Kapitel 26
Es ist einer dieser kalten Tage im Spätherbst, an denen sich die Sonne durch die Wolken zwängt und das letzte Laub, das noch an den Bäumen verblieben ist, zum Leuchten bringt. Hohnermann hat es in seiner Studierstube nicht mehr ausgehalten, er hat die warme Jacke angezogen und den wollenen Schal umgebunden, um einen Gang über die Felder bis hinauf zum Waldrand zu unternehmen. Die Novemberluft ist frisch und trägt die Ahnung von Schnee in sich, sie tut seiner Lunge gut, noch mehr aber seinem Gemütszustand, der momentan recht schwankend ist. Er hat verschiedene Gründe dafür verantwortlich gemacht: das schwindende Licht, den nahenden Winter, den Ärger über die Bevormundung durch das Schulamt und auch die Sorge über den einen oder anderen seiner Schüler. Aber wenn er ganz ehrlich mit sich selbst ist, dann muss er sich eingestehen, dass seine düsteren Anwandlungen vor allem mit Frieda zu tun haben. Die Gerüchte, die im Dorf die Runde machen, sind auch bis zu ihm gedrungen: Es soll da eine Geschichte mit einem bekannten Schauspieler passiert sein, nur ist nicht herauszubringen, was genau da geschehen ist, und natürlich mag er auch keine allzu direkten Fragen stellen. Frieda selbst scheint überaus beschäftigt. Wenn er sie im Laden einmal trifft, ist sie freundlich, weicht ihm jedoch aus. Und die abendlichen Besuche, bei denen sie ihm früher oft ihren Kummer anvertraut hat, sind schon lange ausgeblieben. So sitzt er mit seinen Vermutungen allein da, und seine überreizte Fantasie produziert Bilder, die ihm nicht guttun. Natürlich weiß er, um welchen Schauspieler es sich da handelt. Oh Gott, er hatte es verhindern wollen und ist kläglich gescheitert.
Jetzt geht er über die schmale Brücke hinter der Kirche und folgt dem Bachlauf, schaut über die blassen Wiesen und braungelben Felder, die hie und da von zartgrünem Unkrautbewuchs übersponnen sind. Weiter oben auf den Hügeln zittert noch schütteres Laub an Eichen und Buchen, das die Wintersonne in goldene Dukaten verwandelt hat. Nicht lange, und auch diese Blätter werden vom Wind abgerissen werden und den Mäusen und Igeln einen Schutz vor der Winterkälte bieten. Ganz in der Ferne, wo die bläulichen Hügel des Taunus zu sehen sind, kann man heute sogar den runden Buckel des Feldbergs erkennen, die höchste Erhebung im Taunus, und wenn ihn seine Augen nicht täuschen, dann liegt dort oben Schnee.
Er freut sich ein Weilchen an dem munter dahinfließenden Bach, bewundert die glitzernden Eisgebilde, die sich mancherorts an hereinragenden Wurzeln gebildet haben, dann steigt er über die Wiese vom Schützbauern geradewegs hinauf zum Wald. Er geht so rasch, dass er außer Atem kommt, lässt aber nicht nach, weil es ihm gefällt, seinen Körper zu fordern. Das kommt vom langen Stubenhocken, denkt er. Früher bin ich die Hügel hochgerannt und habe es kaum gemerkt, jetzt schnaufe ich schon nach ein paar Schritten bergauf. Als er oben ist, muss er einen Moment stehen bleiben, um sich zu fangen, aber er fühlt sich gut dabei, hat sein Ziel erreicht, und warm ist ihm auch geworden. Kommende Woche wird er mit den Schulkindern hinauf zum Wald gehen, da werden sie, wie jedes Jahr, Tannenzapfen, Eicheln und Kastanien sammeln, um daraus allerlei hübsche Dinge für Weihnachten zu basteln.
»Ach, der Herr Hohnermann. Auch unterwegs bei dem schönen Wetter?«
Er hatte Rudolf Alberti gar nicht bemerkt. Der Dorfheiler bewegt sich leise wie ein Wildtier durch den Wald, findet hie und da etwas am Boden, löst einen Pilz von einem Baumstamm oder bricht vorsichtig einen Zweig ab, den er zu den anderen Dingen in den umgehängten Beutel steckt.
»Ja, die Wintersonne hat mich aus der Stube gelockt«, meint Hohnermann lachend. »Und? War die Ausbeute gut?«
»Nicht übermäßig gut, aber auch nicht schlecht«, sagt Alberti, der wenig über die Rezepturen seiner Heilmittel spricht, die er noch vom Vater übernommen hat. Die Dingelbacher vertrauen ihrem Heiler mehr als dem Arzt, kommen mit Gebrechen und Krankheiten meist erst zum Alberti Rudolf, und nicht selten hat er besseren Rat als die studierten Ärzte gewusst. Aber er kennt auch seine Grenzen – wenn der Dorfheiler sagt, dass man zum Arzt in die Stadt oder gar ins Krankenhaus muss, dann wissen die Dingelbacher, dass kein Weg daran vorbeiführt.
Sie stehen ein Weilchen und schauen auf das Dorf hinunter, wo aus den Schornsteinen feine Rauchfäden in den Himmel schweben. Auf dem Schützhof wird gebaut, der Schweinestall ist nach hinten hinaus in den Garten verlängert worden, sie haben einen Graben vom Haus hinübergezogen, da wird eine Wasserleitung verlegt. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, liegen Häuschen und Nebengebäude verlassen: Kein Huhn, kein Hund ist auf dem Hof zu sehen, auch der Misthaufen dampft nicht, wie es bei den anderen Höfen üblich ist, wenn sie den Stall gemistet haben. Der Grossmannhof ist an einen Ortsfremden verkauft worden, der sich – wie es scheint – vorerst wenig um sein neu erworbenes Anwesen kümmert.
»Ich hab kurz mit dem Herrn Kaldenbach geredet«, erzählt Rudolf Alberti. »Ist kein übler Kerl, denke ich. Das Angebot, das er dem Fritz Grossmann gemacht hat, war sehr anständig. Leider hat er’s ausgeschlagen, der Depp.«
Hohnermann bedauert das auch sehr. Die beiden Kinder, vor allem die Julia, wären in Dingelbach besser aufgehoben gewesen als in einer engen, dunklen Stadtwohnung. Und dass die Anstellung beim Schlachthof so viel angenehmer sein soll als die Landarbeit, kann sich der Dorflehrer nicht vorstellen.
»Der Fritz Grossmann war gar net abgeneigt, aber die Frau hat’s halt nicht gewollt«, meint Alberti schulterzuckend. »Die hat sich hier in Dingelbach nie einfügen können, und mit der Landwirtschaft hat sie sich auch nicht angefreundet.«
Hohnermann muss an den Heinz Schütz denken, der mehr denn je sein Sorgenkind ist. Seit die Julia fort ist, hat er zweimal die Schule geschwänzt, ist einfach hinüber zum Killinger Hannes gelaufen und hat sich in den Stall zum Willibald gesetzt. Zum Glück hat der Hannes den Buben dort entdeckt und ihn energisch zurück ins Schulhaus befördert. Hohnermann selbst kommt an den Buben nicht mehr heran. Er hat es mit Güte und auch mit Strenge versucht, aber Heinz schweigt verstockt. Mit der Großmutter oder gar dem Vater zu reden, hat wenig Sinn. Gertrud Schütz würde dem Buben Ohrfeigen verpassen, die vermutlich wenig helfen würden, und der Otto Schütz scheint seinen Sohn vollkommen abgeschrieben zu haben. Hohnermann hat schon überlegt, dass er es bei der Helga Schütz versuchen könnte, nur sieht man die seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr auf der Straße, und eine geschiedene Frau in ihrer Kammer im Gasthof »Zum Raben« aufzusuchen, das wäre für ihn als Junggesellen wirklich mehr als unpassend. Er wird ihr wohl oder übel einen Brief schreiben und sie zu einem Gespräch in die Dorfschule bitten müssen.
»Dann machen Sie’s gut, Hohnermann«, sagt Alberti, der währenddessen eigenen Gedanken nachgehangen hat. »Ich will noch hinunter zur Schütz Gertrud, die zwickt’s seit einiger Zeit im Rücken. Ach, das muss ich noch loswerden, bevor ich geh: Was Sie da am Sonntag auf der Orgel gespielt haben, das Eingangsstück, das hat mir und meiner Marlis ganz großartig gefallen. Vom wem war das? Von Meister Bach jedenfalls nicht …«
»Nein«, sagt Hohnermann verlegen. »Das hab ich so nebenbei mal selbst zusammengeschrieben. Schön, dass es Ihnen gefallen hat.«
»Und wie!«, grinst Alberti und reicht ihm die Hand. »Sie machen viel zu wenig aus ihrer musikalischen Begabung, Hohnermann. Schade drum. Aber was soll’s? Wir sind ja froh, dass wir Sie hier in Dingelbach haben.«
Er drückt ihm fest die Hand, wünscht ihm ein »Guude« und läuft quer über die Wiesen hinunter zum Dorf. Hohnermann schaut ihm nach und spürt, dass ihm das Lob guttut. Die Frau Pfarrer hat nach dem Gottesdienst gemeint, das sei ja wieder mal ein grausliches Zeug gewesen, was er sich da zusammengespielt hätte, und dass die alte Orgel ganz gewiss unter seinen Händen demnächst zusammenbrechen würde. Aber vielleicht darf er das nicht zu ernst nehmen, weil die Frau Pfarrer immer etwas an seinem Spiel auszusetzen hat.
Nachdenklich geht er ein Stück in den Wald hinein und merkt sich die Stellen, wo die Schulkinder reiche Ernte für ihre Bastelarbeiten finden werden, dann nimmt er den Weg beim Müller Dippel vorbei und läuft die Mühlgasse hinunter zurück ins Dorf. Er will noch rasch im Dorfladen vorbeischauen, ob vielleicht die Frieda dort bedient und er ein paar Worte mit ihr wechseln kann. Vielleicht hat sie ihre abweisende Haltung ja aufgegeben und willigt ein, sich von ihm morgen oder übermorgen einige der Kompositionen, die er für sie geschrieben hat, auf dem Klavier vom »Raben« vorspielen zu lassen. Die Hoffnung ist zwar nicht sehr groß, aber er will es versuchen.
Die schöne Herbstsonne hat sich längst verabschiedet, als er beim Laden ankommt. Drinnen brennt schon Licht, weil es zu dieser Jahreszeit früh dunkel wird. Zu seiner Enttäuschung ist der Laden voller Frauen, die wohl eine aufregende Dorfangelegenheit zu bereden haben, durch das Schaufenster kann er die Karin Guckes heftig gestikulieren sehen, und die Lore Dippel neben ihr hat die Arme in die Seiten gestemmt. Ach, herrje – da wird die Frieda ihm wenig Aufmerksamkeit widmen können. Falls sie überhaupt da ist.
Er geht trotzdem hinein, weil sein Vorrat an Malzkaffee zu Ende ist, sodass er morgen früh warme Milch trinken müsste, die er aber nicht mag.
Tatsächlich herrscht im Dorfladen so große Empörung, dass die Frauen sein Eintreten zunächst gar nicht bemerken und nur Marthe Haller hinter der Theke ihm ein freundliches »Guude, Herr Hohnermann« entgegenruft. Höflich stellt er sich hinten ans Schaufenster neben den großen Gurkentopf aus Steingut, weil er ja als Letzter gekommen ist.
»So ist er, unser Herr Pfarrer«, sagt die Lina Altmann neben ihm laut zur Ursula Dönges. »Der ist ja ein Gelehrter, und manchmal denkt man, er sei net von dieser Welt, weil er so sanftmütig daherkommt. Aber wenn’s um die Ehre vom Dorf geht, da ist er hart wie Eisen, der Pfarrer Seybold!«
»So ganz richtig ist das ja net«, wendet die Ursula Dönges ein. »Weil wir ja doch keine Katholischen sind. Bei denen ist die Ehe ganz besonders heilig, weil’s ein Sakrament ist …«
»Da brauchst net katholisch sein, um die Ehe zu ehren«, ruft die Ella Koppel quer durch den Laden. »Das ist bei uns ganz genauso. Und dass einer, der sich hat scheiden lassen, jetzt meint, er könnt in Dingelbach eine Hochzeit wie ein Großfürst haben, bloß weil er der Bürgermeister ist, das ist eine Sünd und eine Schand …«
Jetzt geht es erst richtig los, Hohnermann kann kaum noch ausmachen, wer da spricht, weil sie alle durcheinanderreden.
»Sechsspännig will der vor die Kirche fahren. Da muss der Platz bei der Linde für die Kutsche und die Gäul frei gehalten werden. Grad dass er net verlangt hat, wir sollen die alte Linde fällen …«
»Ein Brautkleid hat sie sich in Frankfurt schneidern lassen, das hat die Gertrud erzählt. Für das Geld hätt man den Grossmannhof kaufen können. Und ganz in Weiß …«
»Wohl noch mit einem Myrtenkränzchen. Wo sie schon in den Wochen ist!«
»Die halbe Kirche soll für die Verwandtschaft aus Heringsdorf reserviert werden. Grad auf ein paar hinteren Plätzen dürfen wir Dingelbacher hocken!«
»Und feiern wollen sie in Heringsdorf. Weil ihnen der ›Rabe‹ net vornehm genug ist!«
Das ist die Karin Guckes, die ganz besonders ärgerlich ist, weil ihnen damit ein guter Verdienst entgeht. Und weil die Hedi Schmidtkunz jetzt endlich bemerkt hat, dass der Lehrer Hohnermann in den Laden getreten ist, sagt sie zu ihm: »Einen Kantor wollen sie auch mitbringen, Herr Hohnermann. Weil der Schützbauer meint, zu seiner Hochzeit müsse einmal etwas Anständiges in der Kirche musiziert werden.«
Hohnermann weiß natürlich, dass der Schützbauer kein Musikkenner ist, dennoch fühlt er sich beklommen, weil sein Orgelspiel schon wieder niedergemacht wird. Er räuspert sich, um etwas einzuwerfen, wird aber von der Lina Altmann übertönt.
»Und deshalb sind wir alle stolz auf unseren Pfarrer Seybold. Der hat die Stirn gehabt, dem Bürgermeister zu sagen, dass er sich sonst wo trauen lassen kann, aber net hier in der Dingelbacher Kirche!«
Hohnermann erfährt nun, dass die Hochzeit des Otto Schütz mit seiner Marie wohl in der Heringsdorfer Kirche stattfinden wird.
»Das wird gewiss Ärger geben«, sagt die Ursula Dönges besorgt. »Wenn der Bürgermeister net einmal im eigenen Dorf heiraten darf. Das wird der Schütz Otto nicht auf sich sitzen lassen.«
»Ach was!«, ruft die Karin Altmann dazwischen. »Der ist die längste Zeit Bürgermeister von Dingelbach gewesen, der Lapp. Der ist doch nur noch der Depp für seine Marie. Was hat er schon für Dingelbach getan? Hat er vielleicht verhindert, dass der Grossmannhof an einen Ortsfremden gegangen ist? Mein Schorsch, der hat gesagt …«
»Was darf ich Ihnen geben, Herr Hohnermann?«, unterbricht Marthe Haller, die sich inzwischen darüber ärgert, dass die aufgeregten Frauen zwar ihren Laden füllen, aber nichts kaufen.
»Ein Päckchen Kathreiners Malzkaffee bitte. Und ein Tütchen Hustenbonbons.«
»Wieder die mit dem Honig drin?«
»Ja, bitte. Die Frieda ist heute wohl in Frankfurt zu einer Aufführung geblieben?«
Marte Haller langt den Malzkaffee vom Regal und tut dabei einen tiefen Seufzer. »Die Frieda? Die ist drüben in der Kirche und probt mit den Kindern fürs Krippenspiel. Um fünfe wollte sie Schluss machen – jetzt ist es halber sechs, und ich steh immer noch allein da. So ist das, wenn man Töchter hat, Herr Hohnermann. Da glaubt man, sie sind der Mutter einmal eine Stütze – aber nein, sie machen einfach, was sie wollen.«
Es ist das erste Mal, dass Frau Haller sich in solch bitterem Tonfall über ihre Töchter beschwert. Und dazu noch im voll besetzten Laden.
Hohnermann stellt fest, dass das Geschwätz der Frauen auf einmal gedämpfter klingt und die allgemeine Aufmerksamkeit sich auf die Theke richtet.
»Da musst du dich net wundern, Marthe«, sagt die Lore Dippel. »Die jungen Leut, die sind net mehr so, wie wir früher einmal waren. Die haben bunte Raupen in ihren Köppen.«
»Wo ist denn die Herta?«, erkundigt sich Lina Altmann. »Ist’s schon wieder krank, das arme Ding?«
»Herta hat Kopfschmerzen!«, antwortet Marthe mürrisch. »Das macht dann eins zwanzig, Herr Hohnermann.«
Er hat zum Glück Geld eingesteckt und zahlt seinen Einkauf, wünscht alles Gute und fügt begütigend hinzu: »Das wird schon werden, Frau Haller. Ich denke, Sie brauchen sich um Ihre Töchter keine Sorgen zu machen …«
Als er die Ladentür öffnet, hört er noch leise die Hedi Schmidtkunz zur Lore Dippel flüstern: »So ist das halt, wenn kein Mann im Haus ist. Wenn der Jochen dem Rudi nicht ab und zu die Hosen stramm ziehen würd, da tät der uns auch auf der Nas herumtanzen …«
Hohnermann hat es eilig, hinüber zur Kirche zu laufen. Tatsächlich, die Lichter sind an – wieso hat er das vorhin nicht bemerkt? Wie es scheint, sind die Proben gerade zu Ende gegangen, denn es kommen ihm fröhlich schwatzende Kinder entgegen. Alle grüßen den Herrn Lehrer höflich, die Mädchen knicksen, die Buben machen einen kleinen Diener, danach rennen sie heim, weil die meisten beim Melken helfen müssen. Es freut ihn, dass auch Heinz Schütz dabei ist; da hat die Frieda mit ihrer fröhlichen Art bei dem Buben Erfolg gehabt.
Frieda ist dabei, in der Kirche das elektrische Licht zu löschen. Als sie ihn an der Pforte erblickt, winkt sie ihm zu. »Gut, dass Sie kommen, Herr Hohnermann«, ruft sie. »Der Kessel Willi und der Koppel Erich, die brummeln dieses Jahr ganz fürchterlich. Ich glaub fast, die sind schon im Stimmwechsel …«
Er muss lachen, weil er in der Schule oft Lieder singen lässt und dort das gleiche Problem mit den älteren Buben hat.
»Ich hab schon der Ida gesagt, dass sie unbedingt mitsingen muss, sonst klingt das einfach schaurig.«
Er rät ihr, den beiden zu sagen, dass sie sich beim Singen zurückhalten sollen, und nimmt dann die Gelegenheit wahr, sie nach seiner eigenen Rolle beim Krippenspiel zu fragen.
»Oh, ich hab für Sie die Rolle des König Herodes reserviert«, scherzt sie prompt. »Mit Lockenperücke und rotem Palastmantel.«
»Ich hatte eher meine Rolle als musikalischer Begleiter an der Orgel gemeint«, stellt er schmunzelnd richtig.
»Ach so«, meint sie lachend. »Ja, da hab ich Sie auch eingeplant. Wissen Sie was? Ich komm nach dem Abendbrot mal kurz bei Ihnen vorbei. Jetzt muss ich heim, weil die Mutter allein im Laden ist …«
Und schon läuft sie davon, das Abschließen der Kirchenpforte überlässt sie ihm. Nun muss er erst hinüber in seine Wohnung gehen, um den Schlüssel zu holen, weil er dieses schwere eiserne Ding nicht auf seinen Spaziergang mitgenommen hat. Später kocht er sich einen Malzkaffee und schmiert sich ein Brot mit Leberwurst, das er gleich unten in der Küche isst. Dann nimmt er einen Krug mit Apfelmost und zwei Gläser mit hinauf, räumt seine Studierstube auf, heizt den Ofen an und geht hinüber in seine Schlafkammer, um sich das Haar zu kämmen. Der Blick in den Spiegel am Vertiko ist wie immer ernüchternd, er betastet sein Kinn und überlegt, ob er sich noch einmal rasieren soll, lässt es dann aber bleiben. Die Schnitte in seinem Gesicht sind zwar schon lange verheilt, aber die Narben sind tief, er muss beim Rasieren höllisch aufpassen, um sich nicht zu schneiden.
Einer wie ich braucht nicht eitel zu sein, denkt er resigniert. Da ist nicht viel zu retten. Aber sie kennt mich ja und stört sich nicht daran.
Er kann gerade noch seine Hausjacke überziehen, da läutet es schon unten an der Tür. Da steht sie in ihrem neuen, eleganten Mantel, um das Haar hat sie ein blaues Tuch geschlungen, auf dem zahllose kleine Lichtpünktchen glitzern.
»Es schneit!«, sagt sie fröstelnd und schüttelt das Tuch im Flur aus. »Dabei ist es noch November! Wenn bloß die Vorstadtbahn morgen keine Verspätung hat, der Alexander Engels kann es gar nicht leiden, wenn ich net pünktlich bin.«
»Komm erst einmal herauf und wärm dich auf«, schlägt er vor.
Leichtfüßig läuft sie die Stiege hoch, scherzt über den Ofen, der ausgerechnet jetzt fürchterlich zu rauchen beginnt, und legt ein Schulheft auf seinen Schreibtisch. Das Textbuch für das Krippenspiel.
»Das ist extra für Sie«, sagt sie. »Da steht alles ganz genau drin, die Dialoge und auch die Stellen, an denen Sie Orgel spielen dürfen. Die Herta hat’s mir abgeschrieben.«
Er stellt ihr den Stuhl zurecht und gießt ihr Most ein. Dann setzt er sich auf seinen Platz und blättert das Heft durch. Herta Haller hat eine ungewöhnlich schöne Handschrift, kein Vergleich zu Friedas hastig dahingeworfenen Zeilen oder gar Idas krakeligen Buchstaben, die ihm hin und wieder Rätsel aufgegeben haben.
»Das war sehr lieb von deiner Schwester«, meint er. »Ich hoffe, ihre Kopfschmerzen haben nichts mit dieser Abschrift zu tun.«
Frieda verdreht die Augen zur Zimmerdecke und stöhnt lauf auf.
»Ganz bestimmt nicht. Herta hat seit einiger Zeit nur noch Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder schwache Nerven. Genauer gesagt hat sie das, seitdem der Sirius Engelke um ihre Hand angehalten hat.«
Er hat davon gehört, dass Herta Haller einen Bewerber hat. Lenchen Grossmann hat es ihm wohl erzählt. Die Sache sei allerdings noch nicht spruchreif, hat sie hinzugefügt.
»Aber wieso?«, wundert er sich. »Will sie ihn denn nicht heiraten?«
Frieda amüsiert sich köstlich über diese naive Frage.
»Und wie sie ihn heiraten will! Aber die Mutter redet den ganzen Tag über schlecht von ihm. Er sei unzuverlässig, hat sie gesagt. Einer, der die ganze Woche über unterwegs ist, der könne nicht treu sein. Und dann hätte ihr jemand erzählt, dass der Sirius Schulden habe und sein Geld im Wirtshaus beim Schafskopf verspielt hätte …«
»Sie macht sich eben Sorgen um ihre Tochter«, wendet Hohnermann ein. »Eine gute Mutter lässt ihr Kind nicht ins Unglück rennen, Frieda. Die Welt ist voller Gefahren, die ein junger Mensch …«
Er will jetzt eigentlich eine geschickte Wendung zu Friedas Abenteuer in Frankfurt unternehmen, aber sie fällt ihm ins Wort.
»Ach wo!«, ruft sie aus. »Die Mama will nicht, dass die Herta mit dem Sirius nach Höchst zieht, weil sie dann keine Hilfe mehr im Laden hat. Darum geht es ihr.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen …«, wendet er stirnrunzelnd ein.
»Doch!«, beharrt sie und blinzelt ihn herausfordernd an. »Aber es wird ihr nichts helfen. Die Herta wird den Sirius heiraten, da beißt die Maus keinen Faden ab. Und ich werde … Aber das müssen Sie für sich behalten, Herr Hohnermann. Versprechen Sie mir das? Es ist nämlich noch ein Geheimnis.«
Jetzt packt ihn die Sorge aber heftig. Ein Geheimnis? Will sie etwa auch heiraten? Oder in wilder Ehe mit diesem Schauspieler leben? Gütiger Gott – nur das nicht!
»Ich verspreche es.«
Er fühlt sich unwohl bei diesen Worten, weil es möglicherweise nötig sein wird, dieses Versprechen nicht einzuhalten. Zu ihrem Besten, natürlich. Aber ein Vertrauensbruch wäre es allemal.
Sie stützt beide Ellbogen auf den Schreibtisch und beugt sich zu ihm hinüber. Triumph blitzt in ihren Augen, sie ist ihm so nah, dass er ihren Atemhauch spüren kann.
»Ich hab ein Engagement!«, flüstert sie. »Vorgestern hab ich im Bochumer Schauspielhaus vorgesprochen. Und was glauben Sie? Die haben mir auf der Stelle einen Vertrag gegeben.«
»Ach!«, sagt er, halb erleichtert, halb bekümmert. Dann fügt er rasch hinzu: »Das ist wirklich ein schöner Erfolg für dich, Frieda.«
»Nicht wahr?«
Sie springt auf. Stellt sich vor seinem Bücherregal in Positur und legt los:
Wenn wir Schatten euch beleidigt,
O so glaubt – und wohl verteidigt
Sind wir dann: ihr alle schier
Habet nur geschlummert hier
Und geschaut in Nachtgesichten
Eures eignen Hirnes Dichten …
Er kennt den Text natürlich. Es ist der Schlussmonolog des Kobolds Puck aus Shakespeares Sommernachtstraum. Sie hat ihm einmal erzählt, dass sie diesen Monolog ganz besonders liebt. Weil da das Stück zu Ende ist und der Vorhang schon geschlossen, aber dann schiebt sich der Kobold aus dem Vorhang heraus, und er hat das Publikum ganz für sich allein.
»Ich hab auch noch etwas aus Kilian oder die Gelbe Rose vorgesprochen«, erklärt sie schulterzuckend. »Da hat mir der Richard geholfen. Er hat es sich vorher angehört und mir Ratschläge gegeben.«
»Richard? Ist das einer deiner Lehrer an der Schauspielschule?«
»Aber nein!«, lacht sie. »Der Richard Graf ist ein berühmter Kollege, der in Frankfurt auftritt. Von dem haben Sie sicher schon gehört …«
Er nickt bedrückt. Da ist er also doch noch zu dem springenden Punkt gelangt. Nun heißt es behutsam vorgehen und das Wild nicht verschrecken.
»Es ist schön, dass der Herr Graf dir berufliche Ratschläge gibt«, meint er vorsichtig. »Das hat er als ein so bekannter Künstler ja eigentlich nicht nötig.«
»Netwahr?«, freut sie sich. »Aber der Richard ist ein ganz lieber Mensch, so hilfsbereit und freundlich …«
Die Schleusen tut sich auf. Sie ist mit ihm »nur ganz kurz und harmlos« in einem Restaurant gewesen, da hat die Großmutter ein fürchterliches Theater gemacht und sie vor allen Leuten blamiert. Aber der Richard hätte es ihr gar nicht übel genommen, schon am nächsten Tag sei er gekommen und habe sich sogar bei ihr entschuldigt. Seitdem sieht sie ihn fast täglich – was die Großmutter nicht wissen darf –, und ja, er ist ein wunderbarer Kavalier, und gut aussehen täte er auch. Direkt zum Verlieben!
Ihm wird heiß und kalt bei ihrer Schwärmerei. Vor allem der letzte Satz alarmiert ihn. »Zum Verlieben …«
»Mit dem Verlieben solltest du dir aber noch ein wenig Zeit lassen«, wirft er ein. »Zuerst kommt doch gewiss deine Schauspielerei.«
»Ganz sicher!«, sagt sie mit großer Überzeugung. »Aber deshalb kann man sich doch verlieben. Nur einfach so, weil es schön ist. Weil es beflügelt und glücklich macht. Und – das hat der Richard auch gesagt – weil eine Schauspielerin sich verlieben muss, um die Rollen glaubhaft ausfüllen zu können. Schließlich ist mein Fach die ›Jugendliche Liebhaberin‹.«
Diese Logik scheint auf dem Mist des Herrn Richard Graf gewachsen zu sein. Doch er selbst ist schließlich auch ein Mann und durchschaut diese Taktik. Mädchen, du brauchst Erfahrung in der Liebe, sonst kann aus dir keine Schauspielerin werden. Wie schlau. Ohne Zweifel will Herr Graf die junge Kollegin in diesem Punkt hilfreich unterstützen. Oh Himmel – was kann er nur dagegen tun?
»Nun, da mag etwas dran sein«, meint er gedehnt. »Aber noch nur begrenzt. Du musst zum Beispiel niemanden ermordet haben, um auf der Bühne glaubhaft eine Mörderin darstellen zu können, oder?«
Sie findet sein Beispiel schrecklich komisch und will sich ausschütten vor Lachen.
»Und ich muss auch nicht ins Wasser gehen, wenn ich die Ophelia spielen soll«, führt sie sein Beispiel fort. »Man muss sich nur hineinfühlen können, das ist es, was ein guter Schauspieler beherrschen muss.«
Er nickt bestätigend, wohl wissend, dass diese Erkenntnis sie im Ernstfall nicht vor den Fängen des Verführers bewahren wird. Ach, er kann nur warnen – den Gang der Dinge wird er nicht aufhalten. Es bleibt ihm lediglich die Hoffnung, dass er ihr vielleicht helfen kann, wenn sie Schiffbruch erleidet. Doch auch das wird schwer werden, da sie nun wohl nach Bochum ins Engagement gehen wird.
»Gleich nach der Prüfung im Mai geht’s los«, erzählt sie fröhlich. »Da laufen schon die Proben für die kommende Spielzeit. Im Juli und August haben sie sechs Wochen Theaterferien. Danach wird es ernst. In drei oder vier Rollen werde ich besetzt, haben sie gesagt …«
»Da freust du dich wohl, wie?«, fragt er lächelnd.
»Ich kann’s gar net erwarten!«, jubelt sie. »Nur der Mutter muss ich es noch bei passender Gelegenheit beichten. Da warte ich lieber ab, bis die Geschichte mit der Herta und dem Sirius vom Tisch ist, sonst regt sie sich wieder furchtbar auf.«
Ob Marthe Haller überhaupt von der Geschichte mit dem Herrn Graf weiß?, überlegt er. Die Gerüchte gehen zwar im Dorf um, aber meist erfährt der Geschädigte zuletzt davon.
»Jetzt wissen Sie also Bescheid«, sagt sie zu ihm. »Ich bin ja fast geplatzt, weil ich es daheim nur der Ida sagen kann und sonst niemandem. Ach, ich bin so froh, dass es Sie gibt, Herr Hohnermann. Ich werde Sie in Bochum ganz schrecklich vermissen!«
Sie steht auf, und sie gehen beide die Treppe hinunter. Draußen weht der Wind winzige Schneeflöckchen am Schulhaus vorbei. Frieda wickelt das Tuch um ihr Haar und streckt ihm die Hand entgegen.
»Adieu«, sagt sie.
Wie bezaubernd sie ist, wenn sie so vor ihm steht und mit leuchtenden Augen zu ihm hochschaut. Er umschließt ihre Hand ganz sanft mit den Fingern und hält sie ein winziges Weilchen fest.
»Adieu, Frieda«, sagt er leise. »Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt.«