Kapitel 18
»Warte noch ein wenig. Eins ist noch zu merken …«
»Halt! Nein, so geht das nicht!«
Frieda ist gerade so schön in Fahrt, es passt ihr nicht, schon wieder unterbrochen und korrigiert zu werden. Herr Pfeil, der jetzt den Ensembleunterricht leitet, sitzt zwischen den anderen Schauspielschülern und wedelt mit den Armen.
»Das haben wir doch gerade eben besprochen, Frieda«, sagt er vorwurfsvoll. »Die Portia ist eine junge Frau, eine verliebte junge Frau, die kurz vor ihrer Heirat steht. Die kann nicht so vom Leder ziehen, wie du das machst. Sanfter, weiblicher bitte.«
Frieda ist unzufrieden. Wenn Frau Einzig mit ihnen Szenen erarbeitet, kann sie immer einsehen, was sie erklärt bekommt. Aber was der Herr Pfeil will, das widerstrebt ihr.
»Aber die Portia ist in dieser Szene als Mann verkleidet. Als Richter sogar. Da kann sie doch nicht so dahersäuseln wie ein sanftes Mädel!«
Herr Pfeil steht auf und geht zur ihr. Die anderen Schüler, die in der Szene mitspielen und auf ihren Einsatz warten, machen schiefe Gesichter. Erwin Kreuzer, der den Shylock mimt, rollt die Augen. Schon wieder ist die Frieda Haller am Meckern! Es ist immer dasselbe mit ihr.
»Schau einmal, Frieda«, sagt Herr Pfeil mit leichter Ungeduld. »Natürlich tritt die Portia als Mann verkleidet auf. Aber deshalb bleibt sie doch eine Frau. Sie ist zwar eine kluge und listige Person, aber sie darf ihre Weiblichkeit nicht verlieren.«
»Da sehe ich bei der Frieda keine Gefahr«, sagt Harry dazwischen. Er erntet Heiterkeit, sogar Herr Pfeil ringt sich ein Schmunzeln ab. Dann erklärt er Frieda, wie sie diesen Satz zu sprechen hat.
»Es ist der Moment, wo die Szene kippt, verstehst du? Die ganze Zeit über schien die Lage für Antonio und seinen Freund hoffnungslos, Antonios Tod scheint beschlossene Sache, der Jude Shylock besteht auf seinem ausgehandelten Vertrag, und dieser Vertrag ist rechtsgültig. Und dann kommt sie mit diesem Warte noch ein wenig .«
Überhaupt ein ekliges Stück, denkt Frieda. Da hat Shakespeare schon bessere Sachen geschrieben als den Kaufmann von Venedig. Wer kommt denn auf die schwachsinnige Idee, seinem Vertragspartner ein Pfund Fleisch aus dem Körper zu schneiden, wenn er seine Schulden nicht zahlen kann?
»Aber gerade weil dieser Satz so wichtig ist, muss man ihn doch hervorheben«, beharrt sie.
»Nein«, behauptet Herr Pfeil stur. »Sie sagt es ganz leise. Ganz harmlos sagt sie das.«
Er macht es vor und lispelt: »Warte noch ein wenig … «
Frieda findet das lächerlich. Abgesehen davon kriegt das hinten im Parterre des Zuschauerraums garantiert keiner mit.
»Verstehst du?«, fragt Herr Pfeil. »Ganz sanft. Ein wenig lauernd. Du kannst sogar dabei lächeln. Dann machst du eine kleine Pause. Und dann kommt der Hammer. Das Argument: Shylock darf kein Tröpfchen Blut dabei vergießen, sonst wird er mit dem Tode bestraft, und sein Besitz wird eingezogen. Damit hat sie ihn im Sack!«
Doch er überzeugt Frieda nicht. Gerade weil dieser Satz so wichtig ist und die große Wende in dieser Szene bedeutet, kann sie ihn doch nicht flüstern! Der muss reinhauen, damit alle merken, was jetzt los ist. Die Portia, das ist eine richtig mutige Frau, die verkleidet sich als Richter und haut den Freund ihres Verlobten raus. Wenn die Venezianer spitzgekriegt hätten, dass sie in Wirklichkeit eine Frau ist, dann wäre es ihr schlecht ergangen. Deshalb findet Frieda es wichtig, dass die Portia in dieser Szene wie ein junger Mann auftritt. Sonst ist es nicht glaubhaft. Auf keinen Fall darf sie wie ein verkleidetes Mädchen rüberkommen. Aber Herr Pfeil hat etwas gegen Frauen, die sich männlich geben.
»Jetzt mach es noch mal so, wie wir es besprochen haben«, verlangt er.
Gar nichts haben wir besprochen, findet Frieda. Er hat einfach gesagt, was er will, und ich soll es so machen. Auch wenn ich es nicht nachempfinden kann.
»Ich versuch’s …«, meint sie schulterzuckend.
Schließlich will sie die Rolle der Portia bei der Abschlussprüfung Anfang nächsten Jahres auf jeden Fall spielen. Das fehlte noch, dass er auf die Idee kommt, sie mit Annemarie zu besetzen. Also bemüht sie sich, seiner Auffassung zu folgen.
»Warte noch ein wenig. Eins ist noch zu merken … Der Vertrag gewährt dir nicht ein Tröpfchen Blut. Die Worte sind … «
»Viel besser!«, wird sie gelobt. »Das Lächeln nicht übertreiben. Aber in der Anlage ist das jetzt ausgezeichnet. Siehst du, du kannst das doch, Frieda. Und weiter …«
Klar kann sie das. Schließlich ist sie eine gute Schauspielerin. Aber gefallen tut es ihr nicht, weil sie innerlich das Gefühl hat, es müsste anders sein. Ein guter Regisseur arbeitet immer mit seinen Schauspielern und nicht gegen sie, hat die Einzig mal gesagt. Der Pfeil ist eben kein guter Regisseur.
»Wenn man an einem Theater engagiert ist, kann es leicht passieren, dass man so einen vor die Nase gesetzt bekommt«, meint Harry, als sie in der Mittagspause im Café sitzen. »Das sind die ›Doktorregisseure‹, die haben Theaterwissenschaft studiert und kommen mit einem ›Konzept‹, das sie uns aufdrücken wollen.«
»Schrecklich«, seufzt Annemarie und rührt Milch in ihren Tee. »Aber da muss man sich arrangieren, es gehört eben zum Beruf.«
Draußen regnet es in Strömen, der nette Rasenplatz, wo sie im Sommer so oft gesessen haben, ist nass und aufgeweicht, nur die Amseln hüpfen dort fröhlich herum. Frieda ist froh, dass ihr die Großmutter hin und wieder Geld für eine Tasse Tee oder Kaffee mit Kuchen gibt, denn im Schauspielhaus herumzusitzen und mitgebrachte Brote zu essen, macht keinen Spaß. Auf der anderen Seite ist die kühle Jahreszeit Hochsaison fürs Theater, im Schauspielhaus stehen Premieren an, in denen sie mitspielen dürfen. Zu Friedas Überraschung wird sie für ihren winzigen Auftritt in dem Stück Kilian oder die gelbe Rose von ihren Mitschülern heiß beneidet.
»Du stehst mit Richard Graf auf der Bühne!«, seufzt Annemarie. »Ganz allein!«
»Ja«, lacht Frieda. »Für zweimal drei Sekunden. Dann bin ich weg.«
»Na und? Ich stehe im Fröhlichen Weinberg mit Harry höchstens vier Sekunden in der Ecke.«
»Knutscht ihr?«, will Frieda grinsend wissen.
»Na und wie!«, sagt Harry schwungvoll.
»Theaterknutsche«, behauptet Annemarie. »Der Fröhliche Weinberg ist überhaupt ein fürchterliches Stück. Überall Rüpel, und dauernd müssen sie saufen und rülpsen.«
»Das pralle Leben!«, lacht Harry.
Erwin Kreuzer kommt ins Café, bleibt an der Küchentheke stehen und bestellt einmal Käsekuchen mit Sahne. Dann geht er an ihnen vorbei zum Fenster, wo gerade ein Tisch frei geworden ist.
»Ziemlich unprofessionell, Haller«, sagt er zu Frieda im Vorübergehen. »Wenn du dir jetzt schon Allüren zulegst – damit kommst du nicht weit.«
»Du musst’s ja wissen!«, ruft Frieda ärgerlich zurück.
»Lass ihn«, meint Annemarie leise. »Der hält sich doch schon immer für was Besseres.«
Harry weiß zu berichten, dass Erwin Kreuzer im Frühjahr bei den Münchner Kammerspielen vorgesprochen hat.
»Einfach so. Ohne den Ausbildern etwas davon zu sagen.«
»Und? Wie ist es ausgegangen?«
»Wie du siehst, ist er uns erhalten geblieben«, lacht Harry höhnisch.
»Mutig«, staunt Annemarie. »Ich hätt mir das ein ganzes Jahr vor der Prüfung nicht zugetraut.«
»Der denkt doch, er ist der aufgehende Stern am deutschen Theaterhimmel«, lästert Harry.
»Gut ist er schon«, findet Frieda. »Aber das ist der Rudi Stimpel auch, bloß macht der nicht so ein Gehabe um sich.«
Sie teilt mit der Kuchengabel ein Stückchen von der Moccatorte ab, die sie gemeinsam mit Annemarie bestellt hat. Ein Stück Torte mit zwei Gabeln bitte. So was geht hier im Café.
»Ich wollt euch etwas fragen«, legt sie los.
»Es sei dir gewährt«, sagt Harry theatralisch.
»Halt den Rand, Harry! Ich will wissen, ob ihr Lust habt, gemeinsam mit mir eine szenische Lesung zu machen.«
Harry und Annemarie schauen sich überrascht an.
»Na klar! Im Kulturverein von deiner Großmutter etwa? Die machen Veranstaltungen im Palmengarten.«
»Nein. In der Villa Küpper.«
»Wo ist die denn?«, fragt Harry misstrauisch. »Etwa in deinem Dorf?«
»Ganz richtig. In der Villa Küpper wird es demnächst Konzerte und Lesungen geben. Das wird eine große Sache, weil das Frau Küpper mit Herrn Goldstein organisiert. Der ist Vorsitzender vom Kulturverein, in dem meine Großmutter Mitglied ist.«
»Ach so …«
Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Der Kulturverein »Kunst und Kultur e. V.« ist in Frankfurt bekannt, es ist eine der vielen kulturellen Initiativen, die mit großen und kleinen Veranstaltungen hervortreten und viel Publikum anziehen. Aber Dingelbach? Du liebe Zeit!
»Kriegen wir da was bezahlt?«, will Harry wissen.
Frieda hat keine Ahnung, denn über ein Honorar ist bisher nicht gesprochen worden. Aber wenn sie die Freunde mit an Bord haben will, muss sie ihnen etwas bieten.
»Natürlich«, behauptet sie kühn. »Ich hab gedacht, dass wir ein paar von den Szenen aufführen, die wir in der Schauspielschule proben. Sozusagen als Generalprobe für die Prüfung im Frühjahr.«
Das hört sich schon besser an. Eine bezahlte Generalprobe finden die beiden gar nicht so übel. Auch wenn sie in Dingelbach stattfindet, am Ende der Welt.
»Also, ich mache mit«, sagt Annemarie. »Da spielen wir die Szene aus Minna von Barnhelm, Frieda. Und du machst den Puck aus dem Sommernachtstraum. «
Harry schlägt eine Szene aus Kabale und Liebe vor, die er mit Frieda einstudiert hat.
»Der Rudi ist bestimmt auch dabei«, meint Annemarie. »Dann könnten wir die Szene aus dem Faust machen.«
Annemarie ist als Gretchen einfach großartig, das finden alle. Rudi ist zwar zu jung für den Faust, aber da muss man halt mit Theaterschminke nachhelfen. Nun steigern sie sich in eine wahre Begeisterung hinein, sie wollen wissen, ob es eine Bühne gibt, ob sie Requisiten bekommen und wie viele Zuschauer erwartet werden.
Frieda weiß es nicht, aber sie meint zuversichtlich: »Ausverkauft wird es auf jeden Fall sein. Die werden noch Stehplätze vergeben müssen.«
»Dann frag doch den Weichert, ob wir Kostüme aus dem Theaterfundus ausleihen dürfen«, schlägt Annemarie vor.
»Ich kann’s ja versuchen …«, meint Frieda zurückhaltend.
»Wenn du ihn schön bittest, dann macht der das«, sagt Harry mit Überzeugung. »Der fährt doch auf dich ab, Frieda.«
Das ist Frieda neu. Vor allem seit der Geschichte mit der Tänzerin hat sie das Gefühl, dass der hochverehrte Theaterleiter sie links liegen lässt.
»Der tut doch nur so streng«, findet auch Annemarie. »Aber wenn du es nicht merkst, dann guckt er zu dir hin und lächelt. Der ist halt auch bloß ein Mann.«
»Jetzt ist’s aber gut!«, beschwert sich Frieda empört. »Der Weichert interessiert mich grad überhaupt nicht, da kann er noch so viel lächeln.«
»Und wie ist es mit dem schönen Richard?«, fragt Harry anzüglich. »Dem Schwarm aller Backfische und Großmütter.«
»Den Richard Graf meinst du?«, ärgert sich Frieda. »Der ist verheiratet.«
Harry fängt an zu lachen.
»Mein liebes Mädchen«, meint er herablassend. »Da merkt man doch, dass du vom Dorf kommst!«
Jetzt ist Frieda beleidigt.
»Aber bei euch in der Äppelwoikneipe in Sachsenhausen – da geht’s großstädtisch zu, wie? Denkst du, ich weiß nicht, dass einer ein Schürzenjäger sein kann, auch wenn er verheiratet ist?«
»Jetzt streitet doch nicht …«, versucht Annemarie zu schlichten. »Wir müssen gleich zahlen, die Mittagspause ist um.«
»Damit du’s weißt, Harry«, stellt Frieda klar. »Für mich ist ein verheirateter Mann tabu!«
»Ist ja gut … Reg dich nicht so auf … War nur ein Scherz …«
Nach der Mittagspause haben sie Theater- und Kunstgeschichte bei Herrn Bachmann, eine eher trockene und wenig beliebte Veranstaltung, bei der nur Annemarie und zwei Mitschüler von dem neuen Jahrgang eifrig mitschreiben, während die anderen vor sich hindösen. Gegen Ende, als Frieda gerade fürchtet, sanft zu entschlummern, klopft es auf einmal an der Tür.
»Was ist denn?«, fragt Herr Bachmann ärgerlich und nimmt die Brille ab.
Ein Ruck geht durch die Schülerschaft – vor allem die Mädchen bekommen heftiges Herzklopfen. Im Türrahmen steht der bekannte Mime Richard Graf und macht beschwichtigende Gesten in Bachmanns Richtung.
»Verzeihung, Verzeihung«, sagt er und richtet den Blick auf Frieda. »Fräulein Haller – hätten Sie zwei Minuten Zeit?«
»Geht das nicht in der Pause?«, knurrt Bachmann.
Richard Graf ignoriert den Einwand und empfängt Frieda, die schon aufgestanden und auf dem Weg zur Tür ist, mit gewinnendem Lächeln. Neidische und bedenkliche Blicke folgen ihr, als sie mit ihm den Raum verlässt.
»Ich bin untröstlich, dass ich Sie aus dieser spannenden Veranstaltung herausgerissen habe«, fängt er an und lächelt hintergründig.
Frieda fühlt sich etwas beklommen, weil er sie so strahlend aus eisblauen Augen anschaut. Auf der Bühne wird ihm eine magische Wirkung auf Frauen nachgesagt. Im Unterschied zu vielen Kollegen scheint er aber auch im täglichen Leben seinen Zauber zu versprühen.
»Das war wirklich rücksichtslos«, sagt sie und lächelt schelmisch zurück. »Aber ich will versuchen, es Ihnen zu verzeihen.«
»Schlagfertig ist sie auch noch«, meint er und zieht anerkennend die dunklen Brauen hoch. »Liebes Fräulein Haller, ich wollte Sie bitten, gegen vier auf die Probebühne zu kommen. Dann spielen wir die Szene kurz durch.«
»Aber da habe ich rhythmischen Tanz bei Leopoldine Müller …«
Er hat sich schon zum Gehen gewendet, dreht sich jedoch noch einmal um.
»Sagen Sie der Leopoldine einen lieben Gruß von mir. Das geht schon in Ordnung. Bis später dann.«
Der ist sich seiner Sache ja mächtig sicher, denkt Frieda, während sie zurück in den Unterrichtsraum geht. Ob der wohl mal was mit der Müller gehabt hat? Wohl kaum. Die ist mehr an Frauen interessiert, heißt es.
Sie bekommt noch die letzten Minuten der Veranstaltung »Theater- und Kunstgeschichte« mit, und nachdem Herr Bachmann den Raum verlassen hat, müssen sie in ein anderes Domizil umziehen, weil dieser Probenraum von den Schauspielern gebraucht wird. Frieda ist sofort von ihren Mitschülern umringt.
»Na, hast du jetzt ein Rendezvous mit ihm?«, scherzt Harry mit Eifersucht im Blick.
»Quatsch! Ich soll um vier zur Probenbühne.«
»Da wird die Leopoldine Müller Gift und Galle spucken«, meint Annemarie besorgt.
»Er hat so getan, als würde sie ihm aus der Hand fressen«, grinst Frieda.
»Der hält sich für unwiderstehlich«, bemerkt Rudi Stimpel. »Dieser Casanova-Verschnitt!«
Dass sogar der sonst so schweigsame Rudi seine Meinung kundtut, verwundert nicht nur Frieda. Bevor Herr Pfeil zum Ensemblespiel erscheint, fragt sie Rudi schnell, ob er Lust hätte, bei einer szenischen Lesung in der Villa Küpper mitzumachen, und zu ihrer Überraschung sagt er sofort zu.
»Mache ich gern. Danke, dass du mich gefragt hast, Frieda.«
»Ich freue mich riesig, dass du dabei bist, Rudi!«
Das Ensemblespiel konzentriert sich heute zum Glück auf Annemarie und Rudi, die die Szene aus dem Faust proben. Frieda und die anderen sitzen dabei, hören brav zu und geben leise Kommentare ab. Annemarie hat schwer zu kämpfen, sie ist verunsichert, weil sie ständig korrigiert wird, ihr Spiel wirkt steif und gekünstelt, und hinterher ist sie kreuzunglücklich.
»Ich schaff das einfach nicht«, heult sie, als Herr Pfeil weg ist.
»Doch«, sagt Frieda und nimmt sie tröstend in die Arme. »Mir geht’s genauso mit dem Pfeil. Da müssen wir durch. Ich weiß, dass du es kannst, Annemarie!«
Dann muss sie die unglückliche Freundin Harry überlassen, weil sie jetzt mit Richard Graf ihren Auftritt proben soll. Sie entschuldigt sich rasch bei Leopoldine Müller, die keineswegs beeindruckt ist, als sie den Gruß von Richard Graf ausrichtet, sondern nur leise »Unglaublich!« flüstert. Aha, da hat der Herr seine Wirkung wohl heftig überschätzt.
Auf der Probebühne sind noch mehrere Schauspieler mit dem Regisseur im Gespräch, Frieda bleibt bescheiden in sicherer Entfernung stehen und wartet ab, was geschehen wird. Da sind der Fritz Odemar und der Toni Impekoven, die noch mit dem Richard Graf diskutieren – es wird ihr ganz heiß. Mit solchen Größen auf der Bühne stehen zu dürfen – was für eine Auszeichnung! Vielleicht haben die Freunde ja doch recht, und der Weichert hat ein Herz für sie? Aber leider löst sich die Runde auf, ohne dass sich jemand um sie gekümmert hätte; nur Richard Graf bleibt zurück, die anderen haben ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkt.
»Da sind Sie ja!«, ruft er ihr zu, als sei sie gerade erst gekommen und stünde nicht schon seit einer halben Stunde untätig herum. »Kommen Sie herauf zu mir.«
Er wirkt jetzt etwas abgekämpft, vermutlich war die Probe anstrengend. Auch die Profis haben so ihre Empfindlichkeiten und Allüren. Doch er streckt ihr den Arm entgegen und begrüßt sie mit Handschlag, lächelt charmant und meint, dass es doch einfacher wäre, sich zu duzen, wie es unter Kollegen üblich sei.
»Ich bin Richard«, sagt er leutselig.
»Dann bin ich Frieda.«
»Schön, Frieda. Du kommst von hier, da rechts wird in der Dekoration eine Tür sein, die machst du auf. Hier etwa …«
Die Sache ist ziemlich einfach, sie kommt von hinten und geht drei Schritte nach rechts, um dort die Tür zu öffnen. Dann muss sie vor dem Eintretenden – natürlich ist es Richard Graf – einen Knicks machen und seinen Hut in Empfang nehmen.
»Mit dieser Trophäe verschwindest du im Hintergrund, während ich dir einen eindeutigen Blick nachsende …«
Sie ist ein Regieeinfall, um den zweifelhaften Charakter des Helden zu verdeutlichen. Was für eine großartige Rolle. Nun ja – immerhin geht sie kurz über die Bühne und darf mit diesen großen Schauspielern gemeinsam auftreten. Da kann sie viel lernen. Sie proben das Ganze mehrfach, sie soll sich weiblich anziehend, aber nicht aufreizend bewegen, darauf legt er Wert, erst beim dritten Mal gefällt ihm ihr Gang, und er führt ihr vor, wie er sie dann anschauen wird. »Wohlgefällig« von oben bis unten. Sie soll darauf jedoch nicht reagieren und einfach davongehen.
»Sehr schön«, meint er abschließend. »Du bist begabt, Frieda. Wann bist du hier fertig?«
»Im kommenden Frühjahr ist Prüfung.«
»Na, das ist ja gar nicht mehr lange!«, sagt er in herzlichem Tonfall, als begrüße er sie schon als künftige Bühnenkollegin. Frieda ist beeindruckt. Es kommt etwas Menschliches rüber, er ist kein ausgemachter Schürzenjäger, wie sie alle sagen, er hat durchaus etwas Sympathisches. Gleich darauf allerdings ist sie wieder verunsichert, denn er fragt ganz harmlos: »Hast du noch ein Stündchen Zeit? Ich kenne da ein nettes Lokal und würde dich gern zum Essen einladen.«
Sie kommt in Versuchung. Was ist dabei, mit ihm ein Stündchen beisammenzusitzen? Es wäre sicher interessant, er ist ein gefragter Schauspieler, hat schon an vielen großen Bühnen gespielt und entsprechend viel zu erzählen. Auf der anderen Seite ist es schon nach fünf; wenn sie die Bahn um halb sechs nicht bekommt, muss sie den Spätzug nehmen und bekommt wieder Ärger zu Hause. Die Mutter ist momentan besonders streng, weil Herta so oft kränkelt und Ida schon dreimal zu spät aus der Schule heimgekommen ist.
»Das ist sehr nett von dir, aber heute klappt es leider nicht«, gibt sie schweren Herzens zurück. »Ich darf meinen Zug nicht verpassen, verstehst du?«
Er macht ein bekümmertes Gesicht, meint aber, er habe volles Verständnis.
»Die Frau Mama ist streng, nicht wahr?«, sagt er mit leiser Ironie. »Das ist aber gut so, Frieda. Du musst nicht glauben, dass ich irgendwelche Hintergedanken bei dieser Einladung gehabt hätte. Ich weiß, dass ich einen schlechten Ruf habe …«
»So habe ich das nicht gemeint«, versichert sie eilig.
»Doch, doch«, ruft er und lacht. »Aber schau: Wenn ich tatsächlich solch ein notorischer Don Juan wäre, dann müsste ich jetzt eigentlich beleidigt sein, nicht wahr? Und das bin ich ganz und gar nicht – ich finde es großartig von dir, dass du so viel Selbstbewusstsein an den Tag legst und dem großen Kollegen einen Korb gibst. Respekt, Frieda. Lass uns als Freunde scheiden. Wir sehen uns demnächst zu einer Ensembleprobe, ich lasse dich wissen, wann wir dich brauchen …«
Er begleitet sie in den Flur hinaus und drückt ihr zum Abschied die Hand, fest und mit einem kleinen Ruck, wie unter guten Freunden. Dann geht sie zum Probenraum, wo sie ihre Sachen zurückgelassen hat, und ist sehr froh, dass Annemarie auf sie gewartet hat, denn der Rhythmische Tanz ist längst vorüber.
»Na? Wie war’s?«, fragt Annemarie und reicht ihr Hut und Mantel.
»Ganz normal …«
Sie erzählt, dass es ein ziemlich dämlicher Auftritt ist und dass Richard Graf sehr nett und überhaupt nicht zudringlich gewesen sei.
»Hast du ganz allein mit ihm geprobt?«, will Annemarie mit großen Augen wissen.
»Nee. Am Anfang waren da noch der Odemar und der Impekoven auf der Bühne. Da hab ich erst mal lange warten müssen.«
Annemarie seufzt und findet, dass es sicher spannend gewesen sei und dass sie jede Gelegenheit nutzen würde, bei einer Probe im Schauspielhaus zuzuhören.
»Leider haben wir ja meistens Unterricht, wenn die Proben laufen«, seufzt sie. »Du musst jetzt rennen, wenn du deinen Zug kriegen willst, wie? Dann bis morgen, Frieda!«
»Bis morgen in alter Frische!«
Sie muss tatsächlich im Laufschritt zur Hauptwache eilen, der Wind bläst ihr den Mantel vorn auseinander, mit der rechten Hand hält sie den Hut fest, der ihr sonst vom Kopf geweht würde. Sie besitzt inzwischen drei Hüte, die sie allerdings nur in Frankfurt trägt, denn in Dingelbach würde sie damit angestarrt werden wie das achte Weltwunder. Aber die Großmutter ist nun einmal der Meinung, dass eine junge Frau auf der Straße einen Hut zu tragen habe, das gehöre zum guten Ton. An der Hauptwache schafft sie es gerade noch, in die bereits anrollende Vorstadtbahn zu springen, und handelt sich einen Rüffel vom Schaffner ein.
»Das ist net erlaubt, Fräulein. Das nächste Mal zahlen Sie Strafe!«
»Ich tu’s nie wieder!«, versichert sie mit treuherzigem Augenaufschlag.
»Das sagen sie alle!«, knurrt er.
Wie üblich ist die Bahn voll mit Pendlern, auf einen Sitzplatz kann sie nicht hoffen. Sie schiebt sich zwischen den Leuten hindurch zur Wagenmitte hin, weil man dort erfahrungsgemäß den besseren Überblick hat und sich schnell hinsetzen kann, falls an einer Haltestelle jemand aufsteht. Da hört sie plötzlich eine bekannte Stimme.
»Frieda? Was für ein schöner Zufall!«
Sie dreht sich um. Hinter ihr sitzt Lehrer Hohnermann, eine Aktentasche auf dem Schoß, und lächelt sie begeistert an.
»Herr Hohnermann! Das ist aber nett. Sie waren wohl wieder einmal zum Bücherkaufen unterwegs, wie? Da wird sich die Ida freuen.«
Er wirkt etwas zerstreut und meint, dass Ida schon eine ganze Woche nicht mehr bei ihm gewesen sei.
»Ach ja – die liest momentan in einem dicken Buch und ist ganz hin und weg davon. Sie hat es von einem Bekannten geliehen. Aber wie ich meine Schwester kenne, braucht sie bald neuen Lesestoff.«
»Das könnte gut sein«, meint er. »Darf ich dir meinen Sitzplatz anbieten, Frieda? Du hattest sicher einen anstrengenden Tag, nicht wahr?«
Da sagt sie nicht Nein. Er steht auf und hält sich an einem der Griffe fest, die von der Decke herunterbaumeln, während sie es sich auf seinem Sitz bequem macht. Nebenan regt sich Unmut.
»Wenn Sie schon aufstehen, dann könnten Sie auch an die älteren Menschen denken«, murrt eine betagte Mitfahrerin. »Das junge Ding kann doch stehen.«
Hohnermann ist das natürlich sehr unangenehm, aber Frieda nimmt es heiter. »Ich neige zu plötzlichen Ohnmachten«, sagt sie und hält die Hand an die Stirn. »Der Kreislauf, wissen Sie?«
»Ach ja? Das kennt man …«
Frieda ignoriert die Antwort und beeilt sich, Hohnermann in ein Gespräch zu verwickeln.
»Stellen Sie sich vor, wir machen im Frühjahr eine szenische Lesung in Dingelbach. Die Frau Küpper hat mich gefragt.«
Er steht über sie gebeugt, die Aktentasche unter den linken Arm geklemmt, mit der rechten Hand hält er sich fest.
»Wie schön!«, meint er. »Du und deine Kollegen von der Schauspielschule?«
»Ja. Die Annemarie, der Harry und sogar der Rudi machen mit …«
Sie erzählt begeistert, was sie aufführen werden und dass sicher viele Zuhörer kommen, weil Herr Goldstein gute Verbindungen nach Frankfurt hat. Er nickt dazu und freut sich mit ihr. Trotzdem kommt er ihr etwas traurig vor. Liegt es daran, dass sie sich gar nicht mehr um ihr Theaterstück kümmert, für das er so schöne Songs geschrieben hat? Dafür hat sie jetzt einfach keine Zeit, schließlich steht im Frühjahr die Abschlussprüfung an, da muss sie sich vorbereiten. Das wird er verstehen, er ist doch immer verständnisvoll. Sie überlegt, wie sie ihn aufheitern könnte.
»Ich hatte heute eine aufregende Probe«, erzählt sie mit verschmitzter Miene. »Raten Sie mal, mit wem! Sie kommen nie darauf. Mit dem berühmten Richard Graf! Was sagen Sie nun?«
Die Wirkung ist nicht so aufmunternd wie erhofft. Stattdessen schaut er eher bedenklich. Ach so – er hat wohl auch schon gehört, dass Richard Graf hinter jedem Weiberrock her sein soll. Männer! Denken immer gleich das Schlimmste.
»Mit Richard Graf? Von dem habe ich in der Zeitung gelesen. War es eine angenehme Probe?«
»Der ist ein richtig netter Kumpel«, schwatzt sie fröhlich, um seine Bedenken zu zerstreuen. »Gar nicht überheblich, ganz normal. Er hat mir sogar das ›Du‹ angeboten.«
Das war wieder falsch. Es scheint ihm nicht zu gefallen, dass sich der berühmte Mime mit ihr duzt. Er sagt zwar nichts, aber sie sieht es am besorgten Blick.
»Jedenfalls hat er sich mir gegenüber sehr anständig verhalten«, versichert sie ihm. »Außerdem ist er verheiratet.«
»Soso …«
Sie beschließt, besser das Thema zu wechseln, und fragt nach Heinz, der – wie sie von der Mutter weiß – in der Schule viele Probleme hat. Da wird Hohnermann zum Glück redselig und berichtet, dass er sich sehr um den Jungen bemüht und bereits mit Otto Schütz und auch mit Helga Schütz Gespräche geführt hat. Viel hat es bisher nicht gebracht, aber seit die kleine Julia wieder zur Schule geht, ist Heinz ein wenig zugänglicher geworden.
»Die beiden stecken ständig zusammen«, sagt er und seufzt. »Aber dem Mädchen geht es nicht gut, sie ist sehr anfällig und immer müde. Ein Aufenthalt in einem Sanatorium in den Bergen könnte ihr helfen, aber dafür ist bei Grossmanns kein Geld da.«
»Ja, das ist traurig«, bestätigt sie. »Wenn ich im Lotto gewinnen würde, dann würde ich die Julia ins Sanatorium schicken, bis sie wieder gesund ist.«
Jetzt hat sie es doch geschafft, ihn zum Lachen zu bringen.
»Vielleicht sollte ich Lotto spielen?«, überlegt er schmunzelnd. »Wie hoch sind die Chancen?«
»Die Stecknadel im Heuhaufen!«
Bei der übernächsten Station wird der Platz neben ihr frei, und er kann sich zu ihr setzen. Es ist schön, mit ihm zu plaudern. Er ist doch so ein lieber Mensch, ein richtiger guter Papa.