Kapitel 31

Sie hat ihm das Geständnis beim Morgenkaffee machen wollen. So ganz nebenbei, wenn sie gemütlich beieinandersitzen, sie noch im Morgenrock, er in seinem seidenen Pyjama. Auf sein überraschtes Gesicht war sie gespannt, auf seine glücklichen Augen. Dass er vom Stuhl aufspringen würde, um sie in seine Arme zu ziehen, lachend und scheltend, weil sie es ihm erst jetzt sagt.

Aber da ist sie wohl zu naiv gewesen. Ob er es schon gestern Abend gemerkt hat, weiß sie nicht. Sie erwacht davon, dass er mit zwei Fingern zart über ihre Wange streicht.

»Aufgewacht, mein Schatz?«, flüstert er. »Sag mir, wann unser Kind zur Welt kommt.«

»Was für ein Kind?«, stellt sie sich dumm.

Er lacht und lässt die Hand langsam und sanft über ihren Körper gleiten. Natürlich – ihr Bauch wölbt sich vor, wenn auch nicht sehr viel. Aber auch die Brüste sind voller geworden.

»Nun – deines und meines, wie ich hoffe«, scherzt er.

Sie schmollt und dreht sich auf die Seite. »Jetzt hast du mir die Überraschung verdorben!«

Sie erntet übermütiges Gelächter. Ja, er freut sich. Er ist ganz außer Rand und Band, umfasst sie, küsst sie, schüttelt sie und behauptet, sie sei eine ganz ausgefuchste Geheimniskrämerin.

»Du bist unmöglich, mein Schatz. Wann wolltest du es mir sagen? Drei Tage vor der Geburt? Ich gebe ja zu, dass ich in solchen Dingen nicht der Schlaueste bin, aber für ganz so dumm solltest du mich nicht halten.«

»Heute beim Frühstück wollte ich es dir sagen …«

»Tatsächlich? Vielleicht auch erst nächste Woche? Nach Weihnachten?«

»Nein, heute beim Frühstück!«

»Immerhin!«

Sie ist ein wenig enttäuscht, dass die nun folgende morgendliche Liebesbegegnung sehr sanft und behutsam ausfällt. Sie hat keineswegs das Gefühl, geschont werden zu müssen, weil sie ein Kind trägt, sondern im Gegenteil: Sie sehnt sich heftig nach seinen Liebkosungen. Schließlich ist heute Sonntag, und in der Fabrik wird nicht gearbeitet.

Später, als sie tatsächlich beim Kaminfeuer am Frühstückstisch sitzen, redet er viel und aufgeregt über alles, was nun unbedingt zu tun ist, und sie hört ihm lächelnd zu. Ja, er wird ein guter Vater sein, er ist jetzt schon höchst besorgt um Mutter und Kind und verlangt, dass sie zu einem Arzt gehen muss, um zu erfahren, ob »alles in Ordnung« ist. Er will sich nach einer guten Entbindungsklinik umschauen, und dann müssten ja auch die Formalitäten erledigt werden.

»Welche Formalitäten?«

»Hast du schon wieder vergessen, dass du mir gestern dein Jawort gegeben hast?«, fragt er stirnrunzelnd.

»Du hast es also ernst gemeint?«, provoziert sie ihn.

»Und wie ernst, mein Liebes! Leider kann ich dir keine kirchliche Hochzeit mit Brautkleid und Schleier bieten …«

»Das wäre in meinem Zustand wohl auch recht unpassend«, lacht sie.

»Ich kümmere mich als Erstes um das Aufgebot«, entscheidet er. »Wenn es dir recht ist, werden wir in Frankfurt heiraten. Wünschst du dir eine größere Hochzeitsfeier?«

Sie denkt an seine Familie und an ihren Bruder Josef. Großer Gott, nein, auf eine Familienfeier kann sie verzichten.

»Ach was, natürlich nicht. Je intimer, desto besser. Ich werde Carla bitten, meine Trauzeugin zu sein.«

Er wird einen guten Freund um diesen Gefallen ersuchen. Dann nennt er ihr Namen und Adresse eines »ganz hervorragenden« Gynäkologen in Frankfurt, den sie aufsuchen sollte, und bittet sie besorgt, sich in der Fabrik keinesfalls zu übernehmen.

Ilse lacht. »Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit, Richard. Sie ist ein ganz normaler Zustand für eine Frau. Ich fühle mich gut und kann arbeiten wie immer.«

Er lächelt skeptisch. »Trotzdem solltest du dich beizeiten nach jemandem umsehen, der dich – zumindest für eine kleine Weile – in der Fabrikleitung vertreten kann«, rät er ihr.

»Genau das habe ich auch vor.«

Langsam beginnt sie sein Aktivismus zu stören. Sie ist es nicht gewohnt, dass ihr Entscheidungen aus der Hand genommen werden. Na schön – er will sich um das Aufgebot kümmern. Er hat auch beschlossen, dass sie in Frankfurt heiraten werden. Auch das lässt sie sich gefallen. Aber in ihrer Fabrik bestimmt sie selbst, wie lange sie arbeitet und ob sie die Leitung für die Zeit der Geburt an einen Mitarbeiter übergeben will. Und dass er sie drängt, zu einem Gynäkologen zu gehen, gefällt ihr auch nicht. Sie hasst Ärzte und fragt sich, wozu sie untersucht werden soll, wo sie doch nicht krank, sondern nur schwanger ist.

Er beobachtet sie, schaut über die Kaffeetasse hinweg prüfend zu ihr hinüber. Zweifellos hat er ihren aufkommenden Unmut bemerkt.

»Versteh mich bitte nicht falsch, Liebling«, sagt er. »Ich will dir keine Vorschriften machen, ich weiß ja, dass du die Dinge am liebsten selber regelst. Es ist nur so, dass ich zum ersten Mal eine Familie gründe und der Ansicht bin, eine gewisse Verantwortung für Frau und Kind zu tragen.«

Sie entspannt sich. Vielleicht muss sie lernen, dass sie nicht mehr allein ist, dass da jemand an ihrer Seite ist, der es auf seine Art gut mit ihr meint. Ein Jemand, der sie liebt und auf Händen tragen will. Hat sie sich das als junges Mädchen nicht immer gewünscht?

Inzwischen sinniert er weiter und bringt die Sprache wieder auf ihr hinausgezögertes »Geständnis«.

»Ich fasse es immer noch nicht, Liebling. Wir haben doch telefoniert! Du hättest es mir auch schreiben können. Warum hast du solch ein Geheimnis darum gemacht?«

»Ich wollte es dir sagen, wenn wir miteinander allein sind, Richard. Dann, wenn der richtige Moment dazu gekommen war.«

Er seufzt tief und blickt sie mit seinen dunklen Augen an. Heiter, ironisch und etwas vorwurfsvoll.

»Ich verstehe«, sagt er leise. »Du wolltest mich nicht unter Druck setzen, nicht wahr? Was hättest du getan, wenn ich nicht zurückgekommen wäre?«

»Ich hätte das Kind allein großgezogen, Richard.«

»Und ich hätte niemals erfahren, dass wir ein gemeinsames Kind haben?«

Ungeduldig lehnt sie sich im Stuhl zurück und zupft an dem Morgenrock, der ihr zu eng geworden ist.

»Was stellst du denn für Fragen?«, beschwert sie sich. »Natürlich hättest du es irgendwann erfahren. Aber ich bin keine, die einen Mann mithilfe einer Schwangerschaft an sich bindet. Und auf Alimente kann ich verzichten.«

Er schweigt einen Moment, dann steht er auf und legt die Arme um sie. »Darum liebe ich dich, meine mutige, starke Frau«, flüstert er ihr ins Ohr. »Euch beide liebe ich, dich und unser Kind, von dem ich hoffe, dass es ein Mädchen werden wird.«

»Oh, ich hätte auch gegen einen Jungen nichts einzuwenden«, sagt sie lächelnd. »Aber er sollte dir ähnlich sehen, Liebster.«

Sie verbringen den Rest des Vormittags oben in seinem Atelier, unterhalten sich über alles Mögliche, auch die politische Situation in der Deutschen Republik ist ein Thema. Richard hält die Locarno-Verträge für einen wichtigen Schritt zu einem dauerhaften Frieden. Deutschland ist nun als verlässlicher Bündnispartner anerkannt, das schädliche Geschrei nach Rache und Vergeltung tritt in den Hintergrund, es sind Politiker mit klugem Weitblick am Werk.

»Es geht aufwärts, Ilse«, sagt er. »Unsere Wirtschaft hat sich erholt, die Arbeitslosigkeit ist rückläufig, die Werke und Fabriken arbeiten und prosperieren. Warum meine Familie gerade jetzt beschließt, die Geschäfte mehr und mehr in die Staaten zu verlagern, kann ich nicht nachvollziehen.«

»Nun – vermutlich sind dort größere Gewinne zu erzielen«, meint Ilse. »Man sagt ja, dass auch dort die Industrie einen großen Aufschwung erlebt und dass sogar der kleine Mann auf der Straße Aktien kauft und Dividenden einstreicht.«

Er macht eine abfällige Handbewegung. »Ich weiß nicht, ob ich das für eine gute Entwicklung halten soll«, meint er zweifelnd. »Der Aktienmarkt ist kein Spielplatz, auf dem sich jedermann unbefangen tummeln könnte. Man muss schon Erfahrungen haben und etwas von der Sache verstehen, um sich auf Dauer dort zu behaupten.«

Sie überlegt, wie wohl seine finanziellen Verhältnisse aussehen, nachdem er sich dem mütterlichen Wunsch so erfolgreich widersetzt hat. Hat sie ihn vielleicht gar enterbt? Getätigte Übereignungen rückgängig gemacht? Wird die Familie ihn aufs finanzielle Abstellgleis schieben? Aber sie fragt nicht. Sie will nicht aufdringlich sein; wenn er es für richtig hält, wird er es ihr schon mitteilen. Stattdessen ermutigt sie ihn, wieder zu malen, und erinnert ihn an einige Veranstaltungen, die er zwar geplant, aber bisher nicht durchgeführt hat. So drehen sich die Gespräche den Rest des Tages um verschiedene junge Künstler, um Vernissagen und Kammermusik, und auch die Szenische Lesung der Frankfurter Schauspielschüler kommt zur Sprache.

»Ich denke, es werden viele Leute aus dem Dorf daran Interesse haben«, überlegt sie. »Wäre es da nicht klüger, die Veranstaltung unten im Gasthof zu organisieren?«

»Vielleicht. Ich weiß allerdings nicht, ob sich meine Frankfurter Bekannten im Gasthof ›Zum Raben‹ so richtig heimisch fühlen würden …«

»Wohl eher nicht …«

Die Frage bleibt ungelöst, was die angeregte Stimmung keinesfalls stört. Man wird sich etwas einfallen lassen. Sie beschließen den Tag in glücklicher Harmonie, und erst als sie in seinen Armen einschläft, kommt ihr der ketzerische Gedanke, dass es vielleicht klug wäre, Fabrik und Villa in einem notariell abgesicherten Vertrag als ihren persönlichen Besitz festzuschreiben. Natürlich vertraut sie Richards geschäftlichem Geschick – aber als ihr Ehemann wird er automatisch Verwalter des gesamten ehelichen Vermögens, und damit würden Fabrik und Villa in einen eventuellen Konkurs seiner Familienbank mit einfließen.

Morgen früh spreche ich mit ihm darüber, denkt sie. Warum sollte er etwas dagegen haben?

Am Morgen ergibt sich jedoch keine Möglichkeit zu einem Gespräch, da sie wie gewohnt in aller Frühe aufsteht und es nicht übers Herz bringt, ihren friedlich schlafenden Liebsten zu wecken. Soll er ruhig ausschlafen, denkt sie und zieht fürsorglich die Decke über ihn. Er ist kein Morgenmensch, wir sehen uns später beim Mittagessen.

In der Fabrik schlägt die Arbeit über ihr zusammen. Neue Aufträge, Reklamationen, Rechnungen, die zu prüfen und zu zahlen sind. Zwei Maschinen sind defekt, der neue Maschinist Gerhard Klauer und Klaus-Peter Klein, der junge Mann, der Ingenieurwesen studiert hat, basteln gemeinsam mit Julius Offenbach daran herum, bisher ohne nennenswertes Ergebnis. Richard Bommel hat wieder einmal die Kisten, die zur Bahn gefahren werden müssen, durcheinandergebracht; drei davon müssen wieder zurückgestellt werden, da sie zu einer Lieferung gehören, die noch nicht vollständig ist. Ach, es ist ein Kreuz mit diesem Menschen, der nichts Vernünftiges zustande bringt und den sie nur aus Mitleid und wegen seiner Kriegsbeschädigung in der Fabrik beschäftigt. Wenn er sich wenigstens bemühen würde, seine Arbeit vernünftig und gewissenhaft durchzuführen! Aber er ist ein Tagträumer und lebt in der Vorstellung, dass die Fabrik sein Zuhause ist und seine Irrtümer verzeihlich sind.

Als sie um die Mittagszeit in die Villa geht, ist sie tatsächlich erschöpft und denkt daran, ein wenig Puder und Rouge zu benutzen, damit Richard seine Warnung nicht bestätigt sieht und sie bittet, in der Fabrik kürzerzutreten. Aber die Maßnahme stellt sich als überflüssig heraus, denn sie findet auf dem Mittagstisch einen Zettel vor.

Mein Liebling,

da Du mich heute früh fürsorglicherweise nicht geweckt hast, habe ich grandios verschlafen und bin ohne Frühstück unverzüglich nach Frankfurt gefahren, um dort einiges, was für uns beide von großer Wichtigkeit ist, in die Wege zu leiten.

Wir sehen uns heute Abend. Arbeite nicht zu viel, mein Schatz, und gönne Dir eine Mittagsruhe.

Dein Langschläfer

Obgleich sie enttäuscht ist, muss sie über seine Nachricht doch lächeln. Wollte er geweckt werden, um mit ihr gemeinsam zu frühstücken? Das wäre etwas ganz Neues und ungemein Rührendes. Wie viele unbekannte Seiten sie jetzt an ihm entdeckt! Ach, sie liebt ihn unendlich, und sie kann dem Himmel nur danken, der ihr solch einen wunderbaren Ehemann beschert hat.

Da sie das Mittagessen nun mit Carla einnimmt, eröffnet sie ihrer Angestellten, dass eine standesamtliche Trauung bevorsteht.

»Ich wollte dich fragen, ob du meine Trauzeugin sein möchtest, Carla.«

Carla fällt vor Überraschung fast der Suppenlöffel aus der Hand. Ganz starr ist sie und weiß kaum, was sie zu diesem Ansinnen sagen soll.

»Ach, du liebes Lieschen«, stammelt sie. »So eine große Ehre! Ich weiß ja gar net, ob ich mir das zutrau, Frau Küpper.«

»Liebe Carla«, sagt Ilse mit Herzlichkeit. »Wir kennen uns nun schon so viele Jahre, und ich bin der Ansicht, dass du genau die Richtige dafür bist. Im Übrigen ist es nur eine Formalität, du musst eine Unterschrift leisten, das ist alles.«

Sie erklärt, dass es keine große Hochzeitsfeier geben wird wie auf dem Dorf üblich, sondern eine kurze Zeremonie im Frankfurter Römer, danach wird man gemeinsam zu Mittag essen und wieder zurück nach Dingelbach fahren.

»Du lieber Gott – im Frankfurter Römer«, stöhnt Carla. »Und danach wollen Sie ganz sicher in ein feines Restaurant gehen. Was soll ich denn da anziehen? Da kann ich doch net in meinem schwarzen Gewand kommen, wo schon zwei Flecken drauf sind, die sich net wieder rauswaschen lassen …«

»Ein passendes Kleid, Mantel und Schuhe werde ich natürlich bezahlen …«

Auch diese Nachricht bringt Carla in Verlegenheit. Da müsste sie nach Königstein oder Oberursel fahren, aber in so ein »Konfektionshaus für Damen« mag sie nicht hineingehen, und »von der Stange« kaufen will sie auch nicht.

»Wo ich doch am Bauch und an den Hüften auseinandergegangen bin … Und die kurzen Röck, die die Frauen jetzt so tragen, das ist auch nix für mich … und dann müsst ich die Sachen ja anprobieren und mich auskleiden – nee –, das ist mir zu genierlich.«

Ilse ist erstaunt. Bisher hat sie Carla als eine praktisch denkende Person betrachtet, die stets alles im Griff hat. Jetzt muss sie einsehen, dass ihre Angestellte letztlich doch ein Dorfkind ist. Eine schwierige Angelegenheit. Sie hat bemerkt, dass die jüngeren Frauen im Dorf schon längst keine Tracht mehr tragen, sondern sich »modern« kleiden, was in Ilses Augen recht lächerlich aussieht. Sie sind halt unerfahren und lassen sich allerlei Gewänder aufschwatzen, die ihnen nicht stehen.

»Dann nimmst du halt deine Schwägerin mit und kaufst dir ein Kleid, das du auch später noch anziehen kannst, wenn einmal in der Familie ein Fest gefeiert wird. Etwas Schlichtes, aber Gediegenes, das dir gut steht und das auch passt.«

Carla nickt gehorsam, aber Ilse sieht ihr an, dass sie nicht recht überzeugt ist. Vermutlich wäre es besser, sie selbst würde Carla bei ihrem Einkauf begleiten, aber dazu fehlt ihr die Zeit.

Nach dem Mittagessen ist sie müde und denkt allen Ernstes darüber nach, sich eine kurze Ruhepause zu gönnen. Aber wenn sie sich jetzt hinlegt, wird sie vermutlich einschlafen, und einen längeren Mittagsschlaf kann sie sich nun wirklich nicht leisten.

In der Fabrik ist sie froh darüber, rechtzeitig wieder an Ort und Stelle zu sein, denn eine der beiden Maschinen läuft nun wieder, und sie muss die Produktion rasch umstellen, damit die dringenden Aufträge zuerst erledigt werden können. An der zweiten Maschine wird noch gebastelt; wie es scheint, sind die beiden neuen Mitarbeiter unterschiedlicher Meinung, wo der Fehler liegen könnte.

»Der versteht eine ganze Menge, der junge Ingenieur«, sagt Julius Offenbach zu ihr im Büro. »Wenn der sture Gerhard Klauer net immer widersprechen würd, könnten wir schon weiter sein.«

Aha! Das bestätigt ihren guten Blick und ihre Menschenkenntnis. Sie freut sich und nimmt die Gelegenheit wahr, Offenbach nach den Verhältnissen in dem vermieteten Haus zu fragen.

»Ja so …«, meint er etwas verlegen. »Ihre Schwägerin ist ja ein wenig anspruchsvoll, sie ist halt bessere Verhältnisse gewohnt, hat sie gesagt. Aber ich hab net das Geld, einen neuen Küchenherd für sie anzuschaffen, und ein WC wie in der Stadt kann ich ihr auch net einbauen lassen.«

»Das brauchen Sie auch nicht«, sagt Ilse ärgerlich. »Ich bin die Mieterin und nicht mein Bruder – daher hat meine Schwägerin an Sie keinerlei Forderungen zu stellen.«

»Das denk ich auch, Frau Küpper. Und vielen Dank auch.«

»Nichts zu danken.«

Es war vielleicht doch nicht ihre beste Idee, Josef ausgerechnet bei einem ihrer Arbeiter einzumieten. Vermutlich ist dies nicht die letzte Unverschämtheit ihrer Schwägerin, weiterer Ärger wird folgen, und sie kann nur hoffen, dass es nicht ihr Verhältnis zu Julius Offenbach trüben wird.

Am Nachmittag erhält sie unerwarteten Besuch. Ein Herr Kaldenbach aus Königstein bittet, sich kurz vorstellen zu dürfen, er habe in Dingelbach ein Anwesen erworben, sie seien also sozusagen Nachbarn.

»Verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit einfach so in Anspruch nehme«, entschuldigt er sich beim Eintreten. »Ich bin gerade unten im Dorf gewesen, um nach dem Rechten zu sehen, und da kam ich auf die Idee, rasch einmal vorbeizuschauen.«

Er ist um die fünfzig und geht in der Leibesmitte schon etwas auseinander, auch das Haar ist schütter, dennoch macht er einen tatkräftigen Eindruck.

»Ich freue mich sehr, Herr Kaldenbach. Nehmen Sie doch bitte Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Sehr gern«, meint er und knöpft das Jackett auf, bevor er sich setzt. »Bei diesem scheußlichen Wetter ist ein heißer Kaffee eine Wohltat. Ja, dieser kleine Bauernhof, den sein Besitzer offensichtlich arg heruntergewirtschaftet hat … Ich habe ihn für meine liebe Frau gekauft; sie stammt aus Hannover und ist das, was man gemeinhin eine ›Pferdenärrin‹ nennt.«

Ilse erfährt, dass auf dem ehemaligen Grossmannhof nun Vollblüter gezüchtet werden sollen und dass Herr Kaldenbach gewillt ist, weitere Weiden dazuzukaufen, falls sich die Gelegenheit ergibt. Seine Ehefrau ist gut zwanzig Jahre jünger, Kinder haben sich nicht eingestellt, und so ist er bereit, die Leidenschaft seiner Frau zu unterstützen. Er kann es sich leisten, da er in Königstein zwei Hotels besitzt, die »höchsten Ansprüchen genügen« und von sehr prominenten Gästen frequentiert werden.

Dann wird er vermutlich auch Frau Goldstein und andere Familienmitglieder kennen, denkt Ilse und beschließt, sich vorsichtig zu verhalten. Aber ihr Gast schlürft genüsslich seinen Kaffee, und was er ihr nun anvertraut, spricht unbedingt für ihn.

»Es ist wohl nicht so ganz einfach mit diesen Dörflern«, seufzt er. »Ich bin ja nun wirklich kein Unmensch und hab die Familie nicht vom Hof jagen wollen. Ein gutes Angebot hab ich ihnen gemacht, da wäre uns beiden geholfen gewesen: Ich hätte jemanden gehabt, der sich um den Hof kümmert, und der Herr Grossmann hätte nicht nach Frankfurt ziehen müssen. Aber er hat nicht gewollt. Aus irgendeinem dummen Stolz heraus wollte er wohl nicht Angestellter auf seinem ehemaligen Hof sein. Leid hat’s mir um die Kinder getan, vor allem um das Mädel, das wohl nicht recht gesund ist. Die wär hier auf dem Land besser aufgehoben als in Sachsenhausen gleich beim Schlachthof.«

Ilse erfährt, dass sich auf dem Grossmannhof momentan nur der alte Knecht Adam aufhält. Der hat Kaldenbach vorhin gebeten, ob nicht die Großmutter, ein gewisses Lenchen Grossmann, mit einziehen dürfe.

»Ich hab’s ihm erlaubt«, gesteht Kaldenbach. »Aber auf die Dauer ist das natürlich keine Lösung, weil die beiden alten Leutchen als Verwalter nicht zu gebrauchen sind. Wissen Sie, meine Frau wird ja nur zum Reiten hinfahren, da muss jemand hin, der den Laden schmeißt und sich um alles kümmert. Ich hab schon einmal ein Gespräch mit Ihrem Herrn Bruder darüber geführt …«

Ilse traut ihren Ohren nicht. Man kennt sich. Ihr Bruder Josef hat vollmundig behauptet, das Hotel »Zur Krone« in Königstein nur verkauft zu haben, weil seine Frau gesundheitlich angeschlagen sei und ihr die Arbeit zu viel geworden sei. Er habe daher beschlossen, in »seine« Villa nach Dingelbach zu ziehen, wo er Anteile an einer Fabrik besäße.

»Ich hab mir gedacht, dass Ihr Bruder vielleicht Lust hätte, die Umbauten zu leiten und den Hof zu verwalten. Er liebt Pferde über alles, hat er mir erzählt, das würde doch recht gut passen.«

Ilse fragt sich, ob Kaldenbach nur naiv ist oder ob er einen Hintergedanken dabei hat. Der Konkurs und die Versteigerung des »Hotel Krone« müssen doch in Königstein die Runde gemacht haben, wie kann er dann auf Josefs unglaubliche Lügen hereinfallen? Auf jeden Fall fühlt sie sich genötigt, klare Worte zu sprechen.

»Davon kann ich Ihnen nur dringend abraten, Herr Kaldenbach«, sagt sie mit Nachdruck. »Im Übrigen hat mein Bruder Sie falsch informiert. Weder besitzt er diese Villa noch Anteile an meiner Fabrik, und er wird auch nicht hierherziehen.«

»Ach!«, sagt Kaldenbach und schaut sie mit großen Augen an. »Das erstaunt mich aber sehr. Dann nehmen Sie es mir bitte nicht übel; wie es aussieht, war ich falsch informiert.«

»So ist es, Herr Kaldenbach. Als Hofverwalter sollten Sie auf jeden Fall einen tüchtigen Menschen einstellen, der Erfahrung mit Pferden hat. Da bin ich gern bereit, mich umzuhören, wenn es Ihnen recht ist.«

Er bedankt sich höflich und beeilt sich, das Thema zu wechseln. Die Werbebroschüre ihrer Fabrik sei auch ihm ins Haus geflattert, vor allem die Etageren seien sehr ansprechend, auch einige der netten geschnitzten Kleinmöbel hätte er im Visier. In den kommenden Tagen würde er gern darauf zurückkommen. Dann erklärt er, ihre Zeit nun lange genug in Anspruch genommen zu haben, und verabschiedet sich. Durchs Fenster kann sie sehen, wie er noch ein Weilchen im Hof steht und die Fabrikgebäude interessiert betrachtet, dann schaut er hinüber zu ihrer Villa und schüttelt den Kopf. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht sie. Wie kommt Josef dazu, solche dreisten Lügen zu verbreiten? Es ist nicht nur unsinnig, sondern es könnte sich auch negativ auf ihre Geschäfte auswirken, wenn solche Gerüchte die Runde machen.

Ach, was macht sie sich Sorgen. Es ist nichts als ein kleiner Wermutstropfen in der übervollen Schale ihres Glücks. Wie zur Bestätigung wird ihr jetzt gemeldet, dass auch die zweite Maschine wieder arbeitet, und sie eilt hinüber in die Werkshalle, um sich selbst davon zu überzeugen.

»Ausgezeichnete Arbeit«, lobt sie sowohl den Maschinenschlosser Klauer als auch Klaus-Peter Klein. »Jetzt müssen wir Volldampf machen, um den Rückstand aufzuholen.«

Überstunden sind für mehrere Arbeiter angesagt; auch sie selbst bleibt länger, fasst mit an, wo es nötig ist. Erst nach neun Uhr machen sie Feierabend, sie schließt selbst ab und geht dann müde, aber zufrieden hinüber in die Villa, um erst einmal ein Bad zu nehmen. Bevor sie frisch angekleidet und mit ein wenig Rouge auf den Wangen hinauf ins Atelier geht, nimmt sie noch rasch die Post von der Kommode und schaut sie kurz durch. Ein Brief von einem Anwalt. Was will der denn? Sie kennt den Namen, Dr. Alfons Reutter hat früher ihren Vater in Gerichtssachen vertreten. Dieses müsste der Sohn sein, denn der Vater wäre jetzt hoch in den Achtzigern. Sie reißt den Umschlag auf und liest hastig, während sie die Treppe hinaufgeht.

Sehr geehrte Frau Küpper,

in meiner Eigenschaft als Rechtsbeistand Ihres Bruders Josef Küpper teile ich Ihnen mit, dass wir beabsichtigen, den notariellen Vertrag über die Erbteilung nach Ableben Ihrer Eltern als sittenwidrig anzufechten. Ihr Herr Bruder versichert, sich zu dieser Zeit in einer Notlage befunden haben, die ihn zwang, auf Ihre überhöhten Forderungen einzugehen.

Bevor wir gerichtliche Schritte unternehmen, bieten wir Ihnen die Möglichkeit einer gütlichen Einigung an, die für beide Teile im Allgemeinen günstiger und mit weniger Aufwand verbunden ist. Ihr Bruder wünscht sowohl am Besitz der elterlichen Villa als auch an der Fabrik Pilz & Küpper zu jeweils 60 % beteiligt zu werden.

Hochachtungsvoll

Alfons Reutter

Rechtsanwalt und Notar