Kapitel 28

Wie kann einer nur so blöd sein? Heinz versteht es nicht. Er ist ganz aufgeregt und glücklich hinüber zum Grossmannhof gelaufen, hat die Tür aufgeklinkt und gerufen: »Ist das wahr? Ihr könnt in Dingelbach bleiben?«

Julias Eltern haben in der Küche auf der Ofenbank gesessen und ihn ärgerlich angeschaut. Der Ofen war kalt, weil sie ja keine Kohlen mehr haben, und die Möbel waren schon auf dem Wagen vom Schorsch Altmann.

»Was willst du denn hier?«, hat der Fritz Grossmann gefragt.

Heinz ist ganz atemlos gewesen.

»Der Adam hat’s uns grad erzählt«, hat er hervorgesprudelt. »Ihr dürft hier auf dem Hof bleiben, weil der neue Besitzer euch eine Anstellung gibt! Weiß das die Julia schon?«

»Mach, dass du heimkommst!«, hat die Alma Grossmann gerufen und ihn mit bösen Augen angeschaut.

»Aber die Julia …«

»Verschwinde!«

Sie ist aufgestanden und drohend auf Heinz zugegangen, da hat er Angst bekommen, dass sie ihn haut, und ist aus dem Haus gerannt. Im Hof ist er stehen geblieben und hat gehört, wie Julias Eltern in der Küche miteinander gestritten haben. Die Alma hat sehr laut und viel geredet, der Fritz Grossmann hat nur leise gesprochen – da ist ihm schon klar gewesen, wie es ausgehen würde.

Und er hat recht gehabt. Am Sonntag hat er die Julia und den Kurt noch einmal in der Kirche gesehen, da hat das Lenchen Grossmann zwischen den beiden gesessen und sie bei den Händen gehalten. Aber besuchen hat er sie nicht mehr dürfen, und am Montag ist die Alma Grossmann mit dem Lenchen und den beiden Kindern hinauf zum Bahnhof gelaufen. Das hat er gesehen, weil er sich in aller Frühe ans Hoftor gestellt hat. Die Alma hat ein Bündel getragen und Kurt einen Rucksack. Julia hat nur ihre Puppe im Arm gehabt, und das alte Lenchen ist neben ihr hergehumpelt. Wie er leise gerufen hat, da hat die Julia sich umgedreht und wollte zu ihm gehen, aber die Mutter hat sie fest am Arm gepackt und mit sich gezogen. Er hat ihnen nachgeschaut, wie sie die Dorfstraße entlanggegangen sind, aber weil es noch dunkel gewesen ist und es nur zwei Laternen in der Dorfstraße gibt, hat er sie schon beim Backes nicht mehr richtig erkennen können. Er ist in die Küche gegangen, wo die Großmutter schon Feuer im Herd gemacht hat, und hat sich an den Tisch gesetzt. Geheult hat er nicht, obgleich der Kummer ihm fast die Luft abgedrückt hat. Er hat nur gedacht, was der Fritz Grossmann für ein Lapp ist, dass er sich von seiner Frau regieren lässt, und er ist wütend auf alle beide gewesen.

Ende der Woche ist dann die Hochzeit von seinem Vater mit der Marie in Heringsdorf gewesen. Er hat gehofft, dass er gar nicht mit hinfahren muss, da der Vater auf ihn ja sowieso keinen Wert legt, aber die Großmutter hat nicht mit sich handeln lassen. Seinen guten Anzug hat er anlegen müssen, die Schuhe hat sie ihm blank geputzt, und das Haar hat sie ihm mit der Schere aus ihrem Nähkasten geschnitten. Während sie das getan hat, musste sie immer wieder hinüber ins Schlafzimmer laufen, wo sich der Vater für seine Hochzeit angekleidet hat. Wo der Binder sei, den er neu gekauft hat. Warum die feinen Socken nicht in der Schublade lägen. Dann hat sie warmes Wasser bringen müssen, weil er sich noch mal hat rasieren wollen, und er hat furchtbar geflucht, weil er sich dabei mit dem Rasiermesser geschnitten hat.

»Dem Pfarrer Seybold, dem störrischen Bock, dem geb ich’s. Der ist die längste Zeit Pfarrer in Dingelbach gewesen. An die Kirchenleitung hab ich geschrieben. Seine Amtspflichten hat er verletzt, der Lackaff, der verkalkte Babbsack.«

Die Großmutter hat nichts dazu gesagt, was den Vater noch mehr aufgebracht hat.

»Hältst vielleicht noch zu dem Schwarzrock? Das sieht dir ähnlich. Da ist ein Flecken auf dem Schuh, putz den weg. So kann ich net in die Kirch gehen.«

Heinz ist dem Pfarrer Seybold dankbar gewesen. Es ist besser, wenn die Hochzeit in Heringsdorf gefeiert wird, weil dann seine Mutter nicht mitansehen muss, wie der Vater eine andere heiratet. Wie sie schließlich alle fertig angezogen waren, hat der Vater sie mit dem Auto nach Heringsdorf gefahren. Die Großmutter hat vorn neben dem Vater gesessen und schreckliche Angst gehabt, Heinz hat hinten sitzen müssen, wo es eine schmale Bank gibt, auf die nur ein dünner Erwachsener oder ein Kind passt. Aber weil das Verdeck jetzt im Winter nicht hinten zusammengefaltet liegt, sondern hochgeklappt wird, ist es ganz gut gegangen.

Der Schnee, der tags zuvor gefallen war, hat nur noch ein bisschen auf den Wiesen und Äckern gelegen, auf der Dorfstraße war er schon weggetaut. Kalt ist es allerdings gewesen, Heinz hat klamme Hände und eisige Füße gehabt, aber der Vater vorn am Steuer hat trotz der Winterkälte fürchterlich geschwitzt, und die Großmutter hat immer wieder laut geschrien, als sei sie am Sterben.

»Fährst uns alle zuschanden! Herrgott im Himmel – so pass doch auf! Fahr net über das Hinkel! Willst du uns alle umbringen?«

Heinz weiß, dass der Vater immer noch keinen Führerschein hat, aber er fährt trotzdem mit dem Auto. Hinten ist der 4 PS schon ziemlich verbeult, und an der rechten Seite hat er eine böse Schramme, die kommt von dem steinernen Brunnenrand, den der Vater gestreift hat, wie er aus dem Hof herausgefahren ist. Heinz hat sich vorgebeugt und geschaut, wie der Vater das Auto zum Fahren bringt und wie er es steuert. Eigentlich ist es ganz einfach, das würde er auch können. Aber der Vater will halt alles immer mit Gewalt tun, er reißt am Steuerrad, schlägt mit der Faust auf die Armatur, und wenn das Auto nicht tut, was er will, dann flucht er grässlich.

In Heringsdorf haben sie vor dem Hof von Maries Eltern gehalten, da hat die Marie in ihrem weißen Hochzeitskleid schon gewartet und den Vater geschimpft, dass er so spät kommt. Heinz und die Großmutter mussten aussteigen, weil sich jetzt die Marie neben den Vater gesetzt hat. Dabei hat sie ein fürchterliches Theater um ihr Kleid und den langen Spitzenschleier gemacht und behauptet, der teure Stoff würde in dem dreckigen Auto Flecke bekommen. Heinz und die Großmutter sind mit ein paar anderen Verwandten zu Fuß zur Kirche gelaufen, das war zum Glück nicht weit, und er hat sich gefragt, warum der Vater die Marie diese kurze Strecke unbedingt mit dem Auto fahren muss.

Die Kirche ist nicht viel größer als die Dingelbacher Kirche, eher etwas kleiner und nicht so schön, weil außen der Putz herunterfällt. Drinnen hat schon die Hochzeitsgesellschaft gesessen, da haben nur wenige Leute die Tracht getragen wie in Dingelbach, die meisten Frauen waren städtisch angezogen. Die hinteren Bankreihen und auch die Empore sind leer gewesen, aber er und die Großmutter mussten sich leider ganz vorn in die erste Reihe setzen, wo schon der Herr Schäfer mit dem roten Schnauzer und Maries Mutter gesessen haben. Maries Mutter ist klein und dünn, sie hat blondes Haar wie Marie und hat ein hellgrünes, glänzendes Kleid und einen Mantel mit einem Pelzkragen angehabt.

Dann ist es losgegangen, und es ist nicht viel anders gewesen wie die Hochzeiten in Dingelbach. Nur dass der Heringsdorfer Pfarrer sehr dick ist und keine Haare mehr hat, dafür redet er viel und lang, und die Orgel hat nur Kirchenlieder gespielt, auch zum Eingang und zum Schluss. Die Marie hat zu früh Ja gesagt, da war der Pfarrer mit seiner Rede noch gar nicht fertig, und der Vater hat sich erst zweimal räuspern müssen, weil ihm wohl ein Frosch im Hals gesteckt hat. Die Großmutter hatte ihre Sonntagstracht angelegt und saß steif und gerade neben Heinz auf der Bank, aber als alles vorbei war und sie aus der Kirche gehen wollten, da hat sie sehr gestöhnt über den schmerzenden Rücken. Trotzdem hat sie dem frisch getrauten Paar ganz frohgemut gratuliert, und auch bei der Hochzeitsfeier im Gasthof »Zum Taunus« hat sie sich nichts anmerken lassen. Da hat sie oben an der Hochzeitstafel neben dem Bräutigam gesessen und mit dem Herrn Schäfer und seiner Frau geredet. Es ist ihr wichtig gewesen, dass sie von den Heringsdorfer Verwandten als Maries Schwiegermutter respektiert wird.

Das Essen ist nicht übel gewesen. Es hat Braten gegeben und dazu Gemüse und Kartoffelklöß mit Dörrfleisch drin. Vorher haben sie eine Rinderbrühe mit Ei gebracht, die war lauwarm und hat lasch geschmeckt. Aber zum Nachtisch gab es sein Leibgericht: Grießbrei mit eingekochten Kirschen, da hätte er gern zwei Portionen gegessen, aber es hat für jeden nur ein kleines Tellerchen voll gegeben, und das hatte er im Nu weggeputzt. Danach ist es langweilig gewesen. Die Erwachsenen haben geschwatzt und schon ein paar Schnäpse getrunken, und ein paar Kinder haben draußen Fußball gespielt. Aber er hat keine Lust gehabt, mitzumachen, und hat sich stattdessen in den 4 PS gesetzt und so getan, als würde er damit fahren. Am Nachmittag haben sie dann Krümmelkuchen mit Schmand gebracht, und die Frauen haben Kaffee ausgeschenkt. Danach ist es so gewesen wie in Dingelbach auch, da haben die Frauen Wein getrunken, und die Männer haben Äppler, Bier und Schnäpse bestellt, und es ist immer lauter hergegangen. Wie sie schließlich mit dem Singen angefangen haben, da hat die Marie bestimmt, dass sie jetzt mit dem Vater nach Dingelbach fahren will, um in ihr neues Heim einzuziehen. Es hat eine tränenreiche und weinselige Verabschiedung der Braut gegeben, Frau Schäfer hat geweint, und Herr Schäfer hat seine Tochter fest umarmt und nicht loslassen wollen. Die anderen waren aber gar nicht so böse, dass das Brautpaar fortgemacht hat, weil es danach immer erst so richtig lustig wird.

Die Marie hat einen warmen Mantel über das Kleid gezogen und den Schleier abgenommen, dann hat sie verkündet, dass die Schwiegermutter und der Bub bei ihren Eltern schlafen sollen, weil das Auto nur ein Dreisitzer ist und sie noch die Geschenke mitnehmen muss. Die Großmutter ist ganz froh gewesen, dass sie nicht mitfahren muss, aber Heinz hat wenig Lust gehabt, die Nacht über in Heringsdorf im Haus der Schäfers zu bleiben. Also ist er schnell in den 4 PS gestiegen und hat sich hinten zusammengekauert, und weil die Marie ihn im Dunklen nicht hat sehen können, hat sie die Pakete mit den Geschenken auf ihn draufgelegt. Das ist zwar recht unbequem gewesen, aber er hat sich trotzdem nicht gerührt.

Wenn er jedoch geahnt hätte, dass es eine solch schlimme Fahrt werden würde, wäre er vielleicht doch lieber in Heringsdorf geblieben. Es hat damit angefangen, dass der Vater nicht mehr sicher auf den Beinen stehen konnte, wie er eingestiegen ist, und die Marie darüber recht erbost war.

»Eine Schande, dass ich meinen Ehemann besoffen heimfahren muss«, hat sie geschimpft. »Aber das sag ich dir: Mit der Sauferei und dem Wirtshaushocken ist jetzt Schluss. Das gibt’s bei mir net.«

Der Vater hat gar nichts dazu gesagt und ganz still neben ihr gesessen. So sind sie durch die dunkle Nacht gefahren, und die Marie hat die ganze Zeit über geredet. Dass das eine ärmliche Hochzeit gewesen sei, dass sie eigentlich eine sechsspännige Kutsche hätte haben wollen und dass sie gar nicht wüsste, warum sie sich das schöne Brautkleid hätte nähen lassen, weil die Kirche nicht einmal voll gewesen sei.

»Was bist du für ein Lapp, dass du dir von dem Dingelbacher Pfaffen auf der Nas herumtanzen lässt!«, hat sie gesagt.

Der Vater hat immer noch geschwiegen, aber dann hat er plötzlich gerufen, dass sie anhalten müsse, weil ihm schlecht sei.

»Saufen, aber nichts vertragen!«, hat sie wütend gerufen.

Sie hat zornig mit einem Ruck angehalten, und der Vater ist schnell hinausgesprungen. Es hat lange gedauert, bis er wiedergekommen ist, da hat er sich auf den Sitz gesetzt und gestöhnt, dass das Bier nichts getaugt hätte, weil es ihm auf den Magen geschlagen sei. Aber die Marie hat nur schrill gelacht und ist so hart angefahren, dass alle Pakete verrutscht sind und Heinz schon Sorge gehabt hat, sie könnten ihn entdecken. Doch weder die Marie noch der Vater haben nach hinten geschaut, sie haben weitergestritten, bis die Marie das Auto in den Schützhof gefahren hat. Da haben sie den Hannes aus dem Bett geholt, dass er die Geschenke ins Haus trägt, und Heinz hat noch gehört, wie die Marie zu seinem Vater gesagt hat: »Wie du stinkst! Glaub ja net, dass du in der Nacht bei mir liegen wirst. Schlaf deinen Rausch auf dem Sofa im Wohnzimmer aus.«

Heinz hat es wehgetan, dass sich der Vater so von der Marie behandeln lässt. Auch wenn er von ihm nichts mehr wissen will, so ist er doch immer noch sein Vater, und es ist schlimm gewesen, das alles mitanhören zu müssen. Er hat gewartet, bis die beiden ins Haus gegangen waren, dann hat er die Pakete nach vorn auf die Sitze geworfen und ist aus dem Auto geklettert. Eine Weile hat er in der Küche beim kalten Ofen gesessen und sich gewünscht, die Großmutter wäre hier und er könnte mit ihr reden. Dann, als es oben ganz still geworden ist, ist er leise die Treppe hinauf, um in seine Kammer zu schlüpfen. Aber schon wie er oben die Tür aufgemacht hat, ist ihm der Geruch entgegengeschlagen, und er hat begriffen, dass der Vater sich in sein Bett gelegt hat. Also ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Nacht in der Kammer der Großmutter zu schlafen.

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Heinz wacht in aller Frühe auf, weil eine Tür geschlagen hat und der Vater die Stiege hinunter in den Hof geht. Er schaut aus dem Kammerfenster und kann sehen, dass drüben im ehemaligen Schweinestall ein Licht brennt, also ist der Vater in das neue Badezimmer gegangen, um sich zu waschen und für seine neue Ehefrau herzurichten. Tatsächlich kommt er bald darauf zurück und klopft an die Tür vom Eheschlafzimmer.

»Haste dich gewaschen und rasiert?«, ruft sie.

»Blitzsauber bin ich.«

»Alsdann – komm halt bei mich. Aber die stinkerten Kleider lässt du draußen.«

Heinz kennt die Geräusche, die nun gleich zu hören sein werden, und er hat wenig Lust zu lauschen. In der Kammer der Großmutter ist es muffig, der Kleiderschrank ist vollgestopft mit schwarzem Stoff, aus dem die Tracht geschneidert wird, überall stehen Dinge herum, die sie nicht fortwerfen mag, sogar ihr uralter Brautstrauß hängt vertrocknet und voller Spinnweben an der Wand. Er geht in seine Kammer und zieht sich alte Sachen an, den guten Anzug hängt er vorn an den Schrank, weil er ihn nachher in der Kirche tragen muss. Unten in der Küche ist es eiskalt, also feuert er erst einmal den Herd an und stellt einen Topf mit Milch darauf, dann holt er sich Brot, Käse und die Räucherwurst aus der Speisekammer und macht sich ein gutes Frühstück. Im Stall ist schon Licht, er muss gleich hinüber, um dem Hannes beim Füttern und Melken zu helfen, aber diese wenigen Minuten, wo er in aller Ruhe am Küchentisch sitzen und schmausen kann, die nimmt er sich. Nachher, wenn sie mit Melken fertig sind, wird gewiss der Vater mit am Tisch sitzen, und die Marie wird am Herd stehen, dann ist es aus mit dem Frieden, weil sie ganz sicher wieder etwas zu nörgeln haben wird.

»Die hat Haare auf den Zähnen, die Knodderhex«, sagt der Hannes zu ihm im Stall. »Mit der werden wir noch viel Spaß haben.«

Heinz antwortet nichts und stellt den Schemel zurecht, um die Loni zu melken, aber er denkt daran, dass seine Mutter um diese Zeit schon im Stall bei der Arbeit gewesen ist und die Großmutter in der Küche das Frühstück gemacht hat. Aber die Marie lässt sich im Stall nicht blicken. Wie sie mit Melken und Füttern fertig sind, hören sie schon im Hof, dass in der Küche Streit ist, und der Hannes grinst hämisch, denn nun ist es der Vater, der zornig das Wort führt.

»Was willste denn noch?«, brüllt er und haut mit der Faust auf den Küchentisch. »Soll ich dir einen Palast bauen, ja? Möbel hab ich gekauft, ein Badezimmer bauen lassen, das Wohnzimmer neu gemacht, Kleider und Schuh ohne Ende. Glaubst du vielleicht, ich könnt Geld scheißen?«

Der Hannes macht ganz vorsichtig die Küchentür auf, und sie gehen leise hinein. Der Hannes, weil er hungrig auf sein Frühstück ist, und Heinz, weil er sich freut, dass der Vater jetzt endlich einmal ein Machtwort spricht.

»Guude«, sagt der Hannes und nickt in Richtung Küchentisch.

Aber er bekommt keine Antwort, denn jetzt redet die Marie.

»So einer bist du also«, sagt sie giftig zu ihrem Ehemann. »Erst große Versprechungen machen, und hinterher ist nix gewesen. Aber mit mir machst du das net. Ich will einen anständigen Herd in der Küche haben. Sonst kannst du dir deinen Brei selber kochen. Und für den Stall, da hast du versprochen, dass eine Stallmagd auf den Hof kommt.«

Der Vater hat einen roten Kopf vor Zorn und hält dagegen. Schon weil der Hannes und der Heinz zuhören, da muss er zeigen, dass er der Herr auf dem Hof ist.

»Du bist wohl vom wilden Watz gepickt, Weibsbild?«, fährt er sie an. »Wenn du net kochen willst, dann wird das halt die Gertrud tun. Und eine Stallmagd brauchen wir net. Du bist die Bäuerin und kannst selber füttern und melken.«

Hannes ist ganz starr vor Ehrfurcht, weil der Schützbauer auf einmal wieder der Alte ist und seiner Ehefrau sagt, wo es langgeht. Auch Heinz ist beeindruckt, aber er schaut zur Marie hinüber und hat eine Ahnung, dass der Streit noch nicht fertig ausgetragen ist. Die steht jetzt vom Tisch auf und streckt den Bauch vor, in dem das Kind ist. Dann hebt sie den Milchkrug aus bemaltem Steingut hoch, hält ihn über den Tisch und lässt ihn fallen. Es tut einen ordentlichen Schlag, der alte Krug zerspringt in Scherben, und die Milch spritzt durch die Küche bis hin zum Herd, wo es ordentlich zischt und stinkt. Aber das meiste hat der Vater abbekommen, der schon die guten Hosen für den Kirchgang angelegt hat.

»Und an die Schlafkammer brauchste gar net anklopfen«, sagt die Marie seelenruhig. »Die ist verriegelt.«

Der Vater fährt vom Stuhl und wischt sich mit dem Hemdsärmel übers Gesicht, damit er etwas sehen kann. Wutentbrannt hebt er den Arm gegen die Marie, und Heinz denkt, dass es der Marie gleich ebenso wie seiner Mutter gehen wird. Aber es kommt ganz anders.

»Schlag doch zu«, sagt sie und bleibt furchtlos vor ihm stehen. »Ich werd’s im ganzen Dorf erzählen, was du für einer bist. Dass du im Bett nix kannst, aber deine schwangere Frau schlägst, dass das Kind am End einen Schaden davonträgt.«

Der Vater hält immer noch den Arm hoch, ganz starr steht er da, als hätte ihn der Blitz getroffen.

»Dein Maul hältst du, sonst lernst du mich kennen!«, ruft er.

Es klingt wie das schwache Donnergrollen, wenn das Gewitter schon keine Kraft mehr hat.

»Ich kenn dich in- und auswendig«, meint sie lachend und wendet sich ab. Sie schaut zum Hannes, als täte sie ihn jetzt erst sehen, und befiehlt ihm, die Scherben aufzusammeln, und Heinz soll einen Eimer mit Wasser holen und die Küche wischen.

Hannes zögert, die Anweisung auszuführen. Scheu blickt er zum Hofbauern hin, ob der einverstanden ist oder gleich etwas anderes anordnen wird. Der Vater nimmt jetzt langsam den Arm hinunter und schaut wild um sich. Wie Heinz schon denkt, er fängt jetzt vielleicht an zu brüllen und zu toben, da dreht sich der Vater um und geht ohne ein Wort aus der Küche. Die Tür macht er nicht laut hinter sich zu, wie er es sonst immer tut, er lässt sie leise ins Schloss fallen, und seine Schritte im Flur sind gar nicht zu hören.

Damit ist also klar, wer in Zukunft auf dem Schützhof das Sagen haben wird, denn der Vater ist gegangen, aber die Marie ist in der Küche geblieben.

»Was steht ihr zwei da wie angewachsen?«, sagt Marie. »Habt ihr net gehört, was ich gesagt hab?«

»Ei freilich, Bäuerin«, meint Hannes diensteifrig und macht sich daran, die Scherben einzusammeln.

»Was ist mit dir?«, fährt Marie Heinz an. »Brauchst du eine Extraeinladung?«

Er schweigt einen Moment, weil er mit dem, was er gerade erlebt hat, erst einmal umgehen muss. Aber dann stößt er impulsiv hervor: »Hol dir dein Wasser selber. Hast heut eh noch nix geschafft!«

Damit macht er kehrt und läuft auf den Hof hinaus. Erst hat er Sorge, die Marie würde ihm vielleicht nachlaufen, um ihm eine Maulschelle zu geben, aber das tut sie nicht. Das ist klug von ihr, denn er wäre sowieso schneller und hätte sich oben in der Scheune auf dem Heuboden in Sicherheit gebracht. So geht er ganz gemächlich in den Kuhstall, wo es auch im Winter schön warm ist, und setzt sich auf einen Schemel. Eine Weile geht alles in seinem Kopf durcheinander, und er weiß nicht, was er denken soll. Es ist nicht recht, dass der Vater die Marie schlagen wollte. Aber es ist auch gemein, wie die Marie mit ihm umgeht. Nie im Leben hätte seine Mutter solche Dinge gesagt oder gar solche unverschämten Forderungen gestellt. Aber vielleicht war das gerade falsch? Die Marie, die duckt sich nicht, die hat auch keine Angst vor dem Vater. Und weil sie keine Angst hat, schlägt er nicht zu.

So ist das im Leben, denkt er. Wer Angst hat, der verliert. Auf einmal ist er stolz auf sich, denn er hat vor der Marie nicht den Kopf eingezogen, sondern ihr widersprochen. Und das will er auch weiterhin tun, er lässt sich nicht runterdrücken, er wird ihr zeigen, dass er keine Angst vor ihr hat.

Zu Anfang scheint es leicht. Wie er zurück ins Haus geht und den guten Anzug für den Kirchgang anzieht, tut die Marie, als sei nichts gewesen, und fragt nur, ob er auch ein frisches Sacktuch eingesteckt hat. Sie hat sich ebenfalls schön angekleidet und trägt die Dorftracht, aber sie nimmt kein Tuch um die Schultern, wie es die Frauen im Dorf im Winter tun, sondern sie hat einen Umhang mit Pelzbesatz. Der Vater hat sich auch für den Kirchgang fertig gemacht. Er kann nicht fortbleiben, weil die Leute im Dorf sonst gleich fragen würden, ob dem Bürgermeister die Hochzeit nicht bekommen ist. So gehen sie alle miteinander zum Gottesdienst, und die Marie setzt sich auf den Platz, auf dem früher seine Mutter gesessen hat. Das tut ihm weh, obgleich er weiß, dass es nicht zu ändern ist, aber er setzt sich nicht neben sie, sondern rückt ein Stück von ihr weg. Er weiß, dass hinten in der Kirche seine Mutter sitzt, er spürt ihren Blick im Nacken, aber er hat keine Lust, sich zu ihr umzudrehen. Überhaupt starren alle Dingelbacher neugierig zu der Bank, wo der Schützbauer mit seiner neuen Frau sitzt, und Heinz kann hören, wie über die Marie geflüstert wird, weil sie solch einen teuren Umhang trägt. Aber nach dem Gottesdienst kommen sie trotzdem alle, um dem Vater und der Marie zur Hochzeit zu gratulieren und ihnen Glück zu wünschen. Auch Heinz wird mit freundlichen Worten und guten Wünschen bedacht.

»Da sei nur schön brav, Bub, dass deine Stiefmutter ihre Freude an dir haben kann.«

»Es ist doch besser, wenn eine Bäuerin auf dem Hof ist, gelle?«

»Freust du dich auch, dass du bald ein Geschwisterlein bekommst?«

Er sagt immer nur »Ja« oder »Gewiss«, weil er weiß, dass das alles nur Sprüche sind und dass die Leut im Dorf ganz anders reden, wenn sie später unter sich sind. Der Vater lässt sich nichts von dem anmerken, was er heute früh in der Küche hat erfahren müssen, sondern er tut großspurig und lädt alle in den »Raben« zu einem Umtrunk ein. Da gehen natürlich nur die Männer hin, denn die Frauen müssen heim und das Essen kochen, und die Mägde und Knechte, die hinten in der Kirche sitzen, sind sowieso nicht gemeint. Nur die Marie geht an der Seite des Vaters mit in den »Raben«, weil sie sich als die neue Schützbäuerin feiern lassen will. Doch nicht alle Dingelbacher Männer folgen der Einladung: Der Hannes Killinger macht sich ohne ein Wort davon, auch der Rudolf Alberti verabschiedet sich, und der Altmann Schorsch hat ebenfalls keine Lust, auf Kosten des Bürgermeisters ein Morgenbier zu trinken. Heinz bleibt bei der Kirche stehen und überlegt, ob er schnell zum Killinger Hannes läuft und bis zum Abend dort bleibt, da könnte er den Willibald füttern und striegeln, und der Hannes würde für sie beide ein paar Eier mit Räucherspeck in die Pfanne hauen. Aber dann fällt ihm ein, dass die Großmutter irgendwann heute mit dem Zug heimkommen wird und er sich um sie kümmern muss, weil sie ganz sicher wieder schlimme Rückenschmerzen hat. Also entscheidet er sich dafür, erst einmal nach Hause zu laufen und auf die Großmutter zu warten. Wenn er ihr den Rücken eingerieben hat, kann er immer noch zum Hannes hinübergehen. Wie er mit seinen Überlegungen so weit gekommen ist, sieht er auf einmal den Lehrer Hohnermann aus der Kirche kommen. Der ist immer der Letzte und schließt die Kirchenpforte ab, weil er oben auf der Orgelbank noch seine Noten zusammenräumt und manchmal auch noch ein wenig Orgel spielt.

»Heinz!«, hört er ihn rufen. »Wart doch einen Augenblick. Ich wollte dich etwas fragen.«

Unwillig bleibt er stehen. Lehrer Hohnermann ist ihm mit seinen vielen Fragen und den Büchern, die er ihm immer geben will, recht lästig. Gewiss meint er es auf seine Art gut mit ihm, aber er hat nichts zu sagen im Dorf, nur die Frauen mögen ihn gut leiden, die Männer lachen oft über das »brave Lehrersche« und halten ihn für einen Schwächling.

Auch jetzt stellt er Heinz wieder so eine Frage, die man nicht wirklich beantworten kann.

»Na, hast du alles gut hinter dich gebracht, Heinz?«

Was soll einer darauf wohl sagen? Er hat gestern eine langweilige Hochzeit und eine schlimme Heimfahrt erlebt, und heute früh hat die Marie seinen Vater zum Deppen gemacht und die Herrschaft auf dem Schützhof an sich gerissen.

»Geht so …«, murmelt er.

»Das ist alles nicht so leicht für dich, wie?«, fragt der Lehrer in mitfühlendem Ton.

Mitleid braucht Heinz nun schon gar nicht.

»Ich muss heim, Herr Lehrer«, sagt er und scharrt mit dem Fuß. »Die Oma kommt nachher aus Heringsdorf, und ich muss sie mit Rückensalbe einreiben.«

»Das ist lieb von dir, dass du dich um deine Großmutter kümmerst«, sagt Hohnermann und lächelt. »Ich wollte dich nur schnell fragen, ob du vielleicht Lust hast, demnächst mit mir nach Frankfurt zu fahren.«

»Nach Frankfurt?«

»Ja«, sagt er und lächelt noch mehr. »Wir haben doch bald Nikolaustag, und da habe ich überlegt, dass wir in der Schule ein paar hübsche Sachen für Kurt und Julia basteln und einen Brief schreiben. Ich würde die Sachen dann nach Frankfurt bringen, und wenn du magst, nehme ich dich mit.«

Er kann kaum fassen, dass der Lehrer Hohnermann solch eine fabelhafte Idee gehabt hat. Und dass er auf diese Weise die Julia wiedersehen kann.

»Ja«, sagt er ganz atemlos. »Da will ich mitfahren. Auf jeden Fall will ich da mitfahren.«

»Das ist fein«, meint Hohnermann. »Du musst nur deinen Eltern Bescheid sagen, weil ich ihre Erlaubnis brauche.«

»Ja, das tu ich. Und ich dank auch schön, Herr Hohnermann.«

Dem Vater wird er gar nichts sagen, dem ist es sowieso gleich, was er tut. Auch der Marie sagt er kein Wort davon, denn die ist ja nicht seine Mutter. Er wird es der Großmutter sagen, die wird ihn schon fahren lassen.

Bevor er in den Schützhof einbiegt, sieht er gerade noch, wie Lehrer Hohnermann die Stufen zum »Raben« hinaufgeht. Er ist höflich, »das Lehrersche«, und trinkt ein Glas Bier auf den Bürgermeister.