Kapitel 23
Oh, es ist so erniedrigend! So infam! Hinterhältig. Anmaßend …
Frieda findet keine Worte für das, was ihr angetan wurde. Wer ist sie denn? Ihre Mutter? Ihre Gouvernante? Die Aufpasserin vom Dienst?
Nein, sie ist bloß ihre Großmutter, und sie hatte nicht das mindeste Recht, sie so zu behandeln. Oh Gott – sie hat sie unsterblich blamiert. Und das Schlimmste ist, dass sie es niemandem erzählen darf. Weil es so furchtbar peinlich ist.
Am nächsten Morgen in der Schauspielschule flüstert Harry ihr zu: »Na, Frieda? War’s schön gestern Abend?«
Sie haben Theatergeschichte bei Dr. Rödermeier, eine ziemlich einschläfernde Veranstaltung, denn der Rödi hört sich schrecklich gern reden und duldet keine Zwischenfragen. Frieda und Annemarie schreiben das Wichtigste mit, auch jetzt notiert Frieda fleißig in ihr Heft und tut so, als hätte sie Harrys Frage nicht gehört.
»Du warst doch gestern Abend mit dem schönen Richard aus«, beharrt er. »Gib’s zu, der Erwin hat euch gesehen.«
Erwin Kreuzer, der ehrgeizige Streber! Wieso hat der sie gesehen? Was treibt der sich nach der Vorstellung noch beim Theater herum?
»Du fällst aber auch auf alles herein«, gibt sie leise zurück.
»Du bist also nicht mit ihm in der ›Weinklause‹ gewesen?«
»Lass mich in Ruhe!«
»Keine Antwort ist auch eine Antwort!«
Sie ist so aufgebracht, dass ihr der Bleistift abbricht und sie in ihrer Tasche nach dem Ersatzstift suchen muss. Erst dann findet sie zu der Theatertruppe des unsterblichen Molière zurück, der vor dem Sonnenkönig aufgetreten ist und mit seinen Komödien über den französischen »bourgeois« bei Hof Triumphe feierte. Konzentrieren kann sie sich trotzdem schlecht, da sie nun darüber nachgrübelt, wem der sommersprossige Erwin wohl alles seine Klatschgeschichten erzählt. Was kann er überhaupt gesehen haben? Gar nichts. Aber vielleicht erfindet er etwas, um sich wichtigzumachen. Es ist schon unglaublich, wie schnell sich solche Dinge am Theater herumsprechen. Sie hat bisher geglaubt, dass es Klatsch und Tratsch nur daheim in Dingelbach gäbe, wo eine Neuigkeit sich in Windeseile im ganzen Dorf verbreitet und an jeder Hausecke durchgehechelt wird. In der Großstadt ist es anders, hat sie gemeint, da regen sich die Menschen nicht über solche Kleinigkeiten auf, da denkt man größer und ist tolerant. Aber wie es scheint, ist das Frankfurter Theater schlimmer als ein kleines Taunusdorf.
Dabei ist überhaupt nichts gewesen. Also, so gut wie nichts. Eine Harmlosigkeit, die für sie mit einer fürchterlichen Blamage geendet ist. Das allerdings weiß zum Glück keiner.
Das Stück Kilian oder die gelbe Rose ist schon dreimal gegeben worden. Besonders die Premiere ist aufregend gewesen, da hat man die Anspannung der Schauspieler deutlich merken können. Die erfasst sogar die großen und erfahrenen Künstler: Keiner ist gegen das Lampenfieber gefeit. Selbst wenn er schon zwanzig Jahre auf der Bühne gestanden hat, es erwischt ihn trotzdem immer wieder. Natürlich ist auch sie schrecklich aufgeregt gewesen; auch wenn es nur ein winziger Auftritt war, so hätte sie doch eine Menge falsch machen und schlimmstenfalls die Szene »schmeißen« können. Die Maskenbildnerin hat sie geschminkt und ihr Haar zurechtgemacht, dann hat sie hinter der Bühne auf ihren Auftritt warten müssen, weil die Lilly Sedina, die die Hauptrolle spielt, sie nicht in ihrer Garderobe haben wollte. Aber der Gustl Neubert, der Inspizient, hat sich gleich ihrer angenommen und dafür gesorgt, dass sie im richtigen Moment auf die Bühne kommt. Dann ist alles ganz leicht und selbstverständlich gewesen, denn wenn sie erst einmal auf der Bühne steht, fällt alles Lampenfieber von ihr ab, und sie ist in ihrem Element. Hinterher ist sie traurig gewesen, dass die beiden Auftritte nur so kurz waren und sie kein einziges Wort sagen darf. Neidisch hat sie hinter der Bühne zugehört und hie und da gedacht, dass sie es anders gemacht hätte und dass es auf ihre Art besser und glaubwürdiger wäre. Die Großen kochen eben auch nur mit Wasser.
Richard Graf war allerdings unübertrefflich gut, er hat den meisten Applaus eingeheimst, einige Frauen im Publikum haben sogar »Bravo« gerufen, und es sind Blumen auf die Bühne geworfen worden. Sie selbst durfte erst nach dem dritten Vorhang mit auf die Bühne, da war dann auch der Regisseur dabei und hat sich verbeugt. Hinterher sind alle ins »Paradiso« gegangen, um die Premiere zu feiern, aber sie konnte nicht dabei sein, denn der Chauffeur der Großmutter hat schon vor dem Theater gewartet, um sie in die Bockenheimer Landstraße zu fahren. Das haben die Mutter und die Großmutter vor einiger Zeit miteinander ausgemacht: Wenn Frieda sich ein Theaterstück ansehen muss oder einen Auftritt im Theater hat, dann wird sie nach der Vorstellung abgeholt und übernachtet bei der Großmutter.
Bei der zweiten Aufführung eine Woche später war man schon gelassener; die Schauspieler haben hinter der Bühne Witze gemacht, und die Hauptdarstellerin hat sich eine Häkelarbeit mitgebracht, weil sie zwischendrin eine halbe Stunde nichts zu tun hat. Als Frieda danach durch den Flur zum Bühnenausgang gegangen ist, hat Richard Graf sie angesprochen.
»Du machst deine Sache sehr gut, Frieda!«
Er hat gelächelt und ihr die Hand gegeben.
»Schön, dass du mit mir zufrieden bist«, hat sie lachend erwidert.
Einen kleinen Moment lang hat er ihre Hand festgehalten und sie angesehen mit seinen schönen, sprechenden Augen.
»Dann wünsche ich eine gute Nacht«, meinte er dann. »Da draußen wartet dein Chauffeur auf dich.«
Schau an, hat sie gedacht. Er weiß, dass ich abgeholt werde. Im Auto hat sie darüber schmunzeln müssen, aber es hat ihr auch gefallen, dass er ganz offensichtlich nach ihr schaut. Der Großmutter hat sie natürlich nichts davon erzählt, weil sie sich sonst wieder anhören muss, dass sie sich von Männern wie Herrn Richard Graf fernhalten soll.
Gestern war nun also die dritte Aufführung von Kilian oder die gelbe Rose Der Zuschauerraum war leider nicht ganz voll, das hat daran gelegen, dass momentan in Frankfurt unfassbar viel los ist: Da werden Bälle und Tanzveranstaltungen angeboten, im Kunsthaus, im Palmengarten und im Zoo werden Feste gefeiert, und im Opernhaus hat der Tenor Franz Völker gesungen. Trotzdem haben alle Schauspieler ihr Bestes gegeben. Das gehört sich so, wenn man seinen Beruf ernst nimmt, und die Zuschauer haben es ihnen mit begeistertem Applaus gelohnt. Nach der Vorstellung ist das Ensemble recht schnell auseinandergelaufen, und als sie am Bühnenausgang stand, war das Auto der Großmutter noch nicht vorgefahren.
»Frieda, wie schön, dass ich dich noch erwische«, hörte sie da seine Stimme. »Lass uns doch noch schnell auf einen Wein einkehren, Mädchen. Mach mir die Freude!«
Er klang kumpelhaft und irgendwie selbstverständlich. Nach der Vorstellung braucht man eine kleine Weile, um die Anspannung von sich abfallen zu lassen, das geht am besten bei einem Gläschen Wein und einem netten Gespräch unter Kollegen. Aber natürlich weiß Frieda: Er ist nicht irgendein Kollege. Er ist Richard Graf.
»Schrecklich gern«, hat sie freundlich gesagt. »Aber ich werde gleich abgeholt, deshalb muss ich leider passen.«
»Die gestrenge Großmama?«, fragte er und zog die Augenbrauen ironisch in die Höhe.
Das weiß er also auch.
»Pass auf, wir machen es so«, schlug er mit harmlosem Lächeln vor. »Ich schreib ein Billettchen und hinterlege es beim Pförtner. Der kann es dem Chauffeur geben. Und nachher setze ich dich in ein Taxi, damit du sicher zu deiner Großmutter kommst.«
Frieda fand den Vorschlag zwar gewagt, aber ganz abgeneigt war sie nicht.
»Ich weiß nicht …«, überlegte sie.
Wenn in diesem Moment der Wagen der Großmutter vor dem Bühnenausgang aufgetaucht wäre, dann hätte sie sich mit freundlichem Bedauern verabschiedet und wäre davongefahren. Aber nachdem Richard Graf hastig ein paar Worte auf seine Visitenkarte geschrieben und sie dem Pförtner gebracht hatte, war Omas Automobil immer noch nicht zu sehen.
»Gehen wir«, sagte er und fasste sie unterm Arm. »Es ist nur um ein paar Ecken. Ehrlich, ich staune immer wieder, welche Bühnenpräsenz du schon in deinem jugendlichen Alter hast. Kein Mensch schaut in dieser Szene auf mich – alle starren auf das hübsche Hausmädchen … Haha …«
Sie ließ sich mitziehen, hörte ihm lachend zu und wusste recht gut, dass er maßlos übertrieb. Aber es gefiel ihr. Nicht das, was er sagte, war faszinierend, sondern vielmehr seine Art zu sprechen, seine Stimme, die Unbefangenheit, mit der er sich ihr mitteilte. So ganz vertraulich und selbstverständlich, als würden sie sich schon jahrelang kennen. Er führte sie in die Alte Mainzer Straße und bog dann in eine schmale Seitengasse ab. Da brannten zwar die Straßenlaternen, und hie und da war ein Lokal beleuchtet, aber trotzdem hat er sie bei der Hand genommen und manchmal auch den Arm um ihre Schultern gelegt. Sie fand es schön, dass er sie beschützen wollte. Es war ganz etwas anderes, als mit Harry oder mit Rudolf Stimpel durch die nächtliche Stadt zu laufen, denn Richard Graf ist ein gestandener Mann, ein richtiger Kavalier. Dumm war nur, dass man ihn hie und da erkannt hat, da wurde er gegrüßt, einige Leute haben sich sogar nach ihnen umgedreht und geflüstert: »Der Richard Graf! Hast du ihn gesehen? Da geht er, und ein Mädel hat er auch dabei …«
Daran hatte sie natürlich nicht gedacht. Die Schauspieler vom Theater sind in der ganzen Stadt bekannt, da wird wohl mancher etwas ganz Falsches von ihr denken. Möglich, dass auch Erwin Kreuzer hier unterwegs gewesen ist und sie gesehen hat. Aufgefallen ist er ihr nicht, aber das will nichts heißen, weil es dämmrig war und sie mehr auf ihren Begleiter als auf die Passanten geachtet hat.
Richard Graf hat ihre Verlegenheit bald bemerkt und sie beruhigt: »Da musst du dir nichts dabei denken, Frieda. Das ist morgen schon wieder vergessen. Und außerdem musst du dich langsam daran gewöhnen, dass man als Künstler nun einmal in der Öffentlichkeit steht.«
Er hat sie in ein kleines Lokal geführt, das »Die Weinklause« heißt. Es war noch recht gut besucht, aber der Kellner ist gleich auf Richard Graf zugegangen und hat sie beide in einen kleinen Nebenraum geführt, wo es nur drei Tische gab, die alle noch frei waren. Sie hat den Tisch links in der Ecke ausgesucht, weil der weit genug vom Fenster entfernt war, und der Kellner hat ihnen die Weinkarte vorgelegt.
»Den Rüdesheimer? Wie immer, Herr Graf? Und die Dame? Wir haben einen ausgezeichneten Moselschlecker, leicht und süffig …«
»Danke schön«, sagte sie. »Keinen Wein. Ich nehme einen Kaffee, bitte.«
»Da wirst du die ganze Nacht nicht schlafen können«, meinte Richard Graf schmunzelnd.
»Oh, mir macht das nichts«, prahlte sie. »Ich trinke oft am Abend noch zwei Tassen Kaffee und schlafe danach wie ein Baby.«
»Ach, die Jugend!«, seufzte er. »Wenn ich das doch auch noch könnte …«
Sie hat gelächelt und überlegt, dass ihre Schwester Ida jetzt vermutlich gefragt hätte: »Wie alt sind Sie eigentlich?« Sie selbst hat sich lieber zurückgehalten, denn sie weiß, dass Schauspieler nicht gern über ihr Alter sprechen. Nicht nur die Frauen sind da eitel, auch die Männer. So hat sie seinem Redefluss zugehört und dabei Zucker in ihren Kaffee gerührt. Zuerst hat er von Rüdesheim geschwärmt, vom schönen Rhein, den schon Heinrich Heine besungen hat, von den romantischen Burgen und der Loreley auf dem Felsen.
»Nächste Woche habe ich zwei Abende frei – da will ich mit Freunden eine Rheinfahrt unternehmen. Wenn du magst, nehmen wir dich mit. Aber … Ach ja, das wird deine gestrenge Frau Mama wohl nicht gestatten, wie?«
»Nein, ganz sicher nicht …«
»Sehr schade, Mädchen. Du weißt nicht, was dir da an Schönem entgeht. Das sind Eindrücke, die ein Künstler in seinem Herzen bewahrt und die in seine Arbeit einfließen. Die Reife, weißt du? Eine Schauspielerin sollte innerlich reifen, und dazu muss sie ins Leben hinaus und Erfahrungen sammeln. Schmerz und Glück, Hochgefühl und tiefes Leid – du weißt sicher, was ich meine …«
Dabei schaute er ihr tief in die Augen, sehr tief und sehr bedeutsam, als gäbe er ihr damit einen Einblick in den unendlichen Brunnen seiner Lebenserfahrungen. Frieda war beeindruckt. Er ist einer, der das Leben kennt, der in der Welt herumgekommen ist. Und wer ist sie? Ein Mädchen vom Dorf, von Mutter und Großmutter streng behütet, eingesperrt wie die Hinkel im Stall. Wie soll sie da jemals eine gute Schauspielerin werden?
Er schenkte sich Wein ein, schob ihr das Glas zu und fragte, ob sie nicht wenigstens einmal probieren wollte.
»Der Wein ist eine Gottesgabe, Frieda. Die Römer haben ihn uns vor zweitausend Jahren gebracht, seitdem wächst er hierzulande uns zur Freude.«
Sie probierte einen kleinen Schluck. Zu Hause gibt es niemals Wein, höchstens einmal einen Äppler, aber das saure Zeug mag sie nicht. Die Großmutter trinkt schon hie und da ein Gläschen Rotwein, aber sie hat Frieda noch nie davon angeboten. Der Rüdesheimer Wein schmeckte zunächst bitter; sie nahm einen zweiten Schluck, aber es wurde nicht besser. Vielleicht lag es am Kaffee.
»Geht so«, meinte sie und schob ihm das Glas wieder zu.
Er war amüsiert. Sie sei die Erste seiner Bekannten, die keinen Wein mag. Aber sie sei nun mal etwas ganz Besonderes, das würde ihm gefallen. Dann wollte er wissen, wann sie mit der Schauspielschule fertig sei.
»Im Frühjahr ist Prüfung.«
Er war erfreut und riet ihr, noch vor der Abschlussprüfung an verschiedenen Theatern vorzusprechen. Am Schwarzen Brett im Theater könne sie sehen, wo eine Vakanz sei, zum Beispiel suchten die Münchner Kammerspiele eine »jugendliche Liebhaberin«, auch in Bochum und Meiningen könne sie es versuchen.
»In München könnte ich ein gutes Wort für dich einlegen«, versprach er. »In Bochum vielleicht auch. Lass mich wissen, was du vorhast, Frieda, dann schauen wir, wie wir das anstellen. Aber wenn du mich fragst: Ich rate dir zu Meiningen oder Bochum. Kleine Bühnen machen junge Künstler groß. In Bochum wirst du Rollen spielen dürfen, die in Hamburg oder München an dir vorbeigehen. Da bist du höchstens die Zweitbesetzung, und bekanntermaßen werden Schauspieler so gut wie niemals krank …«
Er trank ihr zu, und sie hob die Kaffeetasse. Sie mussten beide lachen, und er behauptete, sie sei ein faszinierendes Mädel, weil sie so natürlich sei und solch einen Sinn für Humor habe.
»In der kommenden Spielzeit werde ich mich wohl in Wien herumtreiben. Da habe ich ein Engagement angenommen. Nach langem Überlegen, muss ich sagen, weil ich auch Angebote aus Berlin habe, aber schließlich habe ich mich doch für Wien entschieden.«
»Am Burgtheater etwa?«, fragte sie beeindruckt.
»So gut wie«, behauptete er. »Der Paul Hörbiger ist ein guter Freund von mir, und die Paula Wessely hat vor ein paar Wochen bei mir angerufen … Ja, was ist denn?«
Der Kellner war eingetreten und räusperte sich vernehmlich.
»Verzeihung, Herr Graf. Da ist eine Dame, die nach Ihnen gefragt hat.«
»Eine Dame? Hören Sie, mein Lieber, ich bin nicht da. Bringen Sie noch einen Wein und für meine Begleiterin …«
In diesem Moment betrat die Großmutter den kleinen Raum. Elegant gekleidet, lächelnd und ohne jegliche Verlegenheit ging sie auf Richard Graf zu. Ein richtig großer Auftritt – eindrucksvoll und niederschmetternd zugleich.
»Einen angenehmen Abend wünsche ich, lieber Herr Graf. Wie ich sehe, haben Sie sich meiner Enkelin angenommen. Das ist ausgesprochen freundlich von Ihnen. Ist es erlaubt, sich dazuzusetzen? Ich danke …«
Richard Graf ist höflich aufgestanden; sogar in diesem prekären Augenblick behielt er die Fassung. Er verbeugte sich galant und rückte Frau Haller einen Stuhl zurecht.
»Was für eine Überraschung, gnädige Frau. Ich freue mich außerordentlich. Darf ich Sie zu einem Weinchen einladen? Es wäre mir eine große Ehre …«
»Ein Selterswasser genügt mir, in meinem Alter ist man mit dem Alkohol vorsichtig. Leider hatte ich bisher keine Gelegenheit, Sie im Theater zu sehen, lieber Herr Graf. Sie wissen ja, ich habe zahlreiche Verpflichtungen. Aber Kilian oder die gelbe Rose soll ja ein großer Erfolg sein …«
»Das kann man durchaus sagen, liebe Frau Haller. Nicht zuletzt auch durch die Mitwirkung Ihrer talentierten Enkelin. Ich hätte Fräulein Haller selbstverständlich per Taxi sicher und wohlbehalten bei Ihnen abgeliefert …«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte die Großmutter mit einer gewissen Betonung. »Nun, Sie haben Glück, dass ich ganz zufällig in der Nähe unterwegs war und Ihnen die Mühe ersparen kann.«
»Oh, es wäre mir keine Mühe gewesen, gnädige Frau. Wir haben uns über berufliche Dinge unterhalten, Fräulein Haller und ich. Ich denke, Ihre Enkelin hat noch eine große Zukunft auf der Bühne vor sich.«
Die Großmutter nippte ein wenig Selterswasser, tauschte noch ein paar Höflichkeiten aus, dann erklärte sie, ihr Wagen warte, und sah Frieda auffordernd an. Es war überhaupt das erste Mal, dass sie die Augen an diesem Abend auf Frieda richtete. Der Blick war deutlich, und dahinter stand eine ganze Serie zorniger Vorwürfe.
Der Abschied fiel kurz aus. Richard Graf reichte Frieda die Hand und murmelte: »Ich hoffe, ich habe dir keine Unannehmlichkeiten bereitet, Frieda. Das täte mir unendlich leid …«
»Aber nein«, gab sie zurück. »Keineswegs … Es war sehr nett, sich mit Ihnen zu unterhalten …«
Die Großmutter kürzte den Dialog ab, indem sie Frieda beim Arm nahm und zum Ausgang zerrte.
Draußen auf der Straße atmete Frieda tief durch. »Ich verstehe dich nicht, Oma!«, schimpfte sie dann los. »Was hast du eigentlich geglaubt, was wir dort treiben?«
Sie erhielt keine Antwort, die Großmutter hatte das verbindliche Lächeln eingestellt, ihr Gesicht war unbeweglich. Im Auto saßen sie nebeneinander auf dem Rücksitz und schwiegen sich an. Die Großmutter starrte geradeaus auf die Straße, Frieda schaute wütend aus dem Seitenfenster. Oh Gott – er würde sie ganz sicher niemals wieder einladen. Dabei war es so schön gewesen, ihm zuzuhören und dabei in dem vielsagenden Blick seiner Augen zu versinken. Sie konnte ja so viel von ihm lernen, er war hilfsbereit, war ihr gewogen, wollte sich für sie einsetzen. Und das alles hatte die Großmutter ihr mit diesem lächerlichen Auftritt kaputt gemacht.
Woher sie wohl wusste, dass er mit ihr in der »Weinklause« eingekehrt ist? Oh, sie wird sich erkundig haben, sie kennt ja Hinz und Kunz am Theater. Am Ende hat sie Frau Einzig angerufen. Wie furchtbar – nur das nicht!
In der Villa, endlich unter vier Augen, entlud sich dann der geballte großmütterliche Zorn über ihr armes Haupt. Ungehorsam sei sie, leichtsinnig, setze ihre Ausbildung, ihre ganze berufliche Zukunft aufs Spiel. Ihre Bemerkung, dass es ein ganz harmloses Gespräch unter Kollegen gewesen sei, quittierte die Großmutter mit höhnischem Gelächter.
»Er hat sein Programm, das er abnudelt. Und wo es endet, das wissen wir!«
Dann ließ sie kein gutes Haar an Richard Graf.
»Ein abgehalfterter Liebhaber! Weißt du, dass der schon auf die fünfzig zugeht? Bist du wirklich so dumm und glaubst, er wolle etwas für deine berufliche Zukunft tun? Du lieber Gott! In Berlin ist er abgeblitzt. Hamburg? Da haben sie ihn längst ausrangiert. Burgtheater in Wien? Den muss der Größenwahn gepackt haben, dir so etwas zu erzählen. Noch ein oder zwei Jahre, dann kräht kein Hahn mehr nach Richard Graf. Weil er eben nur ein charmanter Nichtskönner, aber kein guter Schauspieler ist …«
»Das ist nicht wahr, Oma! Ich habe ihn doch auf der Bühne erlebt …«
»Ich auch! Und ich weiß, wovon ich rede.«
Frieda war so empört und unglücklich, dass sie zu weinen begann. Ihr den Richard Graf so schlechtzumachen, das war gemein.
»Hör zu, Kind«, sagte die Großmutter, die nun schon milder gestimmt war. »Ich war auch einmal jung und habe Dummheiten gemacht, darum kann ich dich verstehen. Aber solange ich die Verantwortung vor deiner Mutter trage, werde ich alles tun, um dich vor schlimmen Erfahrungen zu bewahren. Und jetzt gehst du schlafen, es ist Mitternacht vorbei, und morgen musst zu zum Unterricht.«
Beim Frühstück in der Villa sitzt sie allein am Tisch, die Großmutter liege noch zu Bett, wird ihr gesagt. Auch gut, denkt sie. Ich will sowieso nicht mit ihr reden, nachdem sie mich so behandelt hat.
Der Tag in der Schauspielschule schleppt sich dahin, sie ist unkonzentriert, reagiert empfindlich auf Kritik und lässt den armen Harry spüren, dass seine Eifersucht ihr auf die Nerven geht.
»Was ist denn heute nur los mit dir?«, fragt Annemarie besorgt.
»Hab schlecht geschlafen.«
»Ach ja, wir haben Vollmond. Da kann ich auch immer nicht schlafen.«
Vollmond – auch das noch. Trübsinnig und schlecht gelaunt fährt sie am Nachmittag zurück nach Dingelbach. Morgen ist Sonntag, Annemarie geht mit ihren Eltern ins Café am Zoo, da essen sie Kuchen und schauen sich die Tiere an. Und sie muss in Dingelbach mit der Mutter und den Schwestern in die Kirche gehen, und hinterher wird die Mutter ihr irgendeine Arbeit im Laden aufhalsen. Erzählen kann sie ihren Kummer niemandem, höchstens Ida würde sie verstehen, aber die würde sagen, sie sei selber schuld, wenn sie sich das gefallen lässt. Nein, sie behält es besser für sich.
Zu Hause angekommen, erlebt sie eine Überraschung. Herta wirft sich ihr schluchzend in die Arme und küsst sie auf beide Wangen.
»Ach, Friedchen! Ich bin dir ja so dankbar! Ach, du hast mir so geholfen. Stell dir nur vor …«
Sirius Engelke hat um ihre Hand angehalten! Ganz offiziell mit Blumenstrauß und Kniefall. Die arme Herta ist ganz aufgelöst vor Glück, aber die Mutter hat gesagt, sie müsse sich zusammennehmen, weil es ja noch nicht offiziell ist und man im Dorf sonst über sie reden würde. Und überhaupt könne sie sich noch nicht vorstellen, was das für eine Ehe werden solle. Wo der Sirius Engelke die ganze Woche über unterwegs sei und in Höchst nur ein kleines Zimmerchen gemietet hätte.
»Am Dienstag will er kommen und mit uns Kaffee trinken«, erzählt Herta, die rosige Wangen vor lauter Glückseligkeit hat. »Da musst du uns aber ein Weilchen miteinander allein lassen, Mama. Wenigstens ein paar Minuten.«
»Damit er dich küssen kann?«, fragt Ida grinsend.
»Ach, sei doch still, du dummes Mädchen!«, wehrt sich Herta verschämt.
»Wieso? Das ist wichtig. Einer, der nicht anständig küssen kann, den wollte ich nicht haben!«, beharrt Ida.
»Deine Meinung interessiert hier nicht, Ida«, versetzt die Mutter ärgerlich. »Geh mal rüber und wisch im Laden die Theke ab.«
Dann erzählt sie Frieda, dass die Frau Pfarrer im Laden gefragt hätte, ob die Proben für das Krippenspiel bald anfangen würden, und dass Frieda daran denken solle, die Kirche nach der Probe wieder abzuschließen und alle Lichter auszuschalten.
»Ach ja – und der Lehrer Hohnermann war auch da und hat mir Notenblätter für dich gegeben. Er hätte eine schöne Melodie erdacht und fragt, ob du vielleicht einen Text dazu schreiben könntest.«
Na prima, denkt Frieda deprimiert. Das Krippenspiel und Hohnermanns Liedchen. Dingelbach hat mich wieder.