Kapitel 20

Helga weiß nicht ein noch aus. Was ist nur mit dem Oskar geschehen? Warum ist er auf einmal so anders? So hart. So grausam. Das ist er doch sonst nie gewesen.

Sie hat der Ursula Dönges bei der Obsternte geholfen. Der Klaus und die Kati sind wie die Affen in die Bäume geklettert und haben die Äpfel abgepflückt, die Ursula hat die Birnen abgenommen, da hat sie nicht klettern müssen, weil die Birnbäumchen erst vor ein paar Jahren gepflanzt worden sind. Helga hat das Fallobst aufgelesen. Der Altmann Schorsch ist mit dem Fuhrwerk gekommen, um der Ursula die Ernte heimzufahren, und sie waren gerade beim Aufladen, da hat auf einmal der Oskar am Feldrain gestanden und nach ihr gerufen. Das ist ihr peinlich vor der Ursula gewesen, schon weil auch die Kinder, der Klaus und die Kati, mit auf dem Acker waren, aber der Altmann Schorsch hat gesagt: »Da lauf schon hinüber, Helga. Beim Aufladen brauchen wir dich ja net.«

Also ist sie zum Oskar gegangen. Sie hat an seinem Gesicht gesehen, dass er recht mutlos und verzweifelt ist, und sie ist froh gewesen, ihn trösten zu können. Ja, sie haben ihm die Hütte angezündet, das hat ihn hart getroffen. Aber er ist doch heil und gesund geblieben, und sie liebt ihn. Sie werden es gemeinsam schaffen, zumal jetzt, da die Scheidung kurz bevorsteht.

Nun ist er also zu ihr gekommen, und sie hat auf einmal Herzklopfen gehabt, weil er sie so ernst angeschaut hat.

»Ich muss dir etwas sagen, Helga«, hat er angefangen.

Er hat ganz still vor ihr gestanden, ihr nicht die Hand gegeben oder gar den Arm um sie gelegt, sondern immer nur auf den Boden geschaut. Da ist ihr auf einmal eingefallen, dass sie ihn vor dem Schützhof damals so grob zurückgestoßen hat. Aber dafür hat sie sich entschuldigt, das ist doch vorbei. Oder etwa nicht?

»Nein, warte«, hat sie gemeint. »Lass mich zuerst reden, weil’s mir auf der Seele liegt. Ich war neulich so unfreundlich zu dir, Oskar. Das tut mir leid. Es war doch nur wegen dem Heini, weil ich da so ganz und gar verzweifelt gewesen bin …«

Er schaut sie lächelnd an. Es ist ein trauriges Lächeln, und sie spürt, dass er ihr nicht recht glaubt. Dabei hat sie es ihm doch schon einmal gesagt.

»Ja so …«, sagt er. »Den Heinz, deinen Buben, den liebst du über alles, nicht wahr?«

Sie hat keine Antwort gewusst. Warum sagt er so was? Er weiß doch, wie sehr sie an dem Heini hängt.

»Hör zu, Helga«, fährt er fort. »Ich hab nachgedacht, und jetzt weiß ich, dass wir in Dingelbach nicht miteinander leben können …«

Er hat ihr kalten Herzens erklärt, dass er kein Haus bauen, sondern fortgehen will und dass sie sich nun entscheiden muss, ob sie hierbleibt oder mit ihm geht. Sie hat dagestanden wie vom Blitz getroffen und hat es zuerst nicht glauben wollen, dass er es ernst meint.

»Mit dir gehen? Aber das kann ich doch nicht«, hat sie schließlich gestammelt. »Weil doch der Heini …«

»Es ist, wie es ist, Helga«, hat er ruhig gesagt. »Hier ist kein Ort für uns. Sie haben mir die Hütte angezündet. Sie würden uns auch das Haus anzünden.«

»Das ist doch dummes Zeug«, hat sie ausgerufen. »Das ist ein Verrückter gewesen. Ein Besoffener. Ein Spinner. Gewiss war der nicht einmal aus Dingelbach …«

Aber sie hat ihn nicht umstimmen können. Was auch immer sie ins Feld geführt hat, er hat nur starrsinnig den Kopf geschüttelt und wiederholt, dass er fortmachen will.

»Sag mir, wie du dich entschieden hast«, hat er verlangt. »Damit ich weiß, woran ich bin.«

Damit hat er sie stehen lassen und ist die Kirchgasse hinauf zur Fabrik gegangen.

Die Körbe waren schon alle auf dem Wagen, als sie zur Ursula und den anderen zurückgekommen ist. Sie hat noch geholfen, die Stangen und Haken daraufzulegen, aufsitzen wollte sie nicht, stattdessen ist sie hinter dem Wagen her zu Fuß zurück ins Dorf gelaufen. Wie betäubt ist sie gewesen, so als habe sie einen Schlag auf dem Kopf bekommen. Im »Raben« hat die Karin Guckes sie zornig empfangen, weil der Dippel Alfred morgen seinen fünfzigsten Geburtstag im Gasthof feiert und in der Küche schon das Kraut dafür gekocht und die Rippchen gewässert werden mussten.

»Wenn bei uns Arbeit ansteht, dann brauchst du nicht zur Ursula auf die Apfelwiesen rennen«, hat sie gefaucht. »Die hat zwei Kinder, die können helfen.«

Aber Helga hat gar nicht zugehört und ist gleich hinauf in ihre Kammer gestiegen, denn auf einmal sind ihr die Tränen gekommen. Wie kann er so hartherzig sein? Ihr das Messer auf die Brust setzen? Verlangen, dass sie mit ihm geht und den Heini in Dingelbach lässt? Das wäre ja, als müsste sie sich das Herz aus der Brust reißen. Warum versteht der Oskar das auf einmal nicht mehr? Er hat doch immer gesagt, dass er sie liebt!

Am nächsten Tag ist sie mit ihrem Kummer hinüber zu Marthe Haller gelaufen und hat ihr Leid geklagt. Ach, die Marthe ist ihre beste und einzige Freundin, sie hat sie getröstet und aufgerichtet.

»Reg dich net so auf«, hat sie gesagt. »Der Oskar hat sich erschrocken, weil sie seine Hütte angezündet haben. Aber nach einer Weile kommt der schon wieder zu sich …«

Es hat wohlgetan, mit Marthe zu reden, denn sie ist ganz ihrer Meinung. Der Heini gehört zu seiner Mutter, man kann ein Kind nicht von der Mutter trennen. Nur die Ida hat widersprochen und schlimme Dinge gesagt, über die Helga ganz entsetzt gewesen ist. Aber Marthe hat ihre Tochter zornig aus dem Zimmer geschickt und sich sogar für das vorwitzige Gerede bei Helga entschuldigt. Die Ida müsse halt überall ihre Meinung kundtun, obgleich sie noch grün hinter den Ohren ist.

Ein paar Tage lang hat Helga geglaubt, dass die Marthe recht hat und sie nur ein wenig Geduld haben muss, damit alles wieder ins Lot kommt. Ab und zu ist sie hinüber zur Wiese vom Killinger Hannes gegangen, um nachzuschauen, ob vielleicht schon wieder an dem Hausbau gearbeitet wird. Doch da hat das Wasser in der Baugrube gestanden, weil es so viel geregnet hat, und der Killinger Hannes war hinten in der Schmiede und hat so wütend auf seinem Amboss gehämmert, dass man es über das ganze Dorf hören konnte.

Wenn die Schulglocke am Mittag ging, ist sie hinausgelaufen, um den Heini abzupassen. Aber er ist nicht froh darüber gewesen. Er hat ihre Umarmung abgewehrt, und die Fragen nach der Julia hat er nur kurz angebunden beantwortet. Den Kirschsaft, den die Marthe ihr gegeben hat, wollte er dieses Mal nicht haben.

»Der geht’s schon besser, Mama«, hat er gesagt. »Und außerdem muss sie bald nach Frankfurt ziehen, da sehe ich sie sowieso nicht mehr.«

»Das ist sehr schade, nicht wahr?«, hat sie gemeint. »Wo doch die Julia deine beste Freundin ist.«

»Mit Mädchen spiel ich sowieso nicht«, ist die raue Antwort gewesen.

Er hat sich von ihr losgerissen und ist so eilig davongerannt, dass der Ranzen auf seinem Rücken auf und nieder gehüpft ist. Hinten beim Schützhof hat die Gertrud schon auf ihn gewartet und ihn in den Hof hineingeschoben, damit er ja nicht zu seiner Mutter läuft. So eine ist sie, die Gertrud, das gemeine Mensch. Vom Abend bis zum Morgen tut sie nichts anderes, als einen Keil zwischen Mutter und Sohn treiben.

Wenn diese Dinge ihr schon das Herz schwer gemacht haben, so ist es bald noch schlimmer gekommen. Die ersten Zweifel hat die Karin Guckes ihr ins Herz gesät, aber weil die Karin immer schlecht redet, hat sie zunächst gelacht und geglaubt, sie müsse sich darüber keine Gedanken machen.

»Dein Oskar, der wohnt ja jetzt in der Villa«, hat die Karin hämisch gemeint, als sie in der Küche miteinander die Äpfel geschnitten haben.

»Wo soll er sonst unterkommen?«, hat Helga entgegnet. »Wo er doch durch den Brand alles verloren hat.«

Die Karin hat mit den Schultern gezuckt und dabei ganz komisch die Augen zusammengekniffen.

»Die Frau Küpper hätte ihm ja auch ein Quartier in der Fabrik einrichten können. Die haben doch umgebaut, da ist jetzt gewiss jede Menge Platz. Aber sie hat ihn bei sich in der Villa einquartiert und ihm sogar einen Hausschlüssel gegeben.«

»Woher weißt du das denn?«

»Die Carla, die oben in der Villa arbeitet, hat’s im Dorfladen der Ella Koppel erzählt. Da hat sich die Frau Pfarrer gleich aufgeregt, dass so was unsittlich wär, weil die Frau Küpper doch in der Nacht mit dem Oskar Michalski ganz allein in der Villa sei.«

»Ganz allein?«, hat sich Helga gewundert. »Aber die Carla Ritter schläft doch auch in der Villa. Und außerdem wohnt ja der Herr Goldstein bei der Frau Küpper.«

»Den hat man da oben schon lang nicht mehr gesehen«, hat Karin versetzt. »Und die Carla, die geht oft heim am Abend und kommt erst am frühen Morgen zurück, um das Frühstück zu machen.«

Helga hat stumm die Äpfel geviertelt, das Kerngehäuse herausgeschnitten und die Apfelstücke in den Eimer geworfen. Wenn zwei Eimer voll gewesen sind, ist der Ernst, der Zweitjüngste vom Rabenwirt, gekommen, um sie hinunter in den Keller zu tragen, wo der Jörg Guckes eine Apfelpresse hat und den Most herausquetscht. Dann setzt er den Saft mit Zucker und Hefe in großen grünen Glasflaschen an, und wenn es darin zu prickeln anfängt, füllt er den Äppler in Fässer ab. Die Erna hat drüben im Gastraum die Theke wischen müssen, und die Marie, die erst dreizehn ist, hat oben Wäsche gebügelt. Das hat die Karin so bestimmt, weil sie nicht will, dass ihre Mädchen zu oft mit der Helga zusammen sind. Aber als die Helga dann gegen Mittag in ihre Kammer gegangen ist, hat sie gehört, wie die Karin die beiden Töchter in die Küche gerufen hat, damit sie rasch noch ein paar Äpfel schneiden, bevor nachher die Gäste kommen.

Helga hat sich an die Nähmaschine gesetzt, um den Rock für die Herta Haller fertig zu nähen, aber ihre Finger sind zu unruhig gewesen, und schließlich hat sie aufhören müssen, damit sie den schönen Stoff nicht verdirbt. Sie hat aus dem Fenster in den Garten geschaut, wo die Obstbäume hinter dem Hühnerhaus schon gelbe Blätter haben, und die Frau Küpper ist ihr nicht aus dem Sinn gegangen. Sie soll große Stücke auf den Oskar halten, das sagen alle im Dorf, und auch Oskar hat immer nur gut von ihr geredet. Eine feine Dame ist sie, weiß sich auszudrücken und ist städtisch angezogen. Die trägt keine selbst genähten Kleider, sondern elegante Kostüme aus teurem Stoff, die sie in Frankfurt einkauft, und Schuhe aus feinem Leder. Einen Liebhaber hält sie sich auch, das kann eine reiche Fabrikbesitzerin sich leisten, die muss niemanden fragen, und keiner verachtet sie deshalb. Den Herrn Goldstein hat sie sich ausgesucht, einen Bankmenschen aus Frankfurt, einen Juden noch dazu. Aber wenn der jetzt so lange nicht mehr in der Villa gewesen ist, dann ist es wohl vorbei mit den beiden. Dann hat sie ihn vielleicht weggeschickt, weil ihr ein anderer besser gefallen hat.

Ist die Frau Küpper am Ende der Grund dafür, dass der Oskar auf einmal so anders geworden ist?

Aber das kann doch nicht sein! Dann hätte Oskar doch nicht gewollt, dass sie mit ihm fortgeht. Dann hätte er ihr vielleicht gesagt, dass es aus ist, weil er sich in eine andere Frau verliebt hat. Oskar ist kein Lügner, der ist immer ehrlich zu ihr gewesen.

Aber wenn die Frau Küpper es ganz hinterlistig angefangen hat, um ihn für sich zu gewinnen? Vielleicht hat sie zu ihm gesagt: »Stell sie auf die Probe. Wenn sie mit dir fortgeht, dann liebt sie dich. Weigert sie sich aber, dann ist ihre Liebe nur eine Lüge.«

Kann eine Frau so boshaft sein? Oh ja, solche Frauen gibt es. Die Gertrud, ihre Schwiegermutter, ist eine von ihnen. Die würde vor solch einer Gemeinheit auch nicht zurückschrecken.

Sie überlegt, ob sie sich Marthe Haller anvertrauen soll, aber sie entscheidet sich dagegen. Marthe Haller hält viel von Frau Küpper, weil sie immer die Carla zum Einkaufen schickt und der Dorfladen dabei gute Geschäfte macht. Marthe Haller würde der Frau Küpper so etwas niemals zutrauen.

»Das spinnst du dir nur zurecht, Helga«, würde sie sagen. »Warum sollte die Frau Küpper ein Auge auf den Oskar geworfen haben? Der ist doch nur ein armer Schlucker, und sie ist eine Fabrikbesitzerin.«

Das ist wohl wahr, denkt Helga. Aber sie will ihn ja nicht heiraten, sie will ihn nur in ihrem Bett haben, und wenn er ihr langweilig wird, dann schickt sie ihn fort. So wie sie es mit dem Herrn Goldstein getan hat.

Je länger sie darüber nachdenkt, desto wahrscheinlicher erscheint ihr diese Sache. Nein, ihr Oskar hätte ihr das niemals aus freien Stücken angetan. Der wollte doch ein Haus für sie bauen! Dass er jetzt so hart ist, da steckt eine Frau dahinter. Die Frau Küpper, diese Schlange.

Zwei Nächte hat sie nicht schlafen können und immer nur gegrübelt. Ach, der Oskar ist wie alle Mannsbilder. Damals, als der Otto in Kriegsgefangenschaft war, ist der Oskar Michalski aus Masuren gekommen und hat ihr bei der Hofarbeit geholfen. Da ist es geschehen, dass sie sich ineinander verliebt haben. Aber wie dann auf einmal der Otto wieder vor der Tür gestanden hat, hat Oskar sein Bündel gepackt und ist in die Fremde gegangen. Vier Jahre ist er fort gewesen. Was hat er in den vier Jahren wohl gemacht? Ganz sicher hat er da nicht wie ein Mönch gelebt, schließlich ist er ein hübscher Mann, und anstellig ist er auch. Der Gedanke gefällt ihr nicht, aber es wird so sein, dass der Oskar wohl auch einmal eine andere Frau angeschaut hat. Und jetzt hat ihn die Frau Küpper verzaubert, und er hat seine Helga vergessen.

Aber sie lässt sich den Oskar nicht wegnehmen. Er ist ihre große Liebe. Alle ihre Hoffnungen liegen auf ihm. Wenn sie den Oskar auf immer verliert, dann weiß sie nicht, was sie tun soll.

Sobald sie heute früh vom Geschrei der Hähne aufgewacht ist, setzt sie sich im Bett hoch und fasst einen Entschluss. Leise kleidet sie sich an und steigt die Treppe hinunter. Die Karin Guckes ist schon in der Küche und facht das Herdfeuer an; sie merkt nicht, wie sich die Helga vorbeischleicht. An der Eingangstür der Gaststube steckt der Schlüssel, sodass sie nur aufschließen muss, um ungesehen aus dem Haus zu kommen. Draußen ist es noch dunkel, nur im Osten liegt ein schwaches graues Leuchten, das den Tag ankündigt. Regen schlägt ihr entgegen, auf der Dorfstraße stehen breite Pfützen, die man in der Dämmerung nicht gut erkennen kann, sie tritt versehentlich hinein, aber es ist ihr gleich. Sie zieht das Schultertuch, das sie umgelegt hat, über den Kopf, damit ihr Haar nicht ganz nass wird, und läuft die Kirchgasse hoch zur Villa Küpper. Drüben in der Fabrik ist noch alles dunkel, weil sie erst gegen sieben Uhr anfangen, aber in der Villa sind Lichter zu sehen. Zwei Fenster im ersten Stock schimmern rötlich, da hat die Frau Küpper wohl die Vorhänge vorgezogen. Im zweiten Stock ist es dunkel, aber ganz oben im Dachgeschoss flackert ein kleines Licht. Ob da die Carla ihre Kammer hat? Oder der Oskar? Ach, wenn er nur oben in dieser Kammer ist und nicht etwa im ersten Stockwerk hinter den rötlichen Vorhängen! Das Tor zur Einfahrt steht offen, und nun kann sie sehen, dass auch unten, wo gewiss die Küche ist, ein Licht brennt. Es wird ihr ein wenig leichter, denn das kann nur die Carla sein, die da in der Küche werkelt. Also gehört das Licht im Dachgeschoss zu Oskars Kammer.

Vor der weißen Haustür der Villa bleibt sie stehen und wartet einen Moment, bis sie wieder zu Atem gekommen ist. Dann nimmt sie allen Mut zusammen und drückt auf den Klingelknopf. In der Villa gibt es eine elektrische Türklingel, so etwas hat im Dorf nur der Schorsch Altmann.

Carla Ritter muss zweimal hinschauen, bis sie die Helga erkennt.

»Du willst wohl zum Oskar, wie«, sagt sie dann mürrisch. »Bist früh dran, ich weiß gar nicht, ob der schon wach ist.«

»Er hat mich hierherbestellt«, behauptet sie. »Weil ich ihm etwas sagen soll.«

»Soso«, meint Carla und verzieht das Gesicht. »Dann geh halt hinauf. Aber das sag ich dir, Helga. Wenn du den Oskar weiter so schlecht behandelst, dann hast du ihn gesehen.«

Die hält fest zu ihrer Herrin, denkt Helga ärgerlich, während sie die Treppen nach oben steigt, wie es Carla ihr erklärt hat. Im zweiten Stock hört sie zu ihrem Schrecken die Stimme der Frau Küpper, und sie fürchtet schon, die Fabrikherrin würde sich dort mit Oskar unterhalten. Aber dann merkt sie, dass sie ein Telefongespräch führt.

Im Dachgeschoss gibt es einen schmalen Flur. Geradeaus geht es auf den Trockenboden, rechts und links sind je zwei Gesindekammern.

»Die zweite Tür auf der rechten Seite«, hat Carla gesagt. »Der Lichtschalter ist gleich an der Treppe.«

Sie hat gerade erst das Licht eingeschaltet, da öffnet sich seine Kammertür. Hat er sie gehört? Er trägt das lange Hemd über der Hose, und sein Haar ist nicht gekämmt, aber er schaut ihr mit glücklichen Augen entgegen.

»Helga!«, sagt er leise und nimmt ihre Hand. »Dass du nun endlich gekommen bist. Du bist ja ganz nass, Liebes. Komm herein und nimm das Tuch herunter.«

Er liebt sie immer noch, das sieht sie ihm an. Seine Kammer hat helle Wände, dort steht das zerwühlte Bett, daneben ein Nachttisch, ein weißer Stuhl und ein großer Schrank. Sogar die Dienstbotenkammern in der Villa sehen schöner aus als die Zimmer in den Bauernhäusern unten in Dingelbach.

»Nun sag, wie du dich entschieden hast«, bittet er sie und hängt das regentriefende Tuch über den Stuhl.

»Was soll ich dir sagen?«, fängt sie vorsichtig an. »Ach, Oskar, ich würde mit dir bis ans Ende der Welt gehen, ganz gleich, wohin, wenn ich nur bei dir sein könnte. Aber …«

Sie sieht, wie sich sein Gesicht verdunkelt.

»Aber?«

»Muss ich dir das erklären? Da ist der Heini, mein Kind. Den kann ich doch nicht alleinlassen.«

»Weil du ihn so sehr liebst«, sagt er leise.

»Das weißt du doch …«

»Ja«, sagt er und nickt dazu traurig. »Das weiß ich. In deinem Herzen nimmt der Heini allen Platz ein. Und ganz hinten in einer Ecke, da ist vielleicht ein kleiner Ort für mich. Aber so geht es eben nicht, Helga. Weil ich dich mit meinem ganzen Herzen liebe. Das ist zu ungleich, da werde ich immer um meine Liebe betrogen sein.«

Sie starrt ihn an und versteht nicht, was er meint. Sie liebt doch beide, den Heini und den Oskar. Warum ist das denn so schwer zu begreifen?

»Ich will dich doch nicht um deine Liebe betrügen, Oskar …«, fleht sie.

Aber er schüttelt nur den Kopf. »Wirst du mit mir fortgehen oder nicht?«, fragt er.

Warum ist er so halsstarrig und will immer nur mit ihr fortgehen? Oh, sie weiß schon, wer ihm das eingeredet hat.

»Wenn du das von mir verlangst, dann liebst du mich nicht«, ruft sie zornig. »Dann geh doch zu deiner Frau Küpper. Die hat kein Kind und kein Rind, da liegst du warm und wirst gefüttert wie der Hänsel im Märchenbuch …«

»Was redest du denn da?«, fragt er erschrocken und fasst sie fest bei der Hand. »Was hat die Frau Küpper damit zu tun?«

Sie spürt, wie ihr die Tränen herunterlaufen, aber sie ist zu verzweifelt, um ruhig nachzudenken.

»Das wirst du wissen«, schluchzt sie. »Ich sag dir nur eines, Oskar: Bleib bei uns in Dingelbach, dann komme ich zu dir, sobald ich vom Otto geschieden bin. Aber mit dir fortgehen, das will und kann ich nicht!«

»Ist das dein letztes Wort?«

Sie antwortet nicht, sondern reißt sich von ihm los und läuft aus der Kammer. Poltert die Treppen hinunter und will so schnell wie möglich aus der Villa flüchten, um sich draußen im Regen auszuweinen. Aber da steht plötzlich die Frau Küpper wie ein Geist auf dem Treppenabsatz. Einen langen hellblauen Morgenrock trägt sie, der in Helgas Augen wie ein Palastmantel aussieht.

»Guten Morgen!«, sagt sie zu Helga.

Es klingt sehr unfreundlich. Eher wie: Was hast du hier in meiner Villa zu suchen? Helga ist zu Tode erschrocken, drückt sich gegen die Wand und starrt die Erscheinung an. Da ist sie also. Die Frau, die ihr den Oskar gestohlen hat. Und jetzt wird sie sie vermutlich beschimpfen und davonjagen.

»Ich habe nicht die Gewohnheit, Gespräche zu belauschen«, sagt Frau Küpper. »Aber dem schrillen Tonfall, der an meine Ohren drang, habe ich entnommen, dass gestritten wurde. Habe ich recht?«

Helga schweigt verstockt. Was sie oben mit Oskar geredet hat, geht diese falsche Person nichts an.

»Ich verstehe Sie nicht«, fährt Frau Küpper ärgerlich fort. »Warum setzen Sie diesen armen Menschen so unter Druck? Die Sache wäre doch ganz einfach zu lösen. Wenn die Scheidung durch ist und Sie verheiratet sind, können Sie und Herr Michalski irgendwo im Umkreis eine Wohnung mieten. Sie besuchen Ihren Sohn hin und wieder in Dingelbach, und Herr Michalski fährt mit der Bahn zur Arbeit. Damit wäre allen geholfen.«

Wie sie das sagt, so von oben herab: »Damit wäre allen geholfen.« Oh, sie ist eine kluge, reiche Geschäftsfrau. Sie will sich Oskar als Liebhaber halten und sie, Helga, in eine Wohnung weit draußen stecken, sodass sie erst mit der Bahn fahren muss, um den Heini sehen zu können.

»Das könnte Ihnen so passen!«, sagt sie und muss schniefen. »Aber daraus wird nichts.«

Sie bringt den Mut auf, an Frau Küpper vorbei die Treppe hinunterzugehen. Unten ist die Küchentür nur angelehnt, sicher hat Carla das Gespräch mitgehört, aber das ist nun auch schon egal. Wenn der Oskar sie wirklich liebt, dann wird er in Dingelbach bleiben. Und wenn er fortgeht, dann liebt er sie eben nicht.

Der Regen durchnässt sie bis auf die Haut, als sie hinunter ins Dorf läuft. Sie hat das Tuch oben bei Oskar vergessen.