Kapitel 29
Helga bringt das Kleid tatsächlich am Donnerstagabend, aber sie kommt spät, als der Laden schon geschlossen ist. Die Mutter ist in ihrer Kammer und redet mit Herta, deshalb schickt sie Ida hinunter.
»Gib ihr zehn Reichsmark aus der Ladenkasse«, sagt sie. »Und den Rest von dem alten Kaffee kann sie auch mitnehmen.«
Frieda, die in ihrem Bett sitzt und ein Buch über Theatergeschichte liest, flüstert Ida zu: »Die Mama ist so ein Geizknochen, man muss sich ja schämen.«
Ida findet das auch. Unten im Laden nimmt sie fünfzehn Reichsmark aus der Kasse und legt eine Tüte mit frischem Kaffee sowie ein rosa eingepacktes Seifenstück dazu. Rosenseife, extra fein.
»Hat das deine Mutter auch erlaubt?«, erkundigt sich Helga vorsichtig.
»Wenn du dich allweil mit der Rabenkarin herumärgern musst, dann brauchst du wenigstens einen guten Geruch in deiner Kammer«, erklärt Ida. »Und den Rest von dem Stoff, den kannst du behalten, den brauch ich net.«
Helga steckt alles in den Beutel, in dem sie das Kleid hergebracht hat. Was sie mit dem Geld tun wird, weiß Ida schon. Sie wird sich eine Fahrkarte nach Oberursel kaufen und an jeder Haltestelle aussteigen, um nach Oskar zu fragen. Ida hält nicht viel davon, aber sie sagt nichts. Stattdessen erwähnt sie beiläufig, dass der Sirius Engelke wahrscheinlich am Freitag vorbeikommen wird.
»Der kommt immer am Vormittag so gegen neun oder zehn Uhr«, sagt sie leise, damit es die Mutter oben nicht hört. »Wenn du seinen Pferdekarren siehst, dann lauf am besten gleich zu ihm und sag dein Anliegen. Weil es sein könnt, dass er schlechter Laune ist, wenn er später wieder aus dem Laden herausgeht.«
Helga nickt verschwörerisch.
»Ist deine Mutter immer noch gegen die Heirat? Mir tut die Herta herzlich leid, weil sie wohl sehr verliebt ist.«
Ida zuckt mit den Schultern. »Mir würd der Sirius ja net gefallen. Aber die Herta ist froh, dass sie überhaupt einen abbekommt, deshalb will sie net auf die Mutter hören.«
»Wo die Lieb halt hinfällt«, seufzt Helga. »Magst das Kleid schnell einmal anziehen, ob es auch passt?«
»Das passt schon«, meint Ida gleichmütig und klemmt sich das schön zusammengefaltete Kleid unter den Arm. »Dann mal Guude, Helga. Und schau, dass du den Sirius am Freitag rechtzeitig erwischst.«
»Ich stell mich bei’s Backes und lass den Laden net aus den Augen. Und schönen Dank auch für den Rat, Ida.«
Sie lässt Helga hinaus und schließt hinter ihr den Laden wieder ab. Dann steigt sie mit dem Kleid unter dem Arm die Treppe hoch. Im Flur bleibt sie einen Moment stehen, um zu hören, was sich in der Kammer der Mutter tut, aber dort ist nur Hertas bitterliches Schluchzen zu vernehmen. Also geht sie in die Schlafkammer, wo Frieda ihr neugierig entgegenschaut.
»Zeig mal her. So ein schöner Stoff! Sie hat sogar einen Spitzenrand an den Kragen genäht. Die kann was, die Helga. Zieh’s mal über.«
Ida stöhnt auf. Dieses Affentheater mit dem Kleid geht ihr fürchterlich auf die Nerven. Hätte sie die dumme Einladung doch abgesagt! Aber das hätte Ärger mit der Großmutter gegeben. Und außerdem wäre es feige gewesen zu kneifen. Nein, sie geht morgen hin, und das blöde Kleid wird sie halt anziehen. Einmal und nie wieder, danach hängt sie es in den Schrank, da kann es verschimmeln.
Das Kleid ist für ihren Geschmack viel zu lang, der Kragen mit dem Spitzenrand ist albern, und die Bündchen an den langen Ärmeln gefallen ihr auch nicht. Aber Frieda ist ganz entzückt, sie verlangt, dass sich Ida in die Zimmermitte stellt, wo das Deckenlicht sie besser beleuchtet, und sie holt ein Paar ihrer gackeligen Schuhe aus dem Schrank, die Ida unbedingt dazu anziehen muss.
»Du siehst fantastisch aus, Idchen! Wie eine junge Dame. Wenn ich dich so zur Schauspielschule mitnehme, kriegt der Harry Stielaugen. Dreh dich mal um – es passt wie angegossen!«
»Das ist zu weit …«
»Das muss locker in der Taille sitzen«, belehrt Frieda sie. »Du könntest auch einen Gürtel tragen, aber einen schönen, nicht so ein altes Ding von der Mama. Nein, wie das Blau zu deinem roten Haar passt!«
Ida betrachtet sich missmutig im Spiegel. Weil der zu klein ist, kann sie sich nur bis zur Taille sehen, aber allein das reicht ihr schon. Unter dem Stoff zeichnet sich ihr Busen ab. Wie furchtbar!
»Das sieht richtig damenhaft aus«, findet die Schwester. »Hol mal die Schere aus Mamas Nähkasten, ich will dir die Haare schneiden, die sind zu lang.«
»Na schön«, knurrt Ida. »Aber deine Schuhe zieh ich net an. Da kriege ich krumme Zehen, weil sie mir zu klein sind.«
Frieda verdreht die Augen zur Zimmerdecke und stöhnt. »Du kannst doch zu diesem Kleid nicht deine alten Treter anziehen! Das macht alles kaputt.«
»Na und? Ich zieh ja auch die alte Jacke drüber, weil ich keine andere habe.«
»Ich leih dir meinen Mantel«, schlägt Frieda großmütig vor.
»Nein danke!«, faucht Ida zurück. »Schneid mir jetzt die Haare, und dann lässt du mich in Ruhe!«
»Na schön«, seufzt Frieda. »Leg dir ein Handtuch um die Schultern, sonst ist der blaue Stoff voll mit roten Stoppeln.«
Es ist zum Jammern, wie schnell ihre Haare wachsen. Wie Unkraut. Kaum drei Wochen ist es her, dass Frieda ihr den letzten Haarschnitt verpasst hat. Jetzt hantiert sie mit der Schere herum und redet dabei unablässig auf Ida ein. Dass sie endlich einmal zu einem anständigen Frisör gehen muss, dass sie etwas hineinschmieren soll, damit es nicht so absteht, und dass sie sich kämmen muss, bevor sie Berta Kahns Eltern vorgestellt wird. Als sie endlich fertig ist, nimmt sie das Tuch mit den abgeschnittenen Haaren ganz vorsichtig von Idas Schultern und schüttelt es am Fenster aus.
Gleich kommt die Mutter ins Zimmer gelaufen und regt sich auf, dass sie das Fenster aufmachen, weil es draußen schneit und die Kälte hereinkommt. Sie betrachtet Ida von oben bis unten und verzieht das Gesicht.
»Komm mir ja net mit einem Kerl an!«
Das hat sie nun davon. Dabei hat die Mutter die ganze Zeit geredet, sie sei kein Kind mehr und müsse sich anders anziehen. Aber die abgelegten Kleider ihrer Mutter hat Ida gar nicht erst anprobiert und stattdessen weiter die Blusen und Trägerröcke angezogen. Wobei es ihr gleich ist, dass man die Strumpfhalter sehen kann, wenn sie sich bückt. Wütend zieht sie das Kleid aus und will es neben ihr Bett über den Tornister legen, aber Frieda reißt es ihr aus der Hand und hängt es sorgfältig auf einen Bügel. Dann kommt zum Glück Herta ins Schlafzimmer, die Augen noch vom Heulen verquollen, und sie müssen das Licht ausmachen, weil Herta sonst nicht einschlafen kann.
Ida vergräbt sich in den Kissen und spürt, wie es ihr im Bauch grummelt. Morgen wird ein harter Tag, sie wäre froh, wenn sie ihn schon hinter sich hätte.
»Hat die Mama immer noch net Ja gesagt?«, flüstert Frieda über sie hinweg.
»Lass mich in Ruh!«, schluchzt Herta.
»Die besinnt sich schon noch«, tröstet Frieda unverdrossen.
Sie erhält keine Antwort. Stille kehrt in der Schlafkammer ein, man kann hören, wie der Wind die harten, kleinen Schneeflöckchen gegen den Fensterladen bläst. Ab und zu bellt ein Hofhund, und ein anderer antwortet. Dann fängt Herta an zu schnarchen, und Ida schlummert bei dem vertrauten Geräusch endlich ein.
Am Morgen ist sie noch vor der gewohnten Zeit wach und spürt ein unangenehmes Gefühl im Magen. Das ist Hunger, sagt sie sich. Vor der dummen Einladung ist mir überhaupt nicht bange. Das wäre ja gelacht. Frieda schläft noch selig, weil sie erst später nach Frankfurt fährt; Herta ist zwar wach, aber sie steht nicht auf, weil sie sich wieder mal krank stellt. Unten in der Küche ist die Mutter zugange, also nimmt Ida ihre Kleider über den Arm und geht hinunter, um sich in der Küche zu waschen, weil das Wasser im Krug gefroren ist.
Die Mutter hat ihr das Frühstück gerichtet, das tut sie jetzt immer, seitdem Herta die Kranke spielt.
»Mach das Kleid nicht dreckig«, sagt sie zu Ida, die in gewohnter Weise beim Essen die Arme aufstützt. »Und benimm dich anständig. Gleich nach dem Mittagessen verabschiedest du dich und fährst heim. Ich brauch dich im Laden.«
Damit ist Ida sehr einverstanden, denn sie will sich auf keinen Fall länger als unbedingt nötig bei den Kahns aufhalten. Während sie zum Bahnhof hochläuft, stellt sie fest, dass das dumme Kleid beim raschen Gehen stört, weil sich der Stoff um die Beine wickelt. Im Zug muss sie heute stehen, sie hält sich an einer Sitzbank fest und liest eine Zeitung von vorgestern, die jemand liegen gelassen hat. In einer Stadt in der Schweiz haben mehrere Länder einen Vertrag für ein europäisches Sicherheits- und Friedenssystem abgeschlossen, den auch der Reichstag jetzt angenommen hat. Locarno heißt der Ort. Immerhin, denkt Ida. Sie haben mal was angenommen, sonst streiten sie ja immer nur herum. Dann liest sie, dass die französischen und belgischen Truppen jetzt die Stadt Köln räumen. Dann sind sie wohl auch bald aus dem Taunus fort, da sitzen sie in Königstein, hat Onkel Schorsch gesagt. Einen neuen Film mit dem Schauspieler Emil Jannings gibt es auch. Varieté, heißt er. Den wird sich Frieda ganz sicher anschauen wollen, der Emil Jannings sei ein grandioser Schauspieler, sagt sie immer. Einmal ist Ida mit ihr ins Kino gegangen, aber sie fand den Jannings dick und hässlich, er hat ihr überhaupt nicht gefallen.
In der Schule wird sie für das neue Kleid sehr bewundert. Alle wollen es anfassen, einige meinen, es sei für die Schule eigentlich zu schade, und Charlotte sagt hochnäsig: »Da brauchst du kein feines Kleid anzuziehen, wenn du mit diesen Elefantentretern kommst.«
Berta sagt nichts, aber sie weist Charlotte an, den Mund zu halten. Der Ausbruch offener Feindseligkeiten ist seit der Geschichte mit der Postkarte selten geworden, es herrscht ein brüchiger Frieden in der Klasse, was hauptsächlich daran liegt, dass Berta keinerlei Provokationen in Idas Richtung duldet. Ida ist sich jedoch sicher, dass ihre Konkurrentin das nicht aus freien Stücken tut, sondern nur, weil ihre Eltern sie dazu verdonnert haben. Nach wie vor versucht Berta, Ida im Unterricht auszustechen, und wenn sie eine bessere Note erhält, schaut sie triumphierend in Idas Richtung. Sie ist und bleibt eine neidische Wanze, vor der man sich in Acht nehmen muss.
Von den Lehrerinnen erhält Ida in ihrem neuen Kleid freundliche, aber auch belustigte Blicke, Bemerkungen fallen nicht. Wofür Ida sehr dankbar ist. Nur als sie nach der letzten Stunde einpacken und nach Hause gehen dürfen, sagt Fräulein Hübner lächelnd zu Ida und Berta: »Da wünsche ich euch beiden einen schönen Nachmittag.«
Es ist ein Komplott, denkt Ida ärgerlich. Nicht nur die Großmutter steckt dahinter, die Lehrerinnen sind auch dabei, und Bertas Eltern sowieso. Aber wenn die glauben, sie könnten mich einwickeln, dann haben sie sich gründlich geirrt.
Berta bedankt sich zwar wohlerzogen für die guten Wünsche, aber Ida sieht ihr an, dass sie das Gleiche denkt wie sie selbst. Sie gehen mit den anderen zur Straßenbahnhaltestelle und fahren bis zum Opernplatz, wo sie in die Linie 19 umsteigen. Am Gärtnerweg müssen sie aussteigen und das letzte Stück zu Fuß laufen. Berta geht stumm neben Ida her; es ist klar, dass auch sie von dieser Einladung nicht begeistert ist.
Vor einem der weiß verputzten, mehrstöckigen Häuser bleibt Berta stehen. Es hat einen kleinen Vorbau und zwei Säulen, die das Dach über der Eingangstür tragen, unten sind die Fenster kleiner, oben, wo die schönen Räume sind, gibt es einen Balkon. Ein eiserner Zaun mit goldfarben gestrichenen Spitzen umschließt einen winzigen Vorgarten. Dort wächst eine verkrüppelte Tanne, die Beete vor den vergitterten Kellerfenstern sind mit Fichtenzweigen abgedeckt.
»Hier wohnen wir«, sagt Berta und öffnet das Gartentor. »Da oben ist mein Zimmer.«
Sie zeigt auf eines der hohen, schmalen Fenster, das mit einer hellen Gardine zugehängt ist. Sie hat ein eigenes Zimmer! Nun ja, das war zu erwarten, schließlich sind ihre Eltern reiche Leute. An der Haustür zieht Berta die Glocke, und sogleich öffnet ihnen ein Dienstmädchen, das genauso angezogen ist wie die Mädchen, die die Großmutter in ihrer Villa beschäftigt: ein dunkles Kleid und eine weiße Schürze darüber. Sie ist nicht mehr jung und etwas füllig, dem runden Gesicht und dem dünnen blonden Haar nach könnte sie vom Dorf stammen.
»Hat die Schule wieder so lange gedauert?«, sagt sie mitleidig zu Berta. »Nein, was so ein Mädel heutzutag alles lernen muss. Ist das deine Freundin, die Ida?«
»Ja, Selma. Das ist Ida Haller.«
Sie müssen im Flur stehen bleiben, wo Selma ihnen die Mäntel, Mützen und Tornister abnimmt. Dann sollen sie die Straßenschuhe ausziehen, und Ida erhält ein Paar dunkelblauer, bestickter Hausschuhe, die auf keinen Fall Berta gehören können, denn sie hat kleinere Füße. Wie sie dabei sind, die Schuhe zu wechseln, entdeckt Ida ein dunkles Augenpaar, das durch den Türschlitz nach ihnen späht.
»Wer bist du denn?«
Blitzschnell wird die Tür zugemacht.
»Das ist Klaus, mein kleiner Bruder«, sagt Berta und verdreht die Augen. »Der ist immer so neugierig.«
Von einem kleinen Bruder hat Berta in der Schule nie gesprochen.
»Hast du noch mehr Geschwister?«
»Nein. Ein kleiner Bruder ist mehr als genug.«
»Ich hab zwei ältere Schwestern, das ist auch genug.«
Jetzt müssen sie sich die Hände waschen, dazu geht Berta in einen kleinen Raum, wo es ein weißes Waschbecken mit einem goldgerahmten Spiegel darüber gibt. Ida ist wenig beeindruckt. Bei der Großmutter gibt es auch solch einen Raum, aber da steht noch eine hübsche weiße Kommode mit vielen Glasfläschchen darauf, in denen Parfüm ist. Und die Seife riecht auch besser. Kamm und Bürste sind allerdings vorhanden, aber weder Berta noch Ida benutzen sie.
»Beeilt euch, ihr zwei«, drängelt Selma. »Die Herrschaften sind schon oben im Speisezimmer.«
Die Treppe ist mit einem roten Teppichläufer belegt; an der Wand hängen gerahmte Stiche. Der Rhein, von der Quelle bis zur Mündung. Das ist doch mal was. Ida würde gern stehen bleiben, um die Bilder zu betrachten, aber Berta läuft eilig voraus, und hinter ihnen kommt schon Selma mit einer großen Porzellanschüssel, die einen Deckel hat. Es riecht nach einer guten Rindersuppe.
Und dann kommt der große Moment: Sie treten ins Speisezimmer, wo schon Bertas Eltern und auch der kleine Bruder am Tisch sitzen. Ida gefällt das Zimmer überhaupt nicht, es ist voller dunkler Möbel, auch die Tapete ist düster, und an den Wänden hängen gerahmte Landschaften in Öl. Aber Bertas Eltern begrüßen sie sehr freundlich, die Mutter steht sogar auf und reicht ihr die Hand.
»Wie schön, dass du heute bei uns bist, Ida«, sagt sie. »Es ist recht kalt draußen, nicht wahr? Ihr habt beide roten Wangen. Komm, setz dich hier neben Berta, ihr seid gewiss hungrig.«
Hungrig ist Ida allerdings. Die Suppe darf man sich nicht selber einfüllen, sie wird von Selma mit einem silbernen Schöpflöffel auf die Teller gegeben. Ida fragt sich, ob sie davon satt werden wird, denn es ist bloß eine klare Brühe mit ein paar feinen Nudeln und Petersilie darin. Aber immerhin befindet sich unter dem Suppenteller noch ein großer flacher Teller, davor liegen ein großer und ein kleiner Löffel, rechts ein Messer und links eine Gabel. Da wird es wohl noch einen zweiten Gang geben, denn sie werden die Suppe kaum mit Messer und Gabel essen.
»Guten Appetit«, wünscht Herr Kahn und nimmt den Löffel.
Aha, die dürfen erst anfangen, wenn er das Kommando dazu gibt.
»Vielen Dank«, sagt sie und probiert die Suppe. Sie ist nicht übel, aber ziemlich salzig.
»Wie war es in der Schule?«, erkundigt sich Herr Kahn.
Er ist schlank und hat blondes Haar und blaue Augen. Wenn er lächelt, sieht er sehr nett aus, aber Ida merkt gleich, dass er sie ganz genau betrachtet. Frau Kahn hat dunkles Haar und braune Augen, sie ist zierlich und sehr hübsch. Berta und ihr kleiner Bruder sehen ihrer Mutter ähnlich.
»Wir haben Kegelschnitte in Mathematik durchgenommen«, berichtet Berta. »In Französisch lernen wir das passé composé, und in Deutsch lesen wir Balladen von Friedrich Schiller.«
Ida ist verblüfft, wie ausführlich Berta ihren Eltern erzählt, was in der Schule durchgenommen wurde. Für so etwas hat sich ihre Mama noch nie interessiert, die schimpft nur, dass sie so spät nach Hause kommt, weil sie ihr im Laden helfen muss.
»Die Balladen werdet ihr zu Weihnachten vermutlich vortragen, nicht wahr?«, erkundigt sich Bertas Mutter.
»Nur einige davon …«
»Ich werde dich abhören, Berta. Wirst du auch etwas aufsagen, Ida?«
Ida kratzt gerade die letzten Tropfen Suppe aus ihrem Teller, wobei sie von Bertas Bruder mit großen Augen angestarrt wird. Was will er? Darf man den Teller nicht kippen, um den Rest Suppe zu essen?
»Ich weiß noch net«, sagt sie zu Bertas Mutter. »Ist mir auch egal. Die Balladen von Schiller sind allweil so schwülstig, da gefallen mir seine Theaterstücke schon besser. Da ist Schwung drin. Und es gibt immer ein paar Tote auf der Bühne.«
Bertas Eltern sehen sich an. Aha, es stört sie, dass sie an dem großen Friedrich Schiller herumnörgelt. Tja, daran müssen sie sich gewöhnen, sie sagt, was sie denkt.
»Welche Dramen von Schiller hast du denn schon gelesen?«, will Bertas Vater wissen.
Sie zählt auf: »Don Carlos , Wilhelm Tell , Wallenstein , Maria Stuart und noch ein paar andere. Und die Räuber natürlich. Er hat auch verschiedene Aufsätze und eine Theorie der Dramen geschrieben, da erklärt er, wie ein gutes Theaterstück gemacht werden muss.«
»Und das hast du alles gelesen?«, fragt er zweifelnd. »Gibt es in eurem Dorf denn eine Bibliothek?«
Ida merkt, dass er ihr nicht glaubt, und sie ärgert sich darüber. »Die meisten Bücher hat mir der Lehrer Hohnermann gegeben, der fährt immer nach Frankfurt und kauft Bücher ein. Ein paar Sachen habe ich aus der Schulbibliothek der Schillerschule ausgeliehen, aber da ist nicht viel Interessantes zu finden. Die besten Sachen gibt es in dem Buchladen bei der Universität, aber die sind leider …«
Es klirrt laut, und alle schauen zu Bertas Bruder Klaus hinüber. Er sitzt ganz erschrocken da und ruft: »Ich kann nichts dafür, Papa. Es ist mir einfach so aus der Hand gefallen …«
Er hat das schwere silberne Messer genommen und damit herumgespielt, und dabei ist es auf den leeren Suppenteller gefallen.
»Steh auf und geh in dein Zimmer«, sagt die Mutter streng.
Gehorsam rutscht der Bub vom Stuhl, verbeugt sich vor dem Vater und geht hinaus. Draußen fängt er an zu heulen, und man kann hören, wie Selma ihn tröstet.
»Kriegt er jetzt nichts mehr zu essen?«, will Ida wissen.
»Bis heute Abend nicht«, erklärt Berta. »Er muss schließlich irgendwann einmal lernen, am Tisch nicht herumzuzappeln.«
Bei uns in Dingelbach hätte so einer eine feste Maulschelle bekommen, und dann wär’s gut gewesen, denkt Ida. Hungern braucht deshalb keiner. Aber in der Stadt ist das halt anders. Klaus tut ihr herzlich leid, denn jetzt räumt Selma die Suppenteller weg, und es gibt leckeren Braten mit Soße, dazu Kartoffeln und Möhren mit Erbsen. Ida tut sich keinen Zwang an, sie isst sich gründlich satt, und als sie gefragt wird, ob sie noch Fleisch möchte, sagt sie nicht Nein.
»Es freut mich, dass es dir bei uns schmeckt, Ida«, sagt Bertas Mutter lächelnd. »Möchtest du vielleicht noch eine Portion?«
»Nein, danke. Ich platze gleich.«
Dann reden die Eltern unter sich. Herr Kahn hat eine Arztpraxis und berichtet, dass die neue Angestellte sich geschickt anstellen würde, Frau Kahn organisiert eine Tombola für eine Wohlfahrtseinrichtung, zu der sie noch Spenden benötigt.
»Ich könnte meine Großmutter fragen«, fällt Ida dazwischen. »Die spendet oft für alle möglichen Sachen.«
Bertas Eltern schauen sie überrascht an, dann sagt Herr Kahn lächelnd, das sei eine gute Idee. »Du bist wirklich ein aufgewecktes Mädchen, Ida.«
Zum Nachtisch gibt es einen Grießpudding mit Schokoladensoße. Eine Köstlichkeit! Hätte sie bloß nicht so viel von dem Braten gegessen; so schafft sie nur zwei kleine Portionen.
Dann ist das Mittagessen vorbei, nur die Eltern trinken noch einen Kaffee, Berta und Ida dürfen vom Tisch aufstehen.
»Zeig deiner Freundin Ida dein Zimmer, Berta«, weist Frau Kahn sie an. »Ihr könnt schon mit den Schularbeiten anfangen, ich komme dann und schaue es mir an. Danach muss Berta eine halbe Stunde Klavier üben.«
»Das Zimmer würde ich gerne sehen«, gibt Ida zurück. »Aber dann muss ich gleich nach Hause, weil meine Mutter mich im Laden braucht.«
»Siehst du, Berta«, sagt Herr Kahn. »Ida muss sogar arbeiten, und trotzdem hat sie gute Noten in der Schule. Nimm dir daran ein Beispiel.«
Jetzt versteht Ida langsam, warum Berta sie nicht leiden kann. Es macht keinen Spaß, wenn man eine andere immer als leuchtendes Vorbild vor die Nase gehalten bekommt. Berta geht denn auch ganz stumm und verbissen vor ihr her und macht für sie ihre Zimmertür auf. Was für ein Traum! Weiß gestrichene Möbel, ein richtiger kleiner Schreibtisch, ein Regal für ihre Bücher, ein großer Kleiderschrank ganz für sie allein. Im Regal sitzen mehrere Puppen mit Porzellanköpfen und echtem Haar, ein Harlekin und ein süßer kleiner Hund aus Stoff. Bertas Tornister steht schon neben dem Schreibtisch, den hat Selma hinaufgetragen.
»Du hast aber ein schönes Zimmer, Berta!«
Berta zuckt mit den Schultern. Sie scheint es ganz normal zu finden. »Hast du kein eigenes Zimmer?«, fragt sie.
»Nee«, sagt Ida. »Wir teilen uns eins zu dritt, meine Schwestern und ich. In unserem Zimmer gibt’s nur drei Betten und einen Schrank, für mehr ist nicht Platz.«
Berta ist entsetzt. Nicht einmal ein eigenes Zimmer! »Aber wo machst du deine Schularbeiten?«
»Unten in der Küche halt. Oder im Bett. Manchmal auch in der Bahn.«
»Schimpft deine Mutter nicht, wenn du im Bett mit Tinte schreibst?«
Ida nickt heftig.
»Doch, natürlich. Aber ich tu es meistens am Abend, da merkt sie es nicht.«
Das kann Berta nicht begreifen. Schularbeiten müssen doch gleich nach der Schule erledigt werden, das ist im Hause Kahn ehernes Gesetz.
»Musst du nach der Schule immer in eurem Laden arbeiten?«, erkundigt sie sich mitleidig.
»Nicht immer. Da ist ja noch die Herta. Und meine Schwester Frieda arbeitet auch ab und zu im Laden. Dann mache ich, was ich will. Meistens lauf ich hinüber zum Killinger Hannes und reite auf dem Willibald.«
Sie muss Berta erklären, dass Willibald ein Hengst ist und dass er sie als Einzige in Dingelbach auf seinem Rücken reiten lässt. Und weil sie nun schon einmal in Fahrt ist, erzählt sie, wie sie im Frühjahr im Bach Krebse fängt, dass sie ein Baumhaus im Wald gebaut haben und dass Dingelbach der schönste Ort auf der Welt sei.
»Willst du immer dort bleiben?«, wundert sich Berta. »Das ist doch bloß ein Dorf.«
»Ich will schon in Dingelbach bleiben«, meint Ida. »Aber ich mache trotzdem das Abitur, und dann will ich studieren. Vielleicht werde ich Ärztin oder Rechtsanwältin. Oder ich gründe eine Schule, wo die Dorfkinder etwas Anständiges lernen können. Und was willst du einmal werden?«
Berta zögert mit der Antwort. Dann erklärt sie, dass sie eigentlich gerne Ärztin werden und in Afrika die kranken Kinder heilen möchte.
»Aber meine Mutter findet, dass ich nach dem Abitur erst einmal heiraten soll. Und danach wird es sich schon finden.«
Ida schüttelt den Kopf.
»Ich sag dir was, Berta«, meint sie. »Wenn du erst geheiratet hast, dann kriegst du Kinder, und dann ist es aus mit dem Studieren. Eine Ärztin wird dann dein Lebtag nicht aus dir.«
»Das glaub ich aber doch!«, sagt Berta ärgerlich.
Ida gefällt es, dass Berta so mutig ist. Aber es wird sicher nicht leicht für sie werden, weil sie immer ihren Eltern gehorchen muss.
»Wenn du das willst, dann schaffst du das auch, Berta«, meint sie zuversichtlich und fügt hinzu: »Ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät nach Hause.«
»Jetzt schon?«
Berta scheint beinahe traurig darüber zu sein. Sie wollte Ida noch das Puppentheater zeigen, das drüben im Zimmer ihres Bruders steht. Mit einer richtigen Bühne, Kulissen und Schauspielern, alles aus Pappe ausgeschnitten.
»Es war sehr teuer, wir dürfen nur damit spielen, wenn Mama oder Selma dabei sind. Weil Klaus immer alles kaputt macht.«
»Das nächste Mal«, entscheidet Ida. »Du musst jetzt sowieso gleich Schularbeiten machen, oder?«
»Ja. Und danach Klavier üben.«
Es klingt nicht sehr fröhlich. Vermutlich hasst Berta Schularbeiten und Klavierüben, weil da immer ihre Mama dabeisitzt und sie kontrolliert.
»Weißt du was?«, ruft sie. »Ich frag meine Mama, ob du einmal mit nach Dingelbach kommen darfst. Dann zeig ich dir den Willibald, und wenn der Bach zugefroren ist, laufen wir darauf mit Schlittschuhen.«
Berta hat tatsächlich sehnsüchtige Augen. »Wenn meine Eltern das erlauben … Ich würde dein Dingelbach schon gern einmal sehen.«
»Abgemacht«, sagt Ida und nickt entschlossen.
Dann gehen sie hinüber ins Speisezimmer, weil Ida sich von Bertas Eltern verabschieden und sich für die Einladung bedanken muss.
»Es war sehr schön, dich kennenzulernen, Ida«, sagt Bertas Vater und gibt ihr die Hand. »Ich hoffe, ihr beiden werdet von nun an Freundinnen sein.«
»Vielleicht«, erwidert Ida.
Sie geht zu Fuß zur Hauptwache, Geld für die Straßenbahn gibt sie nur selten aus. Während sie frierend von einem Fuß auf den anderen tritt und auf die Vorstadtbahn wartet, denkt sie, dass sie trotz des schönen Zimmers auf keinen Fall mit Berta tauschen würde. Weil die in einem goldenen Käfig sitzt wie ein gefangenes Vögelchen.