Kapitel 17

In der Stadtvilla der Großmutter gibt es viele Zimmer, die alle unterschiedlich eingerichtet sind. Ida hat jedes einzelne inspiziert und begriffen, zu welchem Zweck es dient. Da ist vor allem eine Bibliothek, die gefällt ihr, weil es da viele Bücher gibt, die sie noch nicht gelesen hat. Auch sehr alte Folianten findet man dort, aber die darf sie nicht ausleihen. Dann gibt es ein Speisezimmer, da stehen Vitrinen mit Geschirr und Silberzeug und ein langer Tisch, den man sogar an den Enden herausziehen kann. Außerdem ein Musikzimmer mit einem Cembalo und mehreren Notenschränken, dazwischen hängen Geigen an den Wänden, und in der Ecke steht ein Cello in einem schwarzen Kasten. Es gibt natürlich auch mehrere Schlafzimmer und dann den Salon, wo auch der schwarze Flügel steht und viele Gemälde an den Wänden zu sehen sind. Da kann man eine Schiebetür zur Seite drücken und den Salon mit dem Wintergarten verbinden. Ida hat sich alles von der Großmutter zeigen lassen und auch gesagt, wie es ihr gefällt. Sie mag die Bücher und die Musikinstrumente, auch einige Bilder und den Wintergarten mit den exotischen Pflanzen.

Die Vitrinen mit dem vielen Geschirr findet sie überflüssig, und die gedrechselten Möbel und samtbezogenen Sessel sind ihrer Ansicht nach »gackelig«. Die Großmutter hat es sich mit ernster Miene angehört und gemeint: »Es ist schön, dass du ehrlich bist, Kind. Aber du solltest die Gebote der Höflichkeit nicht außer Acht lassen.«

Einmal hat die Großmutter ihr erzählt, dass sie ihrer Großtante so ähnlich sei. Die war Pianistin, hieß Marie Sophie Dupré und war die jüngere Schwester der Großmutter.

»Eine musikalische Hochbegabung«, hat die Großmutter geseufzt. »Aber ihr Starrsinn hat ihr viel Kummer eingetragen.«

»Warum?«

»Weil sie sich damit immer selbst im Weg gestanden hat, Kind. Sie hätte so viel erreichen können, aber sie hat sich mit ihrer kompromisslosen Art alles verdorben.«

Wie sie das gemacht hat, will die Großmutter ihr nicht erzählen. Ida erfährt nur, dass Marie Sophie Dupré schon mit siebenundzwanzig Jahren gestorben ist.

»War sie krank?«

»Nein, Ida. Sie trug ein Kind und hatte eine Fehlgeburt.«

Daran kann eine Frau verbluten, das weiß Ida, weil es im Dorf schon ein paarmal passiert ist.

»Das tut mir leid. Ich glaube, ich hätte sie gern kennengelernt.«

Die Großmutter lächelt und meint, das hätte sie sich auch gewünscht. Ida beschließt, nicht weiterzufragen. Aber sie weiß, dass der Mädchenname der Großmutter Dupré ist, das ist französisch, weil sie Hugenotten sind. Wenn diese Tante Marie Sophie Dupré hieß, dann war sie nicht verheiratet, als sie schwanger wurde. Eine Gemeinheit, dass sie auch noch daran gestorben ist.

Die Großmutter erweist sich als mindestens so starrsinnig wie ihre verstorbene Schwester. Als Ida ihren Wunsch vorträgt, ein anderes Gymnasium besuchen zu wollen, eines, an dem man etwas Anständiges lernt, schüttelt sie nur energisch den Kopf.

»Mein liebes Kind …«, beginnt sie.

Da weiß Ida schon, dass es nicht klappen wird.

»… die Schillerschule ist ein ganz ausgezeichnetes Institut, das sich große Mühe gibt, begabte Mädchen zum Abitur und zu einem Studium zu führen. Wenn es dir dort nicht gefällt, dann solltest du den Fehler zunächst einmal bei dir selber suchen.«

Ida ist verblüfft. Die Großmutter ist bei der Direktorin der Schule gewesen, um sich nach ihrer Enkelin Ida Haller zu erkundigen. Dort hat sie zu hören bekommen, dass Ida Haller eine »problematische Schülerin« sei, die sich nicht in die Schuldisziplin einfüge.

»Du gibst den Lehrkräften Widerworte und maßt dich sogar an, sie zu kritisieren und alles besser zu wissen. Auch sonst lässt dein Benehmen sehr zu wünschen übrig, von der unpassenden Kleidung und dem unmöglichen Haarschnitt gar nicht erst zu reden …«

»Was ist denn mit meinen Haaren?«, wehrt sich Ida. »Ich trage einen Bubikopf, das ist jetzt modern. Und praktisch ist es auch.«

Die Großmutter achtet nicht auf ihren Einwand und geht zu der Sache mit Berta Kahn über.

»Mir ist die Familie Kahn bekannt, ich treffe Bertas Mutter häufig zu verschiedenen kulturellen Anlässen und schätze sie sehr. Berta ist ein begabtes, fleißiges Mädchen, das allerdings im Gegensatz zu dir höflich und wohlerzogen auftritt.«

»Eine hochnäsige Ziege ist sie«, platzt Ida empört dazwischen. »Von Anfang an hat sie mich wie einen dummen Dorftrampel behandelt und ist bei ihren Freundinnen über mich hergezogen. So was lass ich mir nicht gefallen.«

Die Großmutter hält inne. Immerhin scheint sie verstanden zu haben, was Ida meint, denn sie schaut zur Seite und nimmt einen tiefen Atemzug.

»Ich gebe zu, dass es für dich nicht leicht sein mag, mit den Töchtern wohlhabender und gebildeter Familien in eine Klasse zu gehen. Ich halte auch nichts von Duckmäusertum, so etwas möchte ich an meinen Enkelinnen nicht sehen. Aber ich erwarte, dass du einen Weg findest, diese Situation zu lösen.«

»Wie soll das denn gehen?«, will Ida wissen. »Wenn sie mich auf so gemeine Weise ärgern und mir meine Sachen stehlen!«

Die Großmutter starrt auf die Pendeluhr, ihr Mund dabei ist ganz verkniffen. Ob sie jetzt an ihre Schwester denkt? Hat die sich auch nicht unterkriegen lassen, wenn jemand ihr quergekommen ist?

»Du bist doch ein ungewöhnlich kluges Mädchen«, sagt die Großmutter dann und lächelt sie an. »Warum nimmst du die Situation nicht in die Hand und drehst sie so, wie es für dich gut ist?«

»Das tue ich doch!«, versichert Ida. »Ich will auf eine bessere Schule gehen. Mit den Buben, da komme ich gut zurecht.«

Die Großmutter schüttelt den Kopf. Ein Knabengymnasium kommt für Ida nicht infrage, das Thema ist abgehakt.

»Es gibt einen Spruch, Ida«, meint sie. »Der heißt: Wenn du einen Gegner trotz aller Anstrengungen nicht besiegen kannst, dann verbünde dich mit ihm.«

Sie schmunzelt listig dabei, als ob sie Ida ein ganz schlaues Geheimnis verraten hätte. Ida hat diesen Spruch schon irgendwo gehört und ihn lustig, vielleicht auch weise gefunden. Aber für sie selbst ist das nichts.

»Ich soll die Berta zu meiner Freundin machen?«, ruft sie entsetzt. »Im Leben nicht! Mit so einer will ich nichts zu tun haben.«

»Überleg es dir, Ida«, mahnt die Großmutter. »Wenn du so weitermachst, kann es bald um dein Abitur geschehen sein. Und das wäre doch sehr schade, nicht wahr?«

»Ich mache das Abitur«, gibt Ida selbstbewusst zurück. »Und wenn sich alle auf den Kopf stellen!«

»Besser wäre es, du würdest in deinem eigenen sturen Köpfchen etwas bewegen«, meint die Großmutter und lächelt dabei so liebevoll, dass Ida ihr den Satz verzeiht. Sie ist halt schon alt, die Oma, sie denkt, man braucht nur immer höflich zu sein, damit kommt man durch die ganze Welt. Aber sie ist ja auch reich und besitzt eine Villa vielen Zimmern – da kann eine leicht höflich sein.

»Apropos Köpfchen«, sagt die Großmutter, als sie schon aufsteht, um sich zu verabschieden. »Der Bubikopf steht dir nicht übel, Kind. Aber du solltest ihn bei einem guten Frisör schneiden lassen. Warte, ich gebe dir das Geld dafür.«

»Ich brauch keinen Frisör, Oma!«

Sie bekommt trotzdem ganze zehn Mark geschenkt und dazu noch zwei teure Kleiderstoffe, daraus soll »diese Dingelbacher Näherin« ihr etwas Hübsches schneidern. Dass sie die abgelegten »Stadtschuhe« ihrer Schwester Frieda auftragen könnte, hat die Großmutter ihr schon beim letzten Besuch geraten. Aber Friedas Schuhe passen nicht, weil Ida jetzt schon größere Füße hat als ihre Schwester. Und außerdem gefallen ihr diese bunten »Trittchen« nicht.

Mit dem Schulranzen auf dem Rücken und dem Stoffpaket unter dem Arm geht sie durch den Vorgarten der Villa auf die Bockenheimer Landstraße hinaus und überlegt, wie sie das Geld am besten anlegt. Auf jeden Fall wird sie Bücher davon kaufen, aber wenn die Helga ihr tatsächlich ein Kleid näht, will sie sie bezahlen, weil die Helga das Geld braucht. Also darf sie nur einen Teil davon ausgeben. Bei der Hauptwache gibt es einige gute Buchläden, da könnte sie sich umschauen. Die interessanteren Bücher bekommt man allerdings in dem Buchgeschäft bei der Universität, das hat sie schon herausgefunden. Vor einiger Zeit ist sie zur Bockenheimer Warte gelaufen, um sich die Johann Wolfgang Goethe-Universität anzuschauen. Frech wie Oskar ist sie einfach in das Gebäude hineingegangen und hat sich unter die Studenten gemischt, die dort herumgelaufen sind. Die Universität hat Ähnlichkeit mit einer Schule, nur dass die Klassenräume »Hörsäle« genannt werden und dass die Professoren öffentlich ankündigen, was sie unterrichten wollen. Ida hat sich die vielen Ankündigungen an den schwarzen Tafeln angeschaut, und sie hätte am liebsten alle Vorlesungen angehört. Aber dann ist ein schwarz gekleideter Professor mit einem Ziegenbart zu ihr getreten und hat ihr gesagt, dass Schülerinnen hier nichts zu suchen hätten. Da hat sie erst gemerkt, dass sie von allen Seiten angestarrt wurde wie ein fremder Käfer. Das hat vor allem an dem blöden Tornister auf ihrem Rücken gelegen. Aber sie ist später noch zweimal dort gewesen, um sich alle Zettel am Schwarzen Brett genau durchzulesen. Den Tornister hat sie vorher abgenommen und die nette Buchhändlerin im Geschäft gebeten, darauf aufzupassen. Das hat sie auch getan, weil Ida schon mehrfach dort Bücher gekauft hat und weil sie darüber gesprochen haben, was sie so alles liest.

Sie entscheidet sich trotzdem, besser zur Hauptwache zu gehen, weil es schon spät ist und sie dort gleich in die Vorstadtbahn einsteigen kann. Auf dem Weg denkt sie über das Gespräch mit der Großmutter nach und ärgert sich furchtbar, dass die ihr nicht helfen will, an eine bessere Schule zu kommen. Wenn sie ihr Abitur machen will, muss sie also weiterhin auf die dumme Schillerschule gehen und sich mit diesen eingebildeten Ziegen herumschlagen. Aber mit denen wird sie fertig. Auf ihre Weise. Von wegen, sich mit Berta Kahn anfreunden. Das fehlte gerade noch. Die kann ihr den Buckel herunterrutschen. Hochkant!

Im Steinweg geht sie in eine Buchhandlung und schaut sich in den Regalen um. Es ist ziemlich voll, und sie erntet unfreundliche Blicke, weil sie mit dem Tornister auf dem Rücken so viel Platz wegnimmt.

»Die Kinderbücher sind dort drüben, Kleine«, sagt ein älterer Herr zu ihr. »Diese Bücher interessieren dich sowieso nicht.«

Er schiebt einen ziemlichen Bauch vor sich her und nimmt doppelt so viel Platz ein wie sie. Aber so sind die Erwachsenen, sie meinen immer, sie hätten etwas zu bestimmen, auch wenn sie dick und dumm sind. Das fängt schon damit an, dass man in der Bahn immer aufstehen muss, wenn ein Erwachsener sich hinsetzen will. Weil Kinder ja besser stehen können!

»Ich habe gerade Hegels Phänomenologie des Geistes gelesen«, sagt sie. »Jetzt brauch ich was Neues. Können Sie mir etwas empfehlen?«

Klar, dass ihm jetzt die Augen aus dem Kopf fallen. Schon weil sie den Titel des Buchs völlig fehlerfrei ausspricht. Während er noch blöde glotzt, hört sie hinter sich jemanden laut auflachen, und sie dreht sich verärgert um.

»Das war gut!«, sagt Florian Häger und reicht ihr die Hand. »Schön, dich wiederzusehen, Ida. Ich hab oft an dich denken müssen.«

Sie ist so überrascht, dass sie beinahe das Paket fallen lässt, als sie ihm die Hand geben will.

»Danke auch für deine Karte«, sagt sie. »War es schön in Köln?«

»Ja, ich habe meine Eltern und meine Schwester besucht. Und wie geht es dir? Wie ich höre, liest du sehr anstrengende Texte.«

Er sieht hier in Frankfurt ganz anders aus als auf der Wiese in Dingelbach. Er trägt das Haar kürzer geschnitten und hat einen Anzug an, dazu dunkle Lederschuhe, die blank poliert sind. Jetzt glaubt man ihm wirklich, dass er Student der Theologie ist und die feste Absicht hat, einmal ein Priester zu werden. Sein frohes Lachen und die herzliche, unbefangene Art passen nach Idas Ansicht allerdings nicht dazu.

»Halb so schlimm«, meint sie leichthin. »Der Hegel war aber schon ein dicker Brocken. Ich wundere mich immer darüber, dass einer so viele komplizierte Sätze für eine ganz einfach Sache braucht.«

»Es wäre sehr freundlich, wenn Sie Ihre Unterhaltung anderenorts führen können«, sagt der dicke Herr. »Sie blockieren das Bücherregal.«

Ida will Widerworte geben, aber Florian zieht sie beiseite und geht mit ihr in eine andere Ecke des Ladens, wo die Lexika und Wörterbücher stehen und sich weniger Kunden aufhalten. Hier haben sie ihre Ruhe.

»Ich bin auf dem Rückweg von der Wanderung durch Dingelbach gelaufen«, gesteht er. »Ich war sogar im Dorfladen und hab nach dir gefragt. Aber die junge Frau dort hat mir gesagt, du wärest nicht da. Deshalb hab ich einen Gruß ausrichten lassen. Warten konnte ich leider nicht, weil die anderen weiterlaufen wollten.«

Das ist ganz sicher ihre Schwester Herta gewesen. Die neidische Schnalle hat ihr kein Wort davon erzählt!

»Das ist schade«, meint sie. »Aber ich bin jeden Tag in Frankfurt, weil ich doch auf die Schillerschule geh. Und meine Oma wohnt auch hier, die hab ich heute gerade besucht.«

Er schaut sie so eindringlich an, dass ihr ganz seltsam zumute ist. Was hat er nur? Stört ihn vielleicht ihre Frisur? Oder das alte Kleid, das ein Stück zu kurz ist? Die klobigen Schuhe?

Er lächelt jetzt und scheint etwas verlegen. Hat er bemerkt, dass sie nicht gern so angestarrt wird? Jedenfalls fängt er an, ihr allerlei Dinge zu erzählen. Dass das Semester an der Universität jetzt wieder beginnt. Dass er noch viel vorbereiten muss. Dass es in der Studentenbude leider sehr laut und unruhig sei. Und dass er gern an die schöne Wanderung und das hübsche kleine Dorf Dingelbach zurückdenkt.

Ida hört zu und fängt an, sich zu langweilen. »Hast du ein Buch gekauft?«, will sie wissen und weist auf eine dunkelblaue Schwarte, die er unter den Arm geklemmt hat.

»Ach, das?«, meint er verlegen. »Ja, das wollte ich schon immer einmal lesen. Es gehört nicht zu den Büchern, die im Rahmen meines Studiums eine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil …«

»Zeig mal her …«

Bevor er sie daran hindern kann, zieht sie das Buch unter seinem Arm hervor und liest den Titel: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.

Geschrieben von einem Karl Marx.

»Das ist ein Kommunist, stimmt’s?«

»Richtig. Er hat den Kommunismus sozusagen erfunden«, meint er und versucht, ihr das Buch wieder fortzunehmen. Aber Ida hält es fest.

»Geht’s da um die Ungerechtigkeit, dass ein Knecht auf dem Hof kaum etwas für seine Arbeit kriegt und der Hofbauer alles selber einsteckt?«

»Es geht eher um Industrieanlagen«, sagt er. »Grob gesagt ist es so: Ein Arbeiter verdient, gemessen an dem, was er leistet, viel zu wenig, weil der Fabrikherr sich den größten Teil vom Gewinn abschneidet.«

»Das ist doch dasselbe in Grün«, behauptet Ida. »Leihst du mir das Buch? Ich gebe es dir nächste Woche Freitag zurück.«

Er zögert. Wahrscheinlich deshalb, weil das Buch mit dem Kommunismus zu tun hat, und die Kommunisten sind Leute, die gegen die Kirche sind. Das darf ein Theologiestudent vielleicht gar nicht lesen. Im Dorf sind die Kommunisten auch ein rotes Tuch, die Bauern sagen immer, das sind ganz gefährliche Leute, die wollen uns die Höfe wegnehmen.

»Wenn du sowieso schon weißt, was drinsteht«, verlegt sie sich aufs Verhandeln. »Dann kannst du doch auch noch eine Woche mit dem Lesen warten.«

»Na gut«, meint er. »Aber steck es in den Ranzen und lass es besser niemanden sehen, ja?«

»Klar«, nickt sie. »Dann treffen wir uns nächsten Freitag wieder hier in der Buchhandlung. Um halb zwei. Da hab ich Schule aus und warte hier auf die Bahn. Passt dir das?«

»Ja«, sagt er. »Das machen wir so, Ida.«

Er schaut lächelnd zu, wie sie den Ranzen abnimmt, sich hinhockt und das Buch hineinquetscht. Weil der Ranzen jetzt schwer zugeht, hilft er ihr und drückt den Überschlag herunter, damit sie die Riemen befestigen kann.

»Dann bis Freitag«, meint er, als sie damit fertig sind und Ida den schweren Tornister auf den Rücken schwingt. »Ich freu mich, Ida!«

»Ich freu mich auch, Florian!«

Sie gehen miteinander aus dem Buchgeschäft, aber dann fällt Ida ein, dass sie das dumme Stoffpaket liegen gelassen hat, und sie läuft rasch zurück. Es liegt noch an der gleichen Stelle – so ein Glück! Zum Herumschauen hat sie jetzt leider keine Zeit mehr, die nächste Vorstadtbahn geht in zehn Minuten, da muss sie zur Haltestelle laufen. Aber sie hat ja etwas zu lesen, sogar etwas ganz Besonderes, was sie besser niemandem zeigt. Das gefällt ihr. Außerdem ist es schön, Florian nächsten Freitag wiederzusehen. Da wird sie ihn nach der Universität und den verschiedenen Studienfächern ausfragen. Vielleicht kann sie ihn sogar überreden, sie mal in eine Vorlesung mitzunehmen. Dann lässt sie den Tornister wieder im Buchladen und tut so, als wäre sie eine Studentin.

Als sie später in der Bahn sitzt, packt sie das Buch aus und fängt schon einmal an zu lesen. Die Leute im Waggon kennen sie ja nicht, vor denen muss sie das Buch nicht verstecken. Wie immer muss sie erst einmal verstehen, was mit den unbekannten Ausdrücken gemeint ist, aber das hat sie bald heraus, und dann ist es leicht. Es ist sogar richtig spannend, fast hätte sie vergessen, in Dingelbach auszusteigen.

Daheim im Dorfladen stehen mehrere Bäuerinnen und warten, bis sie dran sind, während Herta die Frau Pfarrer mit Kaffee, Zucker und Blaupunkt-Margarine bedient.

»Kannst gleich helfen«, zischt sie Ida zu. »Ich muss noch die Schubladen mit den Kurzwaren durchsehen.«

Aha, denkt Ida. Dann kommt morgen bestimmt der Sirius Engelke mit seinen Koffern, deshalb hat sie wieder diesen verkniffenen Ausdruck im Gesicht. Schade, dass der nicht anbeißt, sie würde so schrecklich gern heiraten, und der würde gut zu ihr passen.

»Komme gleich«, sagt sie im Vorbeilaufen. »Will nur schnell was essen. Wo ist die Mama?«

»Oben. Die Helga ist da«, gibt Herta zurück und verdreht die Augen. Dann stellt sie der Frau Pfarrer die Margarine vor die Nase und fragt, was sie sonst noch für sie tun kann.

»Eine Nähnadel und drei schwarze Knöpf.«

»Die Nadeln gibt’s nur zu zehn Stück im Päckchen, Frau Pfarrer.«

»Dann nur die Knöpf.«

Die Seybold’sche ist geizig wie die Nacht, denkt Ida und geht in die Küche, wo sie erst einmal den schweren Ranzen herunternimmt und das Stoffpaket auf einen Stuhl legt. Dann hebt sie den Deckel von dem Topf, der auf dem Herd steht. Schon wieder Eintopf mit Kartoffeln und Möhren! Die Wurststückchen darin muss man mit der Lupe suchen. Sie lädt sich eine Portion auf den Teller, fischt alle Wurststückchen, die sie entdecken kann, aus dem Topf und setzt sich an den Küchentisch, um zu essen. Wie hässlich die kleine Küche doch ist, so dunkel und die Wand beim Herd rußgeschwärzt. Die Großmutter sitzt in ihrem schönen Speisezimmer und bekommt keinen Möhreneintopf, sondern feinen Fisch und Bratenfleisch serviert. Das ist schon ein Unterschied. Ida verscheucht die Fliegen, die sich auf ihren Teller setzen wollen, und überlegt, ob sie das neue Buch auspacken und am Küchentisch weiterlesen soll. Aber dann wird es vielleicht schmutzig, weil der Küchentisch nie richtig sauber ist. Also lässt sie es besser sein, weil es ja ein geliehenes Buch ist.

Oben in der Kammer der Mutter scheint es nicht fröhlich zuzugehen – ist das die Helga, die so schluchzt? Die ist aber auch immer am Jammern und Heulen, dabei kann sie sich doch freuen, weil sie bald geschieden wird. Ida stellt den leeren Teller in die Spüle und nimmt das Stoffpaket. Dann soll die Helga ihr in Gottes Namen halt ein Kleid nähen und vielleicht noch einen Rock. Sie wird ihr die zehn Mark dafür anbieten, das wird sie bestimmt aufheitern.

Entschlossen steigt sie mit Ranzen und Paket die Stiege hinauf, wuchtet den Ranzen in der Schlafkammer auf ihr Bett und will mit dem Stoff hinüber zur Kammer der Mutter gehen. Aber sie bleibt im Flur stehen, weil sie jetzt die Helga laut weinen hört.

»Zusammenreißen würden sie uns das Haus, hat er gesagt«, schluchzt sie. »Genau wie sie ihm die Gartenhütte angezündet haben. Es hätt keinen Sinn, wir könnten hier in Dingelbach net bleiben …«

Da geht es wohl um den Oskar, denkt Ida. Dass einer aus Dingelbach ihm die Hütte angezündet hat, das könnte schon sein. Vielleicht war’s der Schmidtkunz Rudi zusammen mit dem Koppel Hans? Denen wär so was zuzutrauen. Aber deshalb gleich davonlaufen – das ist dumm vom Oskar. So was muss einer aussitzen, das wär ja noch schöner, wenn er vor ein paar Rotzbuben gleich den Schwanz einzieht.

»Das ist doch gar net wahr, Helga«, hört sie die tröstende Stimme der Mutter. »Freilich gibt’s in Dingelbach Leut, die es mit dem Schütz Otto und der Gertrud halten. Aber da sind auch andere. Der Killinger Hannes und der Alberti Rudolf zum Beispiel …«

»Das hab ich ihm auch gesagt, Marthe«, seufzt die Helga und schnieft. »Aber er hat net hören wollen. Ich hätt’s ihm schon zu oft erzählt, er könnt’s jetzt net mehr glauben. Das sie ihm die Hütte angezündet haben und er alles verloren hat, das hätt ihm die Augen geöffnet.«

»Da darfst du nichts drauf geben«, sagt die Mutter. »Der ist noch von dem Schrecken ganz durcheinander. Lass ein paar Tage vergehen, dann kriegt der sich wieder ein.«

Jetzt schluchzt die Helga so laut auf, dass es gewiss auch die Leute unten im Laden hören können.

»Zwingen will er mich, der Oskar«, sagt sie mit bebender Stimme. »Entweder ich geh mit ihm zusammen fort, oder er geht allein, und wir sehen einander nie wieder. So was sagt er mir ins Gesicht. Wo er doch genau weiß, dass ich wegen dem Heini nicht aus Dingelbach fortgehen will …«

»Das ist freilich hart«, gesteht die Mutter zu. »Aber vielleicht hat er’s ja net so gemeint. Schau, es ist auch für ihn net leicht, wenn er so lang auf dich warten muss. Könntest ruhig öfter zu ihm hinaufgehen und ihm zeigen, dass du ihn noch liebst …«

»Wo er jetzt droben in der Villa wohnt?«, schluchzt Helga. »Was denkt dann die Frau Küpper von mir? Und die Leut im Dorf erst, die werden reden, dass ich eine Liebschaft hab.«

»Was du nur immer auf die Leut gibst!«, regt sich die Mutter auf. »Die reden heut schlecht von dir, und wenn du erst mit dem Oskar verheiratet bist, reden sie wieder anders. Ich weiß doch, wie sie sind, und du weißt es auch …«

»Nein, ich geht net hinauf zu ihm! Weil er mich net wirklich liebt. Sonst würd er net verlangen, dass ich meinen Heini verlassen soll.«

»Der ist jetzt halt ganz verzweifelt, Helga«, sagt die Mutter. »Da musst du hinauf und mit ihm reden. Sonst könnt’s dir später leidtun.«

Ach, herrje, denkt Ida. Die macht sich aber auch selber das Leben schwer. Sie bleibt noch einen Moment im Flur stehen, aber aus der Kammer der Mutter vernimmt man jetzt nur noch undeutliche Worte, weil die Helga so weinen muss. Ida sieht ein, dass die Helga jetzt bestimmt keinen Nerv hat, über ein Kleid und einen Rock nachzudenken. Und überhaupt ist es eine blöde Idee, sie braucht so etwas gar nicht, die alten Kleider gefallen ihr, sie ist keine Modepuppe wie die Berta Kahn und ihre Freundinnen.

Sie verkrümelt sich in die Schlafkammer, legt sich auf ihr Bett und nimmt das Buch aus dem Ranzen, um ein Stück weiterzulesen. Die Schulaufgaben macht sie später oder morgen in der Bahn, das ist alles Pipikram, nur die Schreiberei ist lästig, weil sie Zeit frisst.

Aber kaum hat sie ein paar Seiten gelesen, da steht die Mutter in der Kammertür.

»Musst du immer ein Buch vor der Nase haben«, schimpft sie. »Du wirst noch eine Brillenschlange werden. Geh jetzt hinunter in den Laden, der Herta geht es nicht gut, sie muss sich ausruhen.«

»Ja, gleich …«

»Sofort!«

Wütend legt Ida einen Zettel in das Buch und klappt es zu. Komisch, dass es Herta immer schlecht wird, wenn der Sirius Engelke im Spiel ist. Überhaupt stellen sich die Frauen in Liebesdingen fürchterlich blöde an. Die Helga will ihren Oskar nicht mehr, und die Herta kriegt ihren Sirius nicht. Und sie hat den Ärger davon, weil man sie nicht in Ruhe lesen lässt!

Helga ist noch bei der Mutter in der Kammer, man hört es plätschern. Wahrscheinlich wäscht sie sich jetzt das verheulte Gesicht in Mutters Waschgeschirr. Unten in der Küche sitzt Herta auf dem Küchenstuhl und stützt die Ellbogen auf den Tisch.

»Was ist mit dir?«, fragt Ida. »Schwindelig?«

»Kopfschmerzen …«

Sie sieht wirklich schlecht aus. Ganz bleich ist sie, und den Mund kneift sie schmal zusammen, dass sie ausschaut wie eine alte Frau. So kann sie dem Sirius morgen wirklich nicht gefallen. Ida überlegt kurz, dann hat sie eine grandiose Idee.

»Wart, ich hab was für dich!«, sagt sie und läuft schnell wieder die Stiege hinauf, um das Paket zu holen.

»Das ist von der Großmutter für dich, Herta«, behauptet sie und legt das Paket vor Herta auf den Tisch. »Davon soll dir die Helga ein hübsches Kleid und vielleicht noch einen Rock nähen.«

Herta hebt den Kopf und blinzelt schmerzerfüllt auf das weiße Papier, mit dem der Stoff eingepackt ist.

»Für mich?«, fragt sie ungläubig.

»Ja. Weil du ja noch nie etwas von ihr bekommen hast, da will sie dir jetzt auch einmal etwas schenken.«

Es sind zwei verschiedene Stoffe darin, ein dunkelroter mit einem Blumenmuster und ein blauer mit weißen Streifen. Herta befühlt die Stoffe mit den Fingern und meint: »Das könnt ein Kleid werden. Aber so rot, das ist so auffällig, da muss ich eine Schürze vorbinden …«

»Quatsch«, widerspricht Ida. »Wozu trägst du ein hübsches Kleid, wenn du dir dann eine Schürze vorbindest, damit es keiner sieht? Rot steht dir gut, Herta. Und aus dem blauen Stoff macht die Helga dir einen Rock. Den trägst du mit einer weißen Bluse, das ist schick.«

Tatsächlich nehmen Hertas Wangen langsam wieder eine normale Farbe an.

»Die Bluse mit den Häkelspitzen am Kragen. Die mir die Mama vererbt hat, weißt du? Die könnt gut dazu passen …«

»Und Geld, um die Helga zu bezahlen, hat sie mir auch mitgegeben«, erklärt Ida selbstlos. »Kannst hinübergehen, die Helga freut sich, wenn sie was verdienen kann.«

»Da sag der Großmutter ganz herzlichen Dank«, seufzt Herta und streichelt den roten Stoff mit den Fingern. »Solche Geschenke macht die. Die Mutter wird Augen machen.«

Drüben klopft jemand energisch mit der Hand auf den Ladentisch.

»Kundschaft!«, schreit die Schmidtkunz Hedi. »Wo seid’s denn? Ich hab keine Zeit net, die Supp steht auf dem Herd.«

»Dann bleib daheim, sonst brennt’s dir an, dumm Orschel!«, knurrt Ida leise vor sich hin und geht hinüber in den Laden.