Kapitel 24
Der Killinger Hannes hat Heinz nach der Schule einen Umschlag zugesteckt und dabei gegrummelt: »Da ist was für dich, Bub. Sei ihm net bös, er ist halt ein armer Kerl.«
Dann hat er der Julia, die neben Heinz gestanden hat, mit seinen großen Schmiedehänden ganz vorsichtig über den Kopf gestrichen und ist zurück zur Schmiede gelaufen. Heinz hat den Brief misstrauisch angeschaut; dann hat er den Tornister abgesetzt und den Brief hineingesteckt.
»Willst du ihn denn nicht aufmachen?«, hat Julia neugierig gefragt.
»Nee. Ich weiß schon, wer das geschrieben hat.«
»Ach so …«
Julia hat wieder husten müssen. Es ist kalt geworden, die Novemberwinde pfeifen durchs Dorf, manchmal sind die Dächer am Morgen schon mit weißlichem Reif bedeckt. Im Grossmannhof gibt es keine Kohlen mehr, und das Holz ist auch fast aufgebraucht. Julia erzählt, dass sie immer nur friert, sogar wenn sie unten am Küchenherd sitzt, ist ihr kalt. Und nun hat sie sich erkältet und war zwei Tage nicht in der Schule.
»Die Mutter hat gesagt, dass es in der Wohnung in Frankfurt viel wärmer sein wird. Weil wir da nur zwei Zimmer haben, die kann man leicht mit dem kleinen Ofen heizen. Da werde ich sicher bald gesund sein, weil ich nicht mehr frieren muss.«
Sie haben eine Wohnung in der Altstadt von Sachsenhausen gemietet, weil ihr Papa jetzt im Schlachthof arbeitet. Nächste Woche ziehen sie dorthin, sie haben schon zwei Kisten zusammengepackt, die wird ihnen der Altmann Schorsch mit dem Fuhrwerk nach Sachsenhausen bringen. Auch das Bettzeug und die Möbel dürfen sie aufladen, weil es nicht viel ist. Die Betten werden sie auseinanderbauen, dann gibt es noch einen Schrank, Tisch und Stühle und eine Kommode, mehr haben sie nicht.
Am Brunnen trennen sie sich. Julia geht hinüber zum Grossmannhof, und Heinz biegt ins Hoftor zum Schützhof ein. Da ist auch nichts mehr wie früher. Hinten im Schweinestall wird umgebaut, da laufen zwei Maurer herum, die der Vater aus Steinbach hat kommen lassen. Die Schweinchen haben sie auf einen anderen Hof gebracht oder geschlachtet, weil die Marie den Geruch vom Schweinemist nicht ertragen kann und lieber ein schönes Badezimmer mit einer Wanne und gekachelten Wänden haben will.
Auch im Haus hat es Veränderungen gegeben. Die Möbel vom Elternschlafzimmer, die noch vom Großvater gewesen sind, hat der Vater verkauft und dafür weiß gestrichene, verschnörkelte Betten und einen Schrank mit Glasscheiben in den Türen angeschafft. Dazu hat die Marie einen »Toilettentisch« haben wollen, da hat Heinz erst gedacht, dass das ein neumodischer Abort ist. Aber dann hat das Möbelhaus ein schmales Tischlein mit drei Schubladen gebracht, und obendrauf ist ein Spiegel montiert. Eigentlich sind es drei Spiegel, ein großer in der Mitte und zwei schmälere rechts und links. Die kann man bewegen, damit sich die Marie auch von der Seite bewundern kann. An dem Toilettentisch will sie sich das Haar kämmen und frisieren, das ist der einzige Zweck von diesem Möbelstück. Auch das Wohnzimmer soll neu eingerichtet werden, aber vorher will die Marie, dass die Wände mit schöner Tapete beklebt werden, deshalb sind da jetzt die Tapezierer am Werk, und die Möbel sind mit Tüchern zugedeckt.
In der Küche ist vorerst alles beim Alten geblieben, darüber ist Heinz sehr froh. Nur die Großmutter Gertrud hat sich verändert: Sie ist grämlich und klagt über Rückenschmerzen, auch zittern ihr jetzt oft die Hände, sodass sie die Milch beim Eingießen verschüttet.
Wie Heinz in die Küche tritt, sitzt der Vater schon am Tisch und redet mit dem Knecht über die Kuh Marei, die ein entzündetes Euter hat. Die Großmutter steht am Herd und füllt einen Teller mit Kochfleisch und Kartoffeln für Heinz, dann setzt sie sich nieder und sagt, dass man den Alberti Rudolf holen muss, damit er nach der Marei sieht.
»Der Drecksack kommt mir net ins Haus«, widerspricht der Vater und stößt die Gabel in eine Kartoffel. »Lieber zahl ich den Tierarzt. Aber zuerst probierst du es mit der Salbe, Hannes.«
Hannes nickt gehorsam. Früher ist er einmal ein fröhlicher Kerl gewesen und hat mit Heinz gespielt, wenn er Zeit gehabt hat. Aber jetzt hat er mitbekommen, dass hier auf dem Hof ein neuer Wind weht, und er redet dem Vater und der Marie nach dem Mund. Vor allem an der Marie hat er einen Narren gefressen, die lächelt ihn immer an und zeigt dabei ihre Grübchen, die sie in den Wangen hat. Und wenn der Vater nicht dabei ist, dann schwatzt sie auch gern mit dem Hannes, lehnt sich dabei an einen Stallbalken und streckt den Busen vor.
»Die ist mit allen Wassern gewaschen, das Weibsbild«, sagt die Großmutter, wenn sie mit Heinz allein in der Küche ist. »Nimm dich vor der in Acht, Bub. Die schreckt vor nix zurück.«
Weil jetzt der Vater und der Hannes mit am Tisch sitzen, sagt sie nichts und stochert nur auf ihrem Teller herum. Die Großmutter Gertrud hat ihre Macht verloren, denn der Vater hört nur noch auf die Marie, und wenn die Großmutter etwas gegen sie sagt, wird der Vater wild. Einmal hat er die Großmutter sogar mit dem Schürhaken bedroht, da hat er dicht vor ihr gestanden, den Arm mit dem eisernen Gerät erhoben, das Gesicht vor Wut ganz verzerrt. Das war, weil die Großmutter ihn einen »Weschlabbe« geschimpft hat, das ist einer, der sich von der Frau am Gängelband führen lässt. Aber da ist die Großmutter steif und gerade vor ihm stehen geblieben und hat ihm ins Gesicht gesehen. Da hat der Vater den Arm heruntergetan und den Schürhaken in die Holzkiste geworfen. Wie er aber aus der Küche gewesen ist, hat sich die Großmutter auf die Ofenbank setzen müssen, und sie hat am ganzen Körper gezittert.
»Verblendet hat ihn das Aas. Dass er die eigene Mutter erschlägt …«
Heinz fragt sich, wie das wohl gehen wird, wenn die Marie erst bei ihnen eingezogen ist. Vielleicht wird sie dann mit dem Vater oben im Wohnzimmer essen, wie die Frau Küpper oben in der Villa und die feinen Leute in der Stadt. Und er würde dann mit dem Hannes und der Großmutter in der Küche bleiben. Das wäre eine gute Sache, denn dann wären sie hier unter sich und man könnte frei miteinander reden. So aber schwatzt der Vater nur mit dem Hannes und schaufelt sein Essen in sich hinein, ohne zur Großmutter oder zu Heinz hinüberzuschauen. Heinz ist nach wie vor Luft für den Vater, er ist nicht mehr sein Sohn, sondern nur noch einer, der mitarbeiten muss und den er durchfüttert. Er ist weniger wert als der Knecht Hannes, mit dem der Vater sich wenigstens unterhält und manchmal auch einen Witz macht.
Heinz hat eine Weile geglaubt, dass der Schmerz darüber vergehen wird, aber er hat sich getäuscht. Es tut jeden Tag von Neuem weh, wenn der Vater an ihm vorübergeht, ohne ihn anzusehen, oder wenn er davon redet, dass die Marie in ihrem Bauch seinen Sohn und Erben trägt. Die Großmutter hat recht, wenn sie sagt, dass die Marie ein falsches Aas ist. Heinz hat inzwischen gemerkt, dass sie es nicht ehrlich meint, wenn sie freundlich zu ihm ist und ihm sagt, dass er ein fleißiger Bub sei und ein guter Bauer werden würde. Die Augen sind ihm aufgegangen, wie er neulich am Abend vom Killinger Hannes heimgekommen ist. Da hat das Auto vom Vater im Hof gestanden, und die beiden haben noch daringesessen. Die Marie am Steuer, weil sie einen Führerschein hat, und der Vater neben ihr. Die Scheinwerfer sind noch an gewesen, sie haben auf die Tür vom Kuhstall geleuchtet, sodass man jedes einzelne Astloch hat sehen können. Heinz hat sich leise vorbeischleichen wollen, aber dann ist er stehen geblieben.
»Der Notar muss es beglaubigen, Otto. Sonst gilt es nicht.«
»Ich schreib’s in mein Testament, das muss genügen.«
»Ja, soll unser Sohn später einmal als Tagelöhner sein Brot verdienen müssen? Ich will, dass du den Heinz enterbst, das musst du beim Notar hinterlegen. Wenn du das nicht tust, dann weiß ich net, ob ich dich heiraten kann. Dann bleib ich mit meinem Sohn bei den Eltern, und du kannst dir eine andere suchen …«
»Sei ruhig, Marie«, hat der Vater geknurrt. »Ich tu’s ja, wenn es dir so wichtig ist. Reg dich net auf, sonst schadet es am Ende noch unserem Kind.«
»Magst du einmal fühlen, wie er sich bewegt? Da musst du die Hand hintun … Net da oben, weiter unten … Ja, so … Spürst du’s jetzt?«
»Und wie!«
Dann haben die beiden nichts mehr gesagt, aber man hat trotzdem Geräusche gehört, und Heinz ist schnell an der Mauer entlang ins Haus gelaufen.
So ein falsches Mensch ist die Marie also. Nun weiß er es. Aber er wird ihr nicht zeigen, dass er sie durchschaut hat, er ist nicht dumm, er tut harmlos und lässt sie im Ungewissen. Eines Tages wird der Vater schon merken, was er sich da ins Haus geholt hat, aber dann wird es zu spät sein, weil sein Sohn Heinz dann auf und davon ist. Dazu ist er fest entschlossen. Sobald er alt genug ist, geht er vom Hof und sucht anderswo sein Glück. Vielleicht in Amerika. Oder in Afrika. Auf jeden Fall bleibt er nicht hier.
Als der Vater mit dem Hannes aus der Küche ist, geht Heinz in die Speisekammer und nimmt eine Räucherwurst, einen Topf mit Handkäs und ein großes Brot heraus. Die Großmutter sieht ihm dabei zu und sagt nichts, sie packt sogar noch ein Stück Butter in Papier und legt es dazu.
»Dass die Julia nach Frankfurt ziehen muss«, sagt sie traurig. »Das ist ein Unglück. Samstag wird der Hof versteigert. Ja, wenn der Herbert net alles so heruntergewirtschaftet hätt, dann wär das net so gekommen.«
Heinz sagt nichts dazu. Aber es gefällt ihm nicht, dass die Großmutter über den armen Herbert Grossmann herzieht, der sich vor Kummer aufgehängt hat, denn man soll über die Toten nicht schlecht reden. Auch über seine Mutter, die Helga, hat die Großmutter Gertrud böse Dinge gesagt, und deshalb geschieht es ihr nur recht, wenn die Marie ihr jetzt zeigt, was eine Harke ist.
Er wickelt Wurst, Butter und Brot in ein Tuch, den Topf trägt er in der Hand. Drüben auf dem Grossmannhof sind Küche und Kammer leer, sie haben nur noch Kartoffeln und ein paar Kohlköpfe aus dem Garten. Vieh haben sie schon lange nicht mehr, auch die Hinkel haben sie geschlachtet, nur die alte Stute steht noch im Stall, aber die kann nicht mehr arbeiten und wird wohl zum Abdecker kommen.
Julias Mutter nimmt ihm die Sachen ab und bedankt sich, dann schneidet sie gleich die Wurst und das Brot auf, weil Kurt so gern Räucherwurst mag. Die Butter legt sie auf ein Tellerchen und stellt sie dazu. Das Lenchen Grossmann sitzt auf der kalten Ofenbank, und die Oma Anni ist gar nicht mehr auf dem Hof, sie wohnt jetzt beim Altmann Schorsch, da haben sie ihr eine Dachkammer eingerichtet.
»Du musst auch davon essen, Julia«, sagt Heinz, dem es nicht gefällt, dass nun der kleine Bruder die ganze Wurst verschlingt.
»Lass es nur dem Kurti, ich hab keinen Hunger«, behauptet sie. Dann gehen sie miteinander hoch in ihre Kammer, da ist es zwar kalt, aber sie sind wenigstens unter sich. Das Bett hat sie ordentlich gemacht, und ihre Kleider hängen an den Wandhaken. Die Spielsachen sind fast alle schon eingepackt, nur ein Bilderbuch und ihre Puppe liegen noch auf dem Schemel neben dem Bett. Die Puppe hat sie aus Frankfurt mitgebracht, sie hat einen Kopf aus Porzellan und aufgeklebte echte Haare, das Kleid ist aus rotem Samt mit weißen Spitzen daran. Er und Julia sitzen nebeneinander und erzählen sich, was sie tun werden, wenn sie erwachsen sind. Julia will heiraten und in einem schönen Haus mit einem Garten wohnen.
»Im Garten sollen viele Blumen wachsen. Rosen und bunte Wicken. Und Tulpen und Stiefmütterchen. Dann sitze ich dort auf der Bank und höre zu, wie die Vögel singen. Ja, das wäre schön. Das wünsche ich mir.«
Dann muss sie husten, und er hebt das schwere Federbett hoch, damit sie darunterkriechen kann.
»Ich werde später einmal ein Cowboy«, erzählt er. »Oder ein Pflanzer in Afrika.«
»Wenn du nach Afrika gehst, dann sehen wir uns sicher niemals wieder«, sagt sie traurig.
Sie zählen die Tage. Heute Abend bleiben nur noch vier. Morgen sind es drei. Sie wollen so oft wie möglich beieinander sein, damit sie sich später aneinander erinnern können. Am Montag kommt Julia nicht mehr in die Schule, weil die Mutter dann mit ihr und dem kleinen Bruder in aller Frühe in den Zug nach Frankfurt steigt.
»Die Mama freut sich auf Frankfurt«, sagt sie und lächelt. »Sie sagt, dort ist die Arbeit nicht so hart wie auf dem Land. Sie will sich eine Anstellung in einem Haushalt suchen. Dann muss ich nach der Schule das Essen kochen, weil sie ja erst spät am Abend heimkommt.«
»Wenn du gut kochen kannst, nehme ich dich vielleicht mit nach Afrika« verspricht er. »Da habe ich dann eine Kaffeepflanzung und brauche eine Frau, die für alle kocht.«
Sie verspricht, ihm so oft es geht zu schreiben. Die Adresse weiß sie schon: Wassergasse 17, erster Stock. Das ist gleich beim Schlachthof, da hat der Papa keinen langen Weg zur Arbeit.
Zum Schützhof hinüber geht er erst, als es schon dunkel ist. Das ist nicht schlimm, weil der Vater am Abend sowieso in Heringsdorf bei der Marie ist und die Großmutter nichts dagegen hat, wenn Heinz die Julia besucht. Er steigt hinauf in seine Kammer und schreibt noch schnell die Schularbeiten, dann fällt ihm der Brief wieder in die Hände, und er reißt unwillig den Umschlag auf.
Lieber Heinz,
Du wirst vielleicht traurig sein, dass ich fort bin, aber es ging nicht anders. Die Dingelbacher wollen mich nicht haben, sogar meine Hütte haben sie angezündet, da habe ich beschlossen, dass es besser ist, wenn ich gehe, bevor ein weiteres Unglück geschieht.
Aber Du sollst wissen, dass es mir sehr schwerfällt, Dich und Deine Mutter zu verlassen. Weil ich Euch beide sehr gernhabe. Ich weiß, dass Du ein kluger, vernünftiger Bub bist und auf Deine Mutter und die Großmutter aufpassen wirst. Das ist jetzt Deine Aufgabe.
Wohin ich gehe, das weiß ich noch nicht. Vielleicht komme ich ja irgendwann zurück nach Dingelbach, wer kann das wissen?
Sei tapfer, mein kleiner Freund, und halte die Ohren steif. Ich will immer an Euch beide denken, und meine guten Wünsche sollen Euch begleiten.
Oskar Michalski
Soso – er denkt an ihn und an die Mama. Da haben sie was davon! Heinz knüllt das Papier ärgerlich zusammen, dann hält er inne, glättet es wieder und legt es unter sein Kopfkissen. Er muss noch überlegen, ob er den Brief aufhebt oder morgen früh in den Küchenherd wirft. Dass der Oskar aus Dingelbach fortgeht, hat die Großmutter neulich schon beim Mittagessen erzählt, weil sie es im Dorfladen erfahren hat.
»Geschieht ihr recht, dem untreuen Mensch«, hat der Vater hämisch gesagt, wobei er die Helga gemeint hat. »Jetzt kann sie schauen, wer sie noch nimmt.«
Dann hat er vermutet, dass der Oskar seine Hütte selbst angezündet hat, damit er einen Vorwand hat, wegzugehen. Aber vorher hätte er sein Geld irgendwo vergraben, und jetzt sei er damit auf und davon.
Die Großmutter hat nur den Kopf geschüttelt, und sogar der Hannes hat ungläubig das Gesicht verzogen. Es gibt zwar allerlei Gerüchte und Vermutungen im Dorf, wer der Feuerteufel gewesen sein könnte, aber dass es der Oskar selber war, mag keiner glauben. Heinz hat nichts dazu gesagt, aber er hat sich gedacht, dass er es dem Vater eines Tages heimzahlen wird, weil der immer so boshaft über die Mama redet. Wenn er groß ist, dann stößt er ihn gegen den Ofen, so wie er es damals mit ihm gemacht hat. Der Gedanke hat ihn ein bisschen erleichtert, aber froh ist er nicht dabei gewesen.
Am Samstag haben sie dann den Grossmannhof versteigert. Das ist am Vormittag passiert, während die Kinder in der Schule waren, und es ist gut so gewesen, weil der Kurt und die Julia nicht miterleben mussten, wie um das Anwesen ihres Papas gefeilscht wurde. Aber vom Schulhof aus hat man sehen können, dass auf der Frankfurter Straße mehrere Automobile gestanden haben, und es sind auch fremde Leute vom Bahnhof gekommen und haben die Kinder gefragt, wo denn der Grossmannhof sei und warum der versteigert würde. Lehrer Hohnermann ist gleich dazwischengegangen und hat sie alle wieder ins Schulhaus hineingeschickt. Das hat er getan, weil es zu regnen angefangen hat, aber auch, weil er nicht will, dass die Fremden die Kinder ausfragen. Julia und Kurt haben ihren letzten Schultag in Dingelbach gehabt, deshalb haben sie alle für die beiden ein Lied gesungen, und hinterher hat Lehrer Hohnermann ihnen zwei schöne Bücher geschenkt.
»Damit ihr Dingelbach nicht vergesst«, hat er zu ihnen gesagt.
Dann hat er den beiden Glück und Segen in der neuen Heimat gewünscht und gemeint, vielleicht würden sie ihre Freunde in Dingelbach ja einmal besuchen kommen.
Kurt hat das Buch gleichgültig in den Tornister geworfen, aber Julia hat sich sehr über das Geschenk gefreut und es ganz vorsichtig zwischen die Schulbücher gesteckt. Es ist ein Mädchenbuch und heißt Nesthäkchen und der Weltkrieg.
Nach Schulschluss sehen sie auf der Frankfurter Straße nur noch ein einziges Automobil, das ist groß und schwarz und hat ein Verdeck. Es steht vor dem Pfarrgarten und ist voller weißer und brauner Flecken, weil die Altmann Lina wieder mal vergessen hat, ihre Hinkel einzusperren.
»Da werden die Stadtleute wohl wütend sein«, meint Heinz grinsend. »Hühnerkacke macht Löcher in den Autolack.«
Julia nickt nur, sie ist zu traurig, um über seine Scherze zu lachen. Am Brunnen trennen sie sich, und Heinz verspricht, gleich nach dem Mittagessen hinüberzukommen. Wie er in die Küche vom Schützhof tritt, ist er ganz erstaunt, denn der Vater sitzt heute nicht am Tisch. Dafür ist der Adam, der alte Knecht, gekommen, der früher einmal auf dem Schützhof gearbeitet hat und dann hinüber zum Fritz Grossmann gegangen ist. Der muss nun auch schauen, wo er bleibt, denn es wird ihn in seinem Alter keiner mehr haben wollen. Aber anstatt bekümmert die Flügel hängen zu lassen, löffelt der Adam ganz fröhlich die Reissuppe und trinkt dazu Apfelmost.
»Da bist du ja!«, sagt die Großmutter und füllt den Suppenteller für Heinz. »Der Adam ist heute zu uns gekommen, weil er etwas zu erzählen hat.«
Es ist schon seltsam, wie freundlich die Großmutter heute zu dem Adam ist, den sie sonst immer schlecht behandelt hat. Aber seitdem die Marie auf dem Schützhof regiert, hat sich alles geändert, und auch die Großmutter ist nicht mehr die gleiche wie früher.
»Da ist es hergegangen wie auf der Kirmes«, sagt der Adam, und er lacht, dass man seinen einzigen Zahn sehen kann. »Nur schlimmer. Ich hab ja fast gemeint, dass der Schützbauer gleich über den Gerichtsvollzieher herfällt und ihm den Garaus macht. Ist eh nur so ein dürres Gestell, das Kerlchen vom Amt, ein Windhauch hätt ihn davongeweht. Aber der Altmann Schorsch hat den Schützbauer festgehalten, und dann ist noch der Killinger Hannes gekommen, da hat er klein beigeben müssen …«
Heinz gefällt dieses Gerede nicht. Auch der Hannes ist nicht froh darüber; er weiß nur allzu gut, dass der Otto Schütz seine Wut bald an ihm auslassen wird.
»Ja, was ist denn jetzt mit dem Grossmannhof?«, fragt er missmutig. »Wenn Otto Schütz ihn nicht bekommen hat – wer dann? Der Altmann Schorsch etwa? Der sucht doch einen Hof für die Tochter und den Schwiegersohn. Du liebes Lieschen – wenn der Altmann Schorsch dem Schützbauer den Hof vor der Nase weggesteigert hat, dann gibt’s einen Krieg in Dingelbach.«
»Der Altmann Schorsch?«, meint Adam zwischen zwei Löffeln. »Der hat wohl mitgeboten. Aber da ist der Otto Schütz immer drübergegangen, bis der Schorsch zornig abgewinkt hat. Wie sie so weit gewesen sind, hat der Schützbauer schon gedacht, dass er den Hof sicher hat, denn die anderen Interessenten haben gleich aufgegeben, wie sie das Anwesen besichtigt haben. Nur einer, der ist dageblieben und hat abgewartet, wie sich die Dinge entwickeln würden.«
»Ein Städtischer etwa?«, fragt die Großmutter verblüfft. »So ein hergelaufener Kerl? Der wird doch net etwa den Hof ersteigert haben!«
Der Adam lehnt sich im Stuhl zurück und trinkt seinen Most aus. Es scheint ihm mächtig zu gefallen, dass er solche wichtigen Dinge zu erzählen hat, dass alle an seinen Lippen hängen.
»Ein Bauer ist der nicht«, berichtet er schmunzelnd. »Aus Kronberg ist er, hat er gesagt. Eine Jacke aus Leder hat er angehabt und Stiefel, die für die Landwirtschaft nicht taugen. Aber er hat einen Narren an dem Grossmannhof gefressen und den Schützbauern so lange überboten, bis dem die Luft ausgegangen ist.«
Also doch. Ein Städtischer hat sich in Dingelbach eingekauft. Die Großmutter ist ganz unglücklich darüber und meint, wenn der Grund und Boden schon nach auswärts ginge, dann sei das Dorf bald am Ende.
»Und was will er mit dem Hof, wenn er gar kein Bauer ist?«, erkundigt sich Hannes.
»Pferde will er züchten!«
»Pferde?«, ruft die Großmutter spöttisch aus. »Da sieht man doch, dass das nur ein Schwindel ist. Dafür braucht’s doch net einen ganzen Hof, da hat ein jeder Bauer eine Stute im Stall, und wenn die ein Fohlen macht …«
»Keine Bauernpferde net, Frau Schütz«, unterbricht Adam. »Der züchtet ganz edle Pferdchen. Die wo über Hindernisse springen können. Das ist was für die Adeligen und reichen Leut, die kaufen solche Tiere für Tausende Reichsmark und schicken sie auf Turniere, wo sie dann Lorbeerkränze um den Hals gehängt kriegen.«
Die Großmutter schüttelt immer noch ungläubig den Kopf, weil es so was im Dorf noch nie gegeben hat. Wie der Adam dann erzählt, dass der Pferdezüchter alle Äcker vom Grossmannhof in Weiden umwandeln will, schlägt sie die Hände vor Entsetzen zusammen. Einen Acker, den der Bauer seit Jahrhunderten mühsam vom Unkraut und Gras freigehalten hat, wieder zur Wiese zu machen – das ist eine Sünde.
»Da muss der Otto was dagegen tun«, sagt sie entrüstet. »Schließlich ist er der Bürgermeister von Dingelbach.«
Adam reibt sich bedenklich das stoppelige Kinn.
»Das könnt ich mir gut vorstellen, dass der Schützbauer das versucht. Aber dass er damit durchkommt, das glaub ich net. Und ich wünsch es ihm auch net. Weil der neue Besitzer vom Grossmannhof nämlich ein anständiger Kerl ist.«
»Wer’s glaubt, wird selig«, meint Hannes zweifelnd. »So ein Kerl aus der Stadt, der kauft den Bauern, die nicht mehr zurechtkommen, das Land ab und sitzt drauf, bis er es teuer weiterverkaufen kann. Pferde züchten! Da lachen ja die Hinkel. Weißt du, was der ist? Ein Spekulant ist der, ein dreckiger. Drüben in Fischbach, da hat einer drei Höfe gekauft, und jetzt steht da eine stinkerte Fabrik drauf.«
»Das glaub ich net«, sagt Adam und tut einen tiefen Atemzug, weil auch er nun ein wenig bedenklich geworden ist. »Auf jeden Fall hat er mir gesagt, dass ich bleiben könnt. Und auch der Grossmann Fritz und seine Familie brauchen net vom Hof.«
Heinz fällt beinahe der Suppenlöffel aus der Hand. Hat er recht gehört? »Dann … dann könnte die Julia in Dingelbach bleiben?«, fragt er aufgeregt.
»Das wär möglich«, meint Adam. »Er hat der Frau Grossmann angeboten, sie und ihr Mann könnten für ihn arbeiten. Weil er selber net hierherziehen wird, sondern immer nur für ein paar Tage kommt. Da braucht er jemanden, der sich um alles kümmert.«
Heinz kann es kaum fassen. Kann es so viel Glück geben? Die Julia muss nicht fort, er wird seine einzige Freundin nicht verlieren! Er muss gleich hinüberlaufen, um zu erfahren, wie es drüben steht. Der Grossmann Fritz wird doch hoffentlich nicht Nein sagen, das wär ganz furchtbar dumm von ihm!
»Wo willst du denn hin, Bub?«, ruft die Großmutter ihm nach. »Ich hab Apfelmus zum Nachtisch.«
Er gibt ihr keine Antwort und reißt die Küchentür auf, um hinauszurennen. Das Letzte, das er noch hört, ist die Rede vom Hannes.
»Dableiben dürfen sie? Fragt sich, wie lange. Da soll sich der Grossmann Fritz bloß keine falschen Hoffnungen machen …«