muss ihm immer jemand öffnen, wenn er in sein Zimmer will, und es könnte ja auch sein, dass er am Abend erst spät heimkommt. Sie geht ins Arbeitszimmer und sucht in der Schreibtischschublade, wo noch der Schlüssel ihrer verstorbenen Mutter liegt.

»Herr Michalski!«, ruft sie ihn im Flur. »Kommen Sie doch mal kurz zu mir herunter.«

Er ist schon im Dachgeschoss und geht die Treppe langsam, mit schweren Schritten wieder hinab. Dreckig ist er, die Arme bis an die Ellbogen schwarz von der Asche, in der er herumgewühlt hat, und auch sonst schaut er aus wie ein Kohlenträger.

»Wenn’s Ihnen recht ist, Frau Küpper«, sagt er. »Ich würd mich gern erst waschen.«

»Natürlich …«, gibt sie hastig zurück.

Wie dumm, dass sie nicht daran gedacht hat. Ärgerlich über sich selbst geht sie ins Wohnzimmer und nimmt eine Zeitschrift zur Hand, die Richard abonniert hat und die er ihr stets hinlegt, damit sie darin liest. Es ist eines dieser bunten Magazine, die in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, nennt sich Uhu, und Richard lobt sowohl die ausgezeichneten Artikel zu Film, Musik, Theater und Kunst als auch die Fotografien und satirischen Zeichnungen. Sie hat bereits einen ganzen Stapel davon auf der Kommode liegen, gelesen hat sie aber kaum darin, weil ihr die Zeit dazu fehlt und ihr Interesse sich in Grenzen hält. Jetzt allerdings, da Richard in Frankfurt ist, wird sie sich einige Artikel daraus zu Gemüte führen. Schon deshalb, weil sie ihm eine Freude machen will, aber auch, weil sie sich ohne ihn sehr einsam fühlt. Bisher hat er noch nicht angerufen, was sie verwundert, aber er wird beschäftigt sein und sicher auch an den Abenden Verpflichtungen haben. Nein, sie ist nicht eifersüchtig. Das wäre lächerlich. Er liebt sie, hat ihr sogar einen Antrag gemacht, was sie ihm hoch anrechnet. Allerdings haben sie dieses Thema beide seit Wochen nicht mehr berührt.

Sie blättert herum, schaut sich einige Fotografien an, es fällt ihr jedoch schwer, sich auf einen Artikel zu konzentrieren, weil sie zu unruhig ist. Als Oskar Michalski nach einer Weile an die Tür klopft, ist sie fast erleichtert und legt die Zeitschrift beiseite.

»Kommen Sie herein und setzen Sie sich zu mir! Nachdem jetzt der erste Schrecken überstanden ist, sollten wir darüber reden, wie ich Ihnen helfen kann.«

Er bleibt zögernd an der Tür stehen.

»Dankschön, Frau Küpper. In den dreckigen Sachen möchte ich mich lieber nicht auf den schönen Sessel setzen. Und zu helfen ist mir auch nicht, die Mühe können Sie sich sparen.«

Ach, herrje! Jetzt hat es ihn wirklich böse erwischt, so hoffnungslos hat sie ihn noch nie gesehen.

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagt sie ein wenig ruppig. »Wenn Sie nicht auf dem Sessel sitzen mögen, dann nehmen Sie sich den Stuhl da drüben. Und dann gehen wir die Angelegenheit einmal in Ruhe durch.«

Er gehorcht, aber sie sieht ihm an, dass er sich nichts von diesem Gespräch erwartet. Er stellt den Stuhl ein Stück entfernt von ihr hin, lässt sich darauf nieder und meint: »Bevor Sie mich fragen: Ich hatte weder den Ofen angeheizt noch die Petroleumlampe brennen. Und elektrischen Strom gibt es nicht in der Hütte, wie Sie ja wissen.«

»Brandstiftung?«, fragt sie.

Er nickt und schaut auf seine zerkratzten Hände. Die Fingernägel sind noch schwarz umrandet.

»Haben Sie einen Verdacht?«

Die Frage ruft ein kurzes, hartes Lachen hervor.

»Da gäb’s einige drunten im Dorf. Aber beweisen kann man es nicht. Ich hab alles abgesucht, da ist nichts Verdächtiges. Und wenn etwas herumgelegen hätte, dann ist es bei den Löscharbeiten zertreten worden.«

»Wenn ich es zur Anzeige bringe, wird sich die Polizei im Dorf umhören«, erklärt sie. »Am hellen Nachmittag geht doch keiner unbemerkt zur Villa hoch.«

»Die halten alle zusammen, Frau Küpper. Auch wenn sie sonst nicht immer einig sind. Aber dass die einen Dingelbacher an die Polizei verraten – da muss schon viel passieren.«

Sie ist anderer Meinung. Ein Brandstifter muss bestraft werden, das wäre ja noch schöner, wenn man solch einen Feuerteufel frei herumlaufen ließe. Außerdem muss er Schadenersatz zahlen.

»Deshalb sollten Sie eine Liste der verbrannten Wertgegenstände anfertigen«, rät sie ihm. »Gewiss sind auch wichtige Papiere wie der Ausweis oder das Arbeitsbuch verbrannt. Haben Sie Geld in der Hütte aufbewahrt?«

Er will es erst nicht sagen, aber schließlich gibt er zu, seine Ersparnisse in einem alten Blumentopf zwischen den Gartenmöbeln versteckt zu haben.

»Hätt ich’s nur in der Erde vergraben«, stöhnt er. »Dann wär’s vielleicht heil geblieben. Aber so ist alles hin.«

»War es viel?«

»Fast tausend Reichsmark«, sagt er dumpf. »Ich wollte die erste Ladung Steine fürs Haus damit zahlen. Der Killinger Hannes kennt einen, der es für ihn günstig macht, da hätten wir sogar noch den Mörtel dazugekriegt.«

Tausend Reichsmark! Die muss er sich bei seinem kleinen Lohn buchstäblich vom Mund abgespart haben. Ilse bekommt eine Wut auf den verdammten Kerl, der Oskar Michalski das angetan hat. Wenn es tatsächlich jemand aus dieser Schütz-Familie gewesen ist, dann wird er den Schaden mit Zins und Zinseszins ersetzen müssen. Schließlich ist Otto Schütz kein armer Mann.

»Die tausend Mark gebe ich Ihnen«, sagt sie spontan. »Die zahlen Sie mir zinslos zurück, wenn Sie es können.«

Jetzt lächelt er sie an. Glücklich sieht er nicht dabei aus, aber sie spürt seine Wärme und Dankbarkeit.

»Das kann ich net annehmen, Frau Küpper«, meint er. »Und ich will’s auch nicht, weil ich jetzt denk, dass ich das Haus wohl auf Sand gebaut hätte. Und darum werd ich’s wohl sein lassen.«

Sie ist verblüfft, dass er auf einmal so einsichtig geworden ist. Das Vorhaben, hier in Dingelbach ein Haus für sich und seine Helga zu bauen, war in ihren Augen immer eine fragwürdige Geschichte. Nur sorgt sie sich, dass er nun vielleicht seine Anstellung kündigen könnte, denn dann hätte sie einen ihrer besten Leute verloren.

»Denken Sie erst einmal in Ruhe über alles nach, Herr Michalski«, rät sie ihm. »Momentan stehen Sie noch unter dem Eindruck dieses Brandes, da sehen Sie die Dinge düsterer, als sie es sind. Sie müssen ja nicht in Dingelbach wohnen. Suchen Sie sich eine Wohnung in der Umgebung, dann gebe ich Ihnen einen Zuschuss zu den Fahrtkosten, und wenn Sie erst verheiratet sind, kann Ihre Frau ja dazuverdienen. Wie ich hörte, kann sie gut nähen. Damit lässt sich doch etwas anfangen.«

»Ich weiß nicht«, sagt er leise und schaut wieder auf seine Hände.

»Was wissen Sie nicht?«, fragt sie ungeduldig.

Er schaut sie müde an. Es hat Zeiten gegeben, da hat er ihr vieles anvertraut, da haben sie lange und gute Gespräche miteinander geführt. Aber in den vergangenen Monaten ist es still zwischen ihnen geworden, da ist er zornig auf sie gewesen, weil sie seine Hausbaupläne nicht unterstützen wollte.

»Es könnt sein, dass ich ganz allein fortgeh, Frau Küpper«, gesteht er. »Weil ich jetzt nicht mehr weiß, ob es sich lohnt zu bleiben.«

Also doch! Ein Wunder, dass er erst jetzt darauf kommt. Er ist ein so treuer Kerl, hat lange und geduldig gehofft und gewartet – und nun auf einmal ist ihm der Knopf aufgegangen. Ilse ist schon lange der Ansicht, dass Helga Schütz diesen netten Menschen schamlos ausnutzt. Weit über ein Jahr lang hat sie ihn hingehalten, Versprechungen gemacht, aber gleichzeitig ängstlich jede Begegnung vermieden, weil sie meint, dass sie bis zu ihrer Heirat keinen Anlass zu Gerede geben darf. Weil sie ja unbedingt mit ihm in Dingelbach leben will, damit sie ihren Sohn sehen kann. Damit tut sie ganz sicher weder dem Jungen noch Oskar Michalski noch sich selbst einen Gefallen. Und nun scheint der Krug, der so lange zu Wasser ging, schließlich doch gebrochen zu sein. Es tut ihr unsagbar leid für ihren Angestellten, den sie auch persönlich gern mag. Am liebsten würde sie dieser eigensüchtigen Person einmal gründlich ihre Meinung sagen.

»Am besten überschlafen Sie das alles erst einmal«, rät sie ihm. »Nach dem Schrecken heute sehen Sie alles zu schwarz. Vielleicht hat sich Ihre Bekannte inzwischen Gedanken gemacht, und Sie sprechen sich miteinander aus?«

Er reagiert nicht darauf. Stattdessen steht er auf und macht Miene, sich zu verabschieden.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich tun, Frau Küpper. Und es tut mir leid, dass ich in der letzten Zeit gemeint hab, ich müsste ärgerlich auf Sie sein. Aber nun sind mir die Augen aufgegangen, und ich weiß, dass Sie recht gehabt haben …«

»Darauf bin ich wenig stolz«, versetzt sie. »Es wäre mir lieber gewesen, meine Warnung hätte sich als unnötig erwiesen. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass sich die Angelegenheit auf die eine oder andere Art lösen lässt, und ich wünsche mir sehr, dass Sie mir als Mitarbeiter in meiner Fabrik erhalten bleiben.«

Sie steht auf und reicht ihm die Hand, was ihn verlegen macht. Aber er ergreift sie und drückt sie sogar fest, dann nimmt er den Stuhl und stellt ihn behutsam an seinen ursprünglichen Platz zurück.

»Gute Nacht, Frau Küpper.«

»Schlafen Sie gut, Herr Michalski! Ach – das hätte ich fast vergessen. Hier ist der Hausschlüssel, dann können Sie kommen und gehen, wann es Ihnen gefällt.«

Den Rest des Abends verbringt sie lesend, blättert ein Heft des Uhu nach dem anderen durch und gönnt sich dazu zwei Gläser Rotwein. Richard ruft auch an diesem Abend nicht an, aber sie lässt keine Enttäuschung aufkommen, sondern notiert sich auf einem Zettel, was morgen in der Fabrik anliegt. Die Polizeistelle Bad Homburg anrufen und den Brand melden. Die Versicherung informieren. Mehrere Lieferungen versandfertig machen. Mit dem Holzlieferanten über einen günstigeren Preis bei Abnahme größerer Mengen verhandeln. Oskar einen Vorschuss zahlen und ihm einen Tag freigeben, dass er sich das Nötigste kaufen kann. Ach, es wäre schade, ihn zu verlieren. Ob sie einfach mal zu dieser Helga Schütz gehen soll, um mit ihr zu reden? Besser nicht – in Liebesangelegenheiten sollte man sich nicht einmischen. Sie schon gar nicht, weil sie so wenig diplomatisch ist. Aber vielleicht kann sie über Marthe Haller etwas ausrichten? Die ist doch mit Helga Schütz befreundet und hat sie über ein Jahr lang bei sich wohnen lassen. Versuchen könnte sie es. Bei der Gelegenheit kann sie gleich einmal Frieda Haller fragen, ob sie bereit wäre, im Frühjahr eine szenische Lesung in der Villa abzuhalten.

Sie geht früher als gewöhnlich zu Bett, aber der Rotwein sorgt dafür, dass unschöne Gedanken fernbleiben und sie rasch einschläft. Am Morgen ist ihr wieder schlecht, sie muss sogar eilig ins Badezimmer laufen und würgt über dem Waschbecken. Auch beim Frühstück ist sie noch nicht wieder auf dem Damm, den Kaffee lässt sie stehen und isst nur etwas Weißbrot mit Butter und Honig.

»Der Rotwein ist mir nicht bekommen«, erklärt sie Carla, die sie sorgenvoll anblickt.

»Habens einmal drüber nachgedacht, dass Sie vielleicht schwanger sein könnten?«, fragt Carla.

»Ich? Schwanger? In meinem Alter?«, lacht sie und findet, dass Carla einen guten Witz gemacht hat.

»Das hat mit dem Alter nichts zu tun«, beharrt Carla. »Solang wir Weibsbilder noch alle vier Wochen die … Dingsbums … haben, da kann des allweil passieren.«

Ihre Monatsblutung lässt allerdings auf sich warten. Wie lange schon? Drei Wochen? Oder länger? Es hat sie nicht weiter beunruhigt, weil ihre Blutungen immer unregelmäßig gekommen sind. Vielleicht ist sie ja schon in den Wechseljahren. Übernächstes Jahr wird sie vierzig. Ihr Vater sagte von Frauen dieses Alters, sie seien »jenseits von Gut und Böse«.

In der Fabrik ist sie ganz gerührt von der Hilfsbereitschaft ihrer Arbeiter. Sie haben allerlei Dinge mitgebracht, die Oskar Michalski über die erste Not hinweghelfen sollen, da häufen sich Taschen und Bündel in der Halle mit Kleidung und Wäsche, Lebensmitteln, Hygieneartikeln, sogar ein Paar Schuhe und eine nagelneue Mütze sind dabei. Oskar ist ganz verlegen über so viel Hilfsbereitschaft, er geht herum und schüttelt allen die Hände und erhält zu guter Letzt noch einen Geldbetrag, den Julius Offenbach, der stellvertretende Vorsitzende des Betriebsrats, für ihn gesammelt hat.

»Das ist doch ganz selbstverständlich«, sagt Julius Offenbach, der noch unter Ilses Vater in der Fabrik gearbeitet hat. »In der Not, da halten wir zusammen. Da braucht’s keine Gewerkschaft net, das tun wir aus freien Stücken.«

Nicht alle Arbeiter sind über diese Rede erfreut, denn einige von ihnen gehören einer Gewerkschaft an und sind emsig dabei, weitere Mitglieder zu werben. Auch Ilse spricht in der Mittagspause ein paar Worte, erklärt, dass sie sich über den guten Zusammenhalt ihrer Arbeiter freut und dass Herr Michalski vorerst eine Unterkunft in der Villa hat, für die er nichts bezahlen muss.

So, denkt sie. Jetzt ist er ganz sicher gerührt und wird nicht gleich an eine Kündigung denken, das wäre mir und den Kollegen gegenüber nach solchen Freundschaftsbeweisen nicht anständig.

Den Gang hinunter ins Dorf hebt sie sich bis zum Abend auf, weil sie hofft, dass dann keine neugierigen Kundinnen mehr im Laden sind und sie mit Marthe Haller allein sprechen kann. Kurz vor Ladenschluss geht sie hinunter und wundert sich über die vielen Dörfler, die beim Backhaus versammelt sind und aufgeregte Debatten führen. Dann sieht sie, dass sie um ein Auto herumstehen, einen dieser neuen Kleinwagen, die man in Frankfurt jetzt häufiger sieht. Wie es scheint, hat der Fahrer das Backhaus gerammt. Wie groß der Schaden ist, kann sie nicht sehen, weil zu viele Leute davorstehen, aber den Fahrer, der noch im Wagen sitzt, erkennt sie gleich. Es ist Otto Schütz, der Bürgermeister.

Es gibt also doch eine ausgleichende Gerechtigkeit, denkt sie befriedigt. Kauft sich ein Auto und kann nicht fahren, dieser Idiot.

Im Dorfladen sind leider doch noch drei Kundinnen anwesend, die sich aufgeregt über den Unfall unterhalten. Die »Frau Küpper von der Villa« wird ehrerbietig begrüßt, und man will ihr den Vortritt lassen, doch sie besteht darauf, dass alles nach der Reihe geht, sie wartet, bis sie dran ist.

»Da hat’s ja gestern gebrannt bei Ihnen«, sagt eine der Frauen. »Ist’s ein schlimmer Schaden?«

»Ja, leider. Das Gartenhaus ist vollkommen niedergebrannt. Heute habe ich die Polizei in Bad Homburg informiert, sie werden die Sache untersuchen.«

Daraufhin sind die Dörflerinnen still und schauen einander bedeutsam an. Aha, denkt sie. Wenn ich jetzt Gedanken lesen könnte, wüsste ich vermutlich, wer den Brand gelegt hat. Vielleicht bringen es die Polizisten ja an den Tag.

Sie wartet geduldig, bis die letzten Kundinnen gegangen sind, dann kauft sie Hautcreme, Schokolade und ein Fläschchen Kölnisch Wasser und überlegt, wie sie ihr Anliegen am besten zur Sprache bringt. Zu ihrer Überraschung kommt ihr Marthe Haller entgegen.

»Wie geht’s denn dem Herrn Michalski«, erkundigt sie sich mitleidig. »Das hat ihn gewiss sehr mitgenommen, netwahr?«

»Ach ja, um den mache ich mir große Sorgen«, hakt Ilse ein. »Stellen Sie sich vor, er will vielleicht kündigen und von hier fortgehen.«

»Ach Gott!«, sagt Marthe Haller erschrocken. »Das hat er doch wohl net im Ernst gesagt!«

»Ich fürchte doch. Er kam mir gestern recht verzweifelt und hoffnungslos vor. Ich hab mich natürlich bemüht, ihn aufzurichten. Es wär mir gar nicht recht, wenn er kündigen würde, weil ich ihn als Arbeiter in meiner Fabrik sehr schätze.«

»Da wird er sich hoffentlich noch besinnen«, sagt Marthe Haller, und Ilse kann an ihrer Miene ablesen, dass sie sich nun heftig Gedanken macht. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Frau Küpper?«

Ilse ist zufrieden, diesen Pfeil abgeschossen zu haben, und geht zum nächsten Punkt über.

»Wenn Ihre Tochter Frieda da wäre, ich hätte sie gern etwas gefragt.«

»Die Frieda? Die ist grad aus Frankfurt gekommen. Herta, geh doch einmal hinauf und hol sie.«

Dass auch Herta im Laden war, hat Ilse gar nicht bemerkt. Es muss daran liegen, dass dieses Mädchen so grandios unauffällig ist, man übersieht sie leicht. Seltsam, wie unterschiedlich die Haller-Töchter doch sind. Frieda, die jetzt mit erwartungsvollem Lächeln im Laden erscheint, ist ein Wesen, das sofort alle Blicke auf sich zieht. Hübsch ist sie, beweglich, strahlend, und da sie noch die Stadtkleidung anhat, schaut sie beinahe elegant aus.

»Guten Abend, Frau Küpper! Das ist aber eine seltene Ehre, dass Sie zu uns in den Dorfladen kommen. Was kann ich denn für Sie tun?«

Ilse erzählt, dass es verschiedene kulturelle Veranstaltungen in der Villa geben wird und dass sie sich sehr freuen würde, wenn Frieda Lust zu einer szenischen Lesung hätte. Vielleicht sogar mit einigen Kollegen von der Schauspielschule gemeinsam.

Frieda ist sofort Feuer und Flamme, weil sie ja in der Schauspielschule Szenen einüben, die man hier aufführen könnte. Marthe Haller scheint weniger angetan zu sein, sie räumt nervös auf dem Ladentisch herum und bemerkt nur, dass Frieda im Herbst ohnehin sehr eingespannt sei, weil sie doch wie jedes Jahr das Krippenspiel für Weihnachten einüben müsse.

»Das kriegen wir schon gebacken, Mama!«, meint Frieda zuversichtlich.

Ilse freut sich und kündigt an, dass man über das Organisatorische gemeinsam mit Herrn Goldstein verhandeln würde. Dann bezahlt sie und trägt ihren Einkauf hinauf in die Villa. Dort erfährt sie von Carla, dass Richard in ihrer Abwesenheit zweimal angerufen hat.

»Er lässt Ihnen ausrichten, dass er mit dem Nachtzug hinauf an die Ostsee fährt. Nach Heiligendamm, hat er gesagt.«

Ilses gehobene Stimmung sinkt um einiges. Ach, wie ärgerlich, dass sie das Gespräch verpasst hat!

»Hat er gesagt, was er dort zu tun hat?«

Carla sieht ihre Enttäuschung. Sie druckst ein wenig herum und sagt dann zögernd. »Wenn ich recht verstanden hab, will er dort mit seiner Frau Mutter einen Urlaub verbringen.«