Kapitel 19
Zu Hause sitzt Hohnermann in seinem Studierzimmer und versucht, seine Gefühle und Gedanken zu sortieren. War es nun ein guter oder ein schlechter Tag? Es war beides: Erleichterung und Zorn, Freude und Besorgnis haben sich miteinander vermischt. Die Besorgnis gilt vor allem Frieda, die ihm so unbefangen von einem als Frauenheld berüchtigten Schauspieler erzählt und dabei gar nicht bemerkt, dass dieser Mann sie ganz offensichtlich schon in sein Netz eingesponnen hat. Warum sollte Richard Graf, der für seine Affären bekannt ist, gerade vor dieser bildhübschen Schauspielschülerin haltmachen? Frieda ist jung und unbefangen, sie ist unfassbar liebreizend und weiß zu bezaubern, davon kann er selbst ein schönes Lied singen. Ach, er weiß ja, dass sie sich irgendwann verlieben wird, daran kann er nichts ändern. Aber dass sie in die Fänge eines gewissenlosen Schürzenjägers gerät, der das Mädchen unglücklich macht – das will er verhindern, so gut er es vermag.
Er hat seine Bedenken nicht geäußert, während sie in der Bahn miteinander plauderten. Er weiß, dass es unklug wäre, sie mit Ermahnungen zu überfallen, denn dann würde sie sich ihm nicht mehr so unbefangen anvertrauen. Aber er wird das Gespräch mit ihr suchen, sooft es ihm möglich ist, um den Stand der Dinge aus ihr herauszulocken. Und vielleicht – das ist seine ganze Hoffnung – kann er Schlimmes verhindern.
Als sie miteinander in Dingelbach aus dem Zug gestiegen sind, haben sie den Fritz Grossmann getroffen, der im hinteren Waggon gesessen hat. Er hat sie nur kurz gegrüßt und ist dann nicht mit ihnen den Pfad hinunter zur Kirchgasse, sondern über die Felder ins Dorf gegangen.
»Ich will nach den Apfelwiesen schauen«, hat er gesagt. »Der Boskop könnte bald reif sein.«
Das ist natürlich eine Ausrede gewesen, denn nach den Äpfeln können auch die Frauen oder der Kurt und die Julia schauen.
»Der will noch mal über seine Felder und Äcker gehen«, hat Frieda mitleidig gesagt. »Weil er den Hof nun wohl doch verkaufen muss.«
Hohnermann hat traurig genickt. Er weiß es von den Kindern – der Grossmannhof steht nun endgültig zum Verkauf, wahrscheinlich wird es wieder eine Versteigerung geben, und dann werden Kurt und Julia den Eltern in die Stadt folgen müssen. Was aus dem Knecht Adam und den beiden alten Frauen werden soll, dem Lenchen Grossmann und der Anni Christ, das weiß keiner.
»Das Lenchen werden sie wohl mit in die Stadt nehmen«, meint Frieda bekümmert. »Aber die Anni Christ gewiss nicht. Die hat dann nur noch die Helga, ihre Tochter. Wenn die endlich ihren Oskar heiraten könnte, das wäre für alle ein Segen.«
Er bestätigt auch dies, ist aber insgeheim der Ansicht, dass die Dingelbacher diese Ehe nicht gutheißen und den dreien das Leben schwer machen werden. So sind sie nun einmal, die Dörfler. In der Not halten sie zusammen und helfen einander – aber wehe, einer schert aus den gewohnten Gleisen aus. Gerade deshalb versucht er ja, seinen Schülern den Horizont zu erweitern, die starren Dorfregeln zu hinterfragen, ihnen die Welt jenseits von Dingelbach zu öffnen. Aber damit wird er es jetzt schwer haben.
Am Schulhaus trennen sich ihre Wege, Frieda gibt ihm die Hand zum Abschied und ruft gleich darauf:
»Ach, herrje! Da steht das Fuhrwerk vom Sirius Engelke ja noch vor dem Laden. Dabei ist es schon sechs Uhr durch …«
Hohnermann schaut ihr nach, wie er es immer tut, und muss zugeben, dass sie in dem weiten Mantel und dem damenhaften Hut wie ein Mädchen aus der Stadt aussieht. Ein elegantes, anmutiges Wesen, das hier zwischen Misthaufen, gackernden Hühnern und dunklen Hofeinfahrten fremd erscheint. Ach ja …
Nun sitzt er also in seiner Studierstube und grübelt. Essen mag er nichts, er ist an der Küche vorbeigegangen und gleich hinaufgestiegen, weil ihm das Gespräch in Frankfurt noch schwer im Magen liegt. Gleich nachdem die Schule aus war, hat er zum Bahnhof laufen müssen, weil er um halb drei einen Termin beim Schulamt gehabt hat. Das amtliche Schreiben ist vorgestern gekommen, darin stand, er habe sich zu einem »Gespräch« in Frankfurt einzufinden. Der Anlass dafür wurde nicht erwähnt. Aber natürlich hat er es sich denken können. Es kann nur so sein, dass sich jemand aus Dingelbach – vermutlich der Otto Schütz – beim Schulamt beschwert hat, der Schulmeister hätte die Kinder zu unsinnigen, lebensgefährlichen Unternehmungen angestiftet.
Das Fatale daran ist, dass ihm selbst die Geschichte mit Heinz und Julia wie ein Mühlstein auf dem Gewissen liegt. Darum ist er heute Mittag mit klopfendem Herzen und bösen Vorahnungen in den Zug gestiegen. Was, wenn man beschlossen hat, ihn zu versetzen? Oder gar zu entlassen?
Trotz des regnerischen Wetters hat er in Frankfurt nicht die »Elektrische« genommen, sondern ist von der Hauptwache zu Fuß zur Gutleutstraße gelaufen. Den Backsteinbau des Schulamts kennt er noch, dort ist er vor vier Jahren gewesen, als er seine Anstellung zum Dorfschullehrer in Dingelbach erhalten hat. Damals waren sie zu fünft. Der Leiter des Schulamts hat ihnen feierlich die Einstellungsurkunden überreicht und die Hände geschüttelt, und als Johannes Hohnermann an der Reihe gewesen ist, hat er mitleidig sein zerschossenes Gesicht betrachtet und gemeint, dass es in der Republik für diejenigen, die für das Vaterland gekämpft und gelitten hätten, einen angemessenen Platz gäbe. Das ist ihm damals zwar unangenehm gewesen, aber weil es gut gemeint war, hat er freundlich genickt und sich bedankt.
Heute geht er mit anderen Gefühlen durch die Flure. Nach zwei Irrläufen findet er das auf dem Schreiben angegebene Zimmer mit der Aufschrift »Direktor Dr. Pfeiler«, darunter ist vermerkt, dass man vor dem Eintreten anzuklopfen hat. Das Klappern einer Schreibmaschine ist zu vernehmen. Er holt noch einmal tief Luft, nimmt den nassen Hut ab und schüttelt ihn aus, dann klopft er höflich an die Tür. Das Geräusch der Schreibmaschine verstummt.
»Herein!«
Die Stimme ist jung und weiblich, die Sekretärin des Herrn Direktor trägt Bubikopf und benutzt einen Lippenstift in grellem Rot. Sie starrt ihn zunächst erschrocken an, weil sie nicht auf die Narben in seinem Gesicht gefasst war, dann nimmt sie sich zusammen und lächelt.
»Herr Hohnermann, nicht wahr?«, fragt sie und weist auf zwei Stühle, die man neben der Tür zum Büroraum des Direktors aufgestellt hat. »Es dauert noch einen Moment. Nehmen Sie ruhig Platz.«
Er setzt sich mit einem befangenen Gefühl, legt den nassen Hut auf den Stuhl neben sich und stellt auch die Mappe dazu, in der er verschiedene Unterrichtsmaterialien eingepackt hat, die er dem Schulamt vorweisen will. Es riecht nach Kaffee, den die Sekretärin vermutlich für den Herrn Direktor zubereitet – ihm wird nichts angeboten, aber er hat auch nichts erwartet. Sie hat ihre Arbeit wieder aufgenommen und hackt mit erstaunlicher Kraft und Präzision auf die Tasten der Schreibmaschine ein. Die Zeit dehnt sich – warum ist er eigentlich wie ein Verrückter durch den Regen gerannt, um pünktlich zu sein, wenn er hier nun sitzen und warten muss?
Nach einer Weile wird die Tür zum Büro des Direktors geöffnet, ein blasser junger Mann mit zwei Aktendeckeln unter dem Arm tritt hinaus, grinst der Sekretärin verschwörerisch zu und geht grußlos an Hohnermann vorbei. Hohnermann ist aufgestanden und hat Hut und Mappe gegriffen, aber nun muss er warten, bis die Sekretärin dem Herrn Direktor den Kaffee gebracht hat.
»Sie können jetzt hineingehen.«
Endlich. Er hat schon befürchtet, den letzten Zug zurück nach Dingelbach zu verpassen. Herr Direktor Dr. Pfeiler ist ein wohlbeleibter Herr in den Fünfzigern mit wulstigen Lippen, einer runden Brille und ausgedehnter Stirnglatze. Er erwartet den Dorfschullehrer Hohnermann kaffeeschlürfend hinter einem ungewöhnlich aufgeräumten Schreibtisch, auf dem man außer der geblümten Kaffeetasse nur eine schmale Schale mit Schreibgeräten und eine aufgeklappte Akte erblicken kann. Hohnermann ist sofort klar, dass es sich um seine Akte handelt.
»Setzen!«, ruft Dr. Pfeiler ihm grinsend entgegen.
Es klingt, als spräche er mit einem Schüler. Vermutlich meint er es scherzhaft, Hohnermann empfindet es jedoch eher als eine Verspottung. Dennoch lässt er sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder, lehnt die Mappe gegen ein Stuhlbein und legt den Hut auf den Boden.
»Johannes Hohnermann, geboren am zehnten Januar achtzehn fünfundneunzig in Frankfurt am Main«, zitiert Dr. Pfeiler aus der Akte. »Studium der Musik, Kriegsteilnehmer, Gesichtsverletzung, seit Mai neunzehn zwanzig Dorfschullehrer in Dingelbach …«
Dr. Pfeiler hält inne und schiebt die Brille nach vorn, um Hohnermann über deren Rand hinweg genauer zu mustern. Er hat wimpernlose grünliche Augen, die Pupillen sind winzige schwarze Punkte.
»Mir liegt die Beschwerde eines Herrn Otto Schütz, Bürgermeister zu Dingelbach, vor«, fährt er dann fort und zieht einen maschinengeschriebenen Brief zwischen den Blättern der Akte heraus. »Sie hätten den Schulkindern mit allerlei Zeug, das nicht zum Unterricht gehöre, die Köpfe verwirrt und seinen Sohn damit zu einer unsinnigen, lebensgefährlichen Tat veranlasst … Nun ja, der Mann ist ein Bauer und kann sich nicht ausdrücken, aber immerhin muss ja etwas dahinterstecken, nicht wahr?«
Hohnermann setzt an, die Sache zu erklären. Er hat sich zwei Tage lang auf dieses Gespräch vorbereitet, klare Worte und Sätze zurechtgelegt, seine eigenen Bedenken und Schuldgefühle formuliert, aber auch Argumente gesammelt, die für ihn und seinen Unterricht sprechen. Nun aber, unter dem intensiven Blick dieser grünlichen Augen, verwirren sich die wohlüberlegten Sätze in seinem Kopf, er verheddert sich in seinen Erklärungen, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und weiß bald nicht mehr, was er gesagt hat und was nicht. Er greift nervös zu seiner Mappe, um seine Unterrichtsmethoden zu erläutern, aber noch während er dabei ist, den Verschluss zu lösen, winkt sein Gegenüber desinteressiert ab.
»Ich bin im Bilde«, sagt Dr. Pfeiler. »Es gibt einen Visitationsbericht, der mir vorliegt. Nun ja, lieber Hohnermann, die Sache scheint recht unglückselig gelaufen zu sein; dennoch bin ich angehalten, Sie ernsthaft zu ermahnen, und Sie werden um einen Eintrag in die Personalakte nicht herumkommen.«
»Ich bin der festen Überzeugung, dass in der heutigen Zeit …«
Dr. Pfeiler unterbricht ihn mit einer energischen Handbewegung und lehnt sich im Stuhl zurück, wobei man seinen vorgewölbten Bauch sehen kann. Mit halb geschlossenen Augen doziert er.
»Die Aufgabe eines Lehrers im dörflichen Bereich besteht darin, die Schüler auf ihr künftiges Leben vorzubereiten …«
Hohnermann wird kundgetan, dass die Bauernschaft eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe: die Ernährung des deutschen Volkes. Fernweh zu erwecken, sei unsinnig, der Bauer habe auf seiner Scholle zu verbleiben, jeder an seinem Platz, wie anders könnte das geschundene Deutschland wieder hochkommen? Die Beschwerde des Herrn Bürgermeister … wie hieß er doch noch … sei insofern berechtigt. Ein Bauer braucht keine umfassende Bildung, dazu habe er auch nicht die geistigen Voraussetzungen. Und er, Hohnermann, habe ja leider Gottes erfahren müssen, was passieren kann, wenn man einem Bauernkind Dinge beibringt, die seinen Horizont übersteigen.
»Ich erwarte, dass Sie diese Richtlinien in Zukunft beherzigen, Hohnermann«, sagt Dr. Pfeiler, schiebt die Brille zurück und setzt sich gerade hin, um eine Notiz für die Akte zu verfassen. Als er damit fertig ist, schaut er zu Hohnermann hinüber und grinst ihn an.
»Wir werden in naher Zukunft wieder jemanden nach Dingelbach schicken, der Ihnen auf die Finger schaut. Also reißen Sie sich zusammen, Mann. Wenn weitere Beschwerden dieser Art eintreffen, bin ich gezwungen, ernstere Maßnahmen zu ergreifen.«
Hohnermanns Kehle ist wie zugeschnürt, er bringt weder ein »Jawohl« noch etwas Ähnliches heraus. Keine Versetzung, auch keine Entlassung, Gott sei Dank. Dennoch fühlt er sich fatal an seine Militärzeit erinnert, nur dass da der Gehorsam direkter und weniger wortreich eingefordert wurde.
»Sie können jetzt gehen«, verabschiedet ihn Dr. Pfeiler und schlürft den Rest aus seiner Kaffeetasse.
Den Rückweg zum Bahnhof ist er gelaufen wie ein Traumwandler. Es hätte schlimmer kommen können, hat er sich gesagt. Die Visitation wird ja angekündigt, da kann ich mich drauf einrichten. Und vorsichtiger werde ich ohnehin sein, wenn ich ihnen Neues zeige. Aber ein Duckmäuser nach dem Willen des Schulamts will ich nicht werden. Unsere Welt ändert sich, Technik und Wissenschaft schreiten voran, der Blick muss in die Weite gehen; wer starr und engstirnig beim Alten verharrt, wird es in der Zukunft schwer haben.
Mit solchen Gedanken hat er sein geknicktes Selbstbewusstsein ein wenig aufgerichtet, und als er Frieda im Zug gesehen hat, ist das Gespräch im Schulamt vorerst in den Hintergrund gerückt. Aber auch um Frieda muss er sich nun Sorgen machen. Nein – insgesamt ist es ein schlechter, sogar ein böser Tag gewesen. Er steht vom Schreibtisch auf und überlegt, ob er noch einmal hinüber in die Kirche gehen und ein wenig auf der Orgel spielen soll. Aber es ist schon fast dunkel, da könnte es wieder passieren, dass die Frau Pfarrer in die Kirche kommt und ihm erklärt, er solle Ruhe geben, weil es Schlafenszeit sei.
Wie er noch unschlüssig dasteht, hört er plötzlich, dass unten die Haustürglocke geht. Er fährt zusammen, und die unsinnige Hoffnung steigt in ihm auf, dass es vielleicht Frieda sein könnte, die ihn so spät noch besucht. Aber vor der Haustür steht die kräftige blonde Lina Altmann und will den Topf abholen, den sie heute Mittag in die Küche gestellt hat.
»Den brauch ich morgen fürs Gemüs«, sagt sie entschuldigend und geht an ihm vorbei in die Küche.
Er folgt ihr verwirrt, denn er weiß von keinem Topf in seiner Küche. Doch auf dem kalten Herd steht tatsächlich ein braun emaillierter Kochtopf, den die Lina nun schwungvoll hochhebt und gleich wieder niedersetzt.
»Der ist ja noch voll«, ruft sie enttäuscht aus. »Ja, haben Sie denn nix essen mögen? Oder hat Ihnen meine Erbsensuppe nicht geschmeckt? Wo ich die doch immer mit Sellerie und Räucherspeck mach.«
»Doch, doch!«, sagt er erschrocken. »Erbsensuppe ist meine Leibspeise. Aber ich bin heute noch nicht zum Essen gekommen, weil ich gleich nach Schulschluss nach Frankfurt fahren musste.«
Das hätte er wohl besser nicht sagen sollen, denn jetzt wird die Lina Altmann hellhörig.
»Haben Sie am End aufs Schulamt gemusst?«, will sie wissen.
Hört sie das Gras wachsen? Ach, er hätte sich denken können, dass der Brief vom Otto Schütz in Dingelbach nicht geheim geblieben ist.
»Ich hatte tatsächlich ein kurzes Gespräch im Schulamt«, gibt er zu und lächelt sie verlegen an.
Die Wirkung dieses Eingeständnisses ist heftig. Lina Altmann stemmt die Arme in die Hüften, holt tief Luft und legt los.
»Der Schütz Otto, der Drecksack! Der Lauszippel! Mein Schorsch hat gestern noch gesagt, dem Otto, dem würd er gern in den … na, Sie wissen schon, wohin … treten, bis der net mehr sitzen kann. Unseren Lehrer Hohnermann beim Schulamt anschwärzen, ja, hat’s denn so was in Dingelbach schon gegeben? Eine Schande für den ganzen Ort ist das …«
Er hebt besänftigend die Hände, weil sie sich gar so ereifert, aber insgeheim tun ihm die zornigen Worte wohl. Ja, er hat noch Freunde in Dingelbach! Auch wenn er eine Dummheit gemacht hat, die Dingelbacher halten zu ihm. Dass die Lina nun aber gar so boshaft über den Otto Schütz herzieht, ist ihm auch wieder nicht recht.
»Der ist schon immer ein Schlechtschwätzer und ein Neidhammel gewesen. Damals in der Schul, da hat er den Schorsch verpetzt, weil der dem Lehrer den Pfeifentabak geklaut hat. Da hat der Schorsch eine Tracht Prügel bezogen – na, ich kann Ihnen sagen –, die Narben hat er heut noch am Bobbes. Das war damals net so wie bei Ihnen, Herr Hohnermann. Da hat es geheißen: Hosen runter und bücken. Und dann feste mit dem Rohrstock auf den nackischen Po …«
Solche Strafen werden in den Schulen der Nachbarorte noch heute vollzogen, das weiß Hohnermann, und es empört ihn.
»Liebe Frau Altmann …«, versucht er, ihren zornigen Redefluss einzudämmen. »Es war zwar nicht schön von Herrn Schütz, aber es ist ja auch eine schlimme Geschichte gewesen, und ich kann verstehen …«
Aber sie hört ihm gar nicht zu. Wie es scheint, ist die Sache schon im Dorf herumgegangen und hat für Aufregung gesorgt. Und wie es in Dingelbach leider üblich ist, hat man dabei heftig übertrieben.
»Aber das sag ich Ihnen, Herr Hohnermann«, ruft sie aufgebracht und rückt das verrutschte Kopftuch zurecht. »Wenn es so weit kommt, dass Sie aus Dingelbach wegmüssen, dann ist hier was los. Wir machen ja manches mit, was uns die Obrigkeit aufdrückt, wir Dingelbacher. Aber unseren Schulmeister lassen wir uns nicht nehmen. Da gibt’s einen Aufstand, hat der Killinger Hannes gesagt. Da ziehen wir nach Frankfurt und kippen dem Schulamt eine Fuhre Pferdemist vor die Tür. Aber der Schmidtkunz Jochen hat gemeint, Schweinemist wär noch besser, weil der mehr stinken tät, und er hätte jede Menge davon …«
»Um Gottes willen, Frau Altmann!«, ruft er und macht eine abwehrende Bewegung mit den Händen. »Das wäre die Sache wirklich nicht wert. Und außerdem ist ja gar nichts geschehen, ich hatte nur ein kurzes Gespräch, das war alles. Keine Rede davon, dass ich versetzt würde oder Ähnliches!«
Tatsächlich beruhigt sie sich nun ein wenig, aber zufrieden ist sie immer noch nicht.
»Aber auf dem Kieker werden die Sie haben«, behauptet sie. »So ein Brief, so eine Gemeinheit – das geht doch net an denen vorbei. Das merken die sich. Und dann kriegen Sie’s bei der nächsten Gelegenheit aufs Brot geschmiert. Der Koppel Willi hat ja gesagt, den Schütz Otto, den muss man als Bürgermeister absetzen. Der ist eine Schande für unser ganzes Dorf, der Hahnebampel …«
Er bekommt wieder einmal zu hören, dass der Alberti Rudolf ja der Richtige sei, aber leider will der ja nicht Bürgermeister sein, da könne man bitten und betteln, er mag halt nicht.
»Wenn’s hart auf hart kommt, hat mein Schorsch gesagt, dann würd er sich schon zur Wahl stellen. Weil ihm das Gedeihen von Dingelbach am Herzen liegt, deshalb würd er sich opfern …«
Hohnermann nimmt das mit freundlichem Nicken zur Kenntnis, behält aber seine Ansicht für sich. In die inneren Angelegenheiten des Dorfes will er sich besser nicht einmischen, das müssen die Dingelbacher unter sich ausmachen. Der Altmann Georg ist zwar allem Neuen zugetan, hat ein Automobil und eine Dreschmaschine angeschafft, aber es gibt auch Neider im Dorf, die meinen, er würde die Nase zu hoch tragen.
»Wollen Sie jetzt vielleicht doch was essen, Herr Hohnermann?«, geht die Lina ins Praktische über. »Nicht, dass die Aufregung Ihnen am End noch auf den Magen schlägt …«
Tatsächlich verspürt er jetzt Appetit, vielleicht liegt es an der rührenden Anhänglichkeit und Zuneigung, die ihm da ins Haus geflogen kam. Er nickt und schlägt vor, die Suppe in eine Schüssel umzufüllen, damit die Lina ihren Topf mitnehmen kann. Aber das will sie nicht, weil es nicht geht, dass der Herr Hohnermann die gute Erbsensuppe kalt isst. Stattdessen hebt sie den Herddeckel, legt Holz und ein Stückchen Zeitungspapier hinein und facht das Feuer an. Dann gibt sie eine Schaufel Kohle hinein und stellt den Topf auf den Herd.
»Den hol ich mir halt morgen früh gleich nach dem Melken ab«, bemerkt sie und rät ihm, die Suppe gut umzurühren, damit sie nicht anbrennt.
»Lassen Sie sich’s schmecken«, meint sie schmunzelnd, stellt ihm noch Teller und Löffel zurecht und geht zufrieden heim.
Ihm ist ganz rührselig zumute, als er nun seine Mahlzeit einnimmt. Nein, es wäre für ihn schlimm gewesen, dieses Dorf verlassen zu müssen, denn er hat die Dingelbacher auf seine Weise lieb gewonnen. Noch vor einigen Tagen haben sie sich über ihn aufgeregt: Er würde den Kindern Flöhe in die Ohren setzen, hat es geheißen, einige haben sogar behauptet, er sei schuld daran, dass der Heinz von daheim weggelaufen ist. So sind sie halt, die Dingelbacher, da wird schnell einmal schlecht geredet. Aber wenn es eng wird, dann stehen sie treu zusammen, und er, der Städter, ist wohl tatsächlich einer von ihnen geworden. Ein Dingelbacher.
Er lächelt vor sich hin und merkt gar nicht, dass er den Topf schon leer gegessen hat. Er kratzt noch die Reste heraus, dann lässt er Wasser hineinlaufen und spült das gute Stück mit aller Sorgfalt.
Danach geht er hinauf in seine Stube und will eigentlich noch kurz überlegen, was er morgen mit den Achtklässlern anfangen will. Aber es wird nicht viel daraus, weil ihm auf einmal eine Melodie im Kopf herumgeht und er sie aufschreiben muss. Eine zarte, eingängige Melodie ist es, die ihm zunehmend gut gefällt, sodass er sich gleich daranmacht, sie vierstimmig auszusetzen.
Ende der Woche bringe ich die Noten der Frieda, denkt er. Oder besser noch: Ich spiele sie ihr auf dem Klavier vom Rabenwirt vor. Wenn ihr die Musik gefällt, will sie vielleicht einen Text dazu erfinden …
Natürlich könnte er das auch selber tun. Aber es ist besser, wenn er die Frieda darum bittet. Weil er dann einen Grund hat, mit ihr zu reden, und dabei herausbringen kann, wie es um sie steht. Er will doch auf sie aufpassen!