Kapitel 32
Es ist vorbei mit ihr. Jetzt liegt sie schon den dritten Tag im Bett und kann kaum mehr den Kopf heben vor Mattigkeit.
Es hat angefangen, als sie von der Hohemark zurück nach Dingelbach gefahren ist. Da hat die Hoffnungslosigkeit sie schon gepackt, und sie hat fürchterlich gefroren. Den Weg vom Bahnhof hinunter ins Dorf hat sie nur mit Mühe geschafft, und in der Nacht hat sie so schlimm gefiebert, dass sie geglaubt hat, verbrennen zu müssen. Dazu ist in ihrem Kopf immer das Rattern und Schleifen der Vorstadtbahn gewesen, das Geschwätz der Leute, die mitgefahren sind, die Stimme des Schaffners, der die Haltestellen angesagt hat. Manchmal hat sie in ihrem Fieberwahn gedacht, noch in der Bahn zu sitzen, dann wieder glaubte sie, in irgendeiner Ortschaft herumzulaufen und die Leute auszufragen.
»Mittelgroß, dunkles Haar, ein Bündel über der Schulter. Oskar Michalski heißt er. Vor zwei Wochen ist er mit der Vorstadtbahn in Richtung Taunus gefahren. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?«
Auch die Antworten, die sie bekommen hat, schienen von den Wänden ihrer Kammer widerzuhallen.
»Ist der dir fortgelaufe?«
»So aaner, den musste festbinde, Mädsche. Sonst kriegste den net widder.«
»Da frag einmal de Gunder, der macht jeden Tag ruff nach Frankfort.«
»Von der Sort da laufe Hunderte herum.«
»Willst dich aufwärme, Mädsche? Da komm, ich weiß e gemietlich Plätzsche.«
Am Morgen ist sie ein wenig eingeschlummert, aber da hat sie das laute Klopfen der Karin Guckes an ihrer Kammertür geweckt.
»Was sind denn das für neue Moden?«, hat die Karin gekreischt. »Die Gläser müssen gespült werden, und der Gastraum ist noch net gewischt. Steh endlich auf, du faules Stück!«
»Ich komm schon …«, hat sie gekrächzt.
Aber als sie aus dem Bett steigen wollte, hat sie gemerkt, dass der kleine Raum sich um sie dreht, und sie hat sich wieder hinlegen müssen. Eine ganze Weile schienen Fenster und Schrank in wilder Eile an ihr vorbeizufliegen, und ihr Herz hat so rasch geschlagen, als wäre sie dreimal um das ganze Dorf gerannt. Erst nach einer Weile hat sie sich getraut, einen zweiten Versuch zu wagen. Da ist ihr nicht mehr schwindelig gewesen, aber sie war so kraftlos wie noch nie in ihrem Leben. Allein das Kleid und die Schuhe anzuziehen, ist eine schier übermenschliche Anstrengung gewesen, und als sie langsam die Treppe hinuntergestiegen ist, haben ihr die Beine gezittert, sodass sie sich an der Wand hat festhalten müssen.
»Ich bin krank«, hat sie in der Küche verkündet. »Hab mich wohl erkältet …«
Mitgefühl hat sie nicht geerntet. Die Karin Guckes hat schrill aufgelacht und gemeint, das wär ja wohl fällig gewesen, wenn eine jeden Tag hoch zum Bahnhof rennt und wie eine Verrückte durch die Gegend fährt.
»Erst hast den Oskar net haben wollen, und jetzt läufste dem hinterher wie eine rossige Stute. Steckst mir die Kinder noch an mit deiner Rotznase. Geh hoch in deine Kammer und schau, dass du klug wirst und arbeiten kannst.«
Helga ist die Bosheit der Guckes Karin gewöhnt, darum hat sie kaum hingehört. Sie hat sich einen Krug mit Wasser genommen und ihn die Treppe hochgetragen, aber in der Mitte der Treppe hat sie den Krug absetzen müssen, weil ihr die Kraft ausgegangen ist. In Schweiß gebadet, ist sie oben auf ihr Bett gesunken, hat gierig ein paar Schlucke Wasser getrunken, und dann hat sie gelegen wie ein Stein. Der Kopf war dumpf, der Körper wie von einem schweren Mühlstein auf das Lager gepresst. Der Tag ist an ihr vorübergezogen, ohne dass sie es gemerkt hat, nur hin und wieder hat sie die Stimmen der Kinder oder das Geschrei der Karin vernommen, und am Abend drangen die Geräusche der Zecher aus der Gaststube zu ihr hinauf. Aber das ist ihr gleichgültig gewesen. In der Nacht hat sie wach gelegen, in die Dunkelheit geschaut und immer gemeint, sie müsse sich an etwas Wichtiges erinnern. Aber in ihrem Kopf ist es auf einmal leer gewesen. Dann ist am Morgen wieder die Karin in ihre Kammer gekommen und hat sie am Arm gerüttelt.
»Was liegst denn da wie hingemäht? Steht auf und geh an deine Arbeit! Sonst ist’s aus mit dem Zimmer hier im Gasthof, dann kannst du schauen, wo du unterkommst!«
Als sie sich nicht gerührt hat, ist die Karin wieder hinuntergelaufen. Danach ist sie sich nicht mehr sicher gewesen, ob die Karin wirklich bei ihr war oder ob sie es nur geträumt hat. Aber dann, am Abend, ist sie endlich eingeschlafen, und als sie am Morgen aufgewacht ist, hat sie sich erinnert, was an dem Tag geschehen ist, als sie krank wurde. Und da hat sie gewusst, dass es nun keine Hoffnung mehr gibt.
Tagelang ist sie mit der Vorstadtbahn gefahren, hat jeden Schaffner befragt, die Mitfahrer ausgehorcht und ist bei jeder Haltestelle ausgestiegen, um nach Oskar zu forschen. Sie ist in die Dörfer gegangen, hat sogar in den Höfen gefragt, wenn sie dort jemanden gesehen hat. Am letzten Tag ist sie in Oberursel am Bahnhof herumgelaufen, dann hat sie in der Stadt in einigen Geschäften gefragt, wo er vielleicht Lebensmittel eingekauft hat, und schließlich ist sie noch in zwei Gasthöfen vorstellig geworden. Aber außer verständnislosem Kopfschütteln und dummen Sprüchen hat sie nichts erreicht. Es ist schon dunkel gewesen, da ist sie noch bis Hohemark gefahren und hat unterwegs die wenigen Mitfahrer ausgehorcht. Und dann, als sie schon hat aufgeben wollen, da hat plötzlich der Zugschaffner gemeint: »Den Michalski Oskar – den hab ich gut gekannt. Der hat immer in der Eisenwarenhandlung von meinem Bruder die Schrauben für die Fabrik Pilz & Küpper gekauft. Ja, den hab ich vor ein paar Wochen hier im Zug gesehen. Ein Bündel hat er bei sich gehabt, und da hab ich ihn gefragt, ob er denn fortmachen will.«
Sie ist ganz atemlos gewesen, so unwirklich schien es ihr, dass sie endlich eine Spur gefunden hat.
»Und was hat er geantwortet?«
»Dass er Luftveränderung braucht.«
»Und … hat er auch gesagt, wohin er will?«
»Ja«, hat der Schaffner gemeint und dabei gelacht. »Immer der Nase nach.«
In Hohemark ist Oskar ausgestiegen, weil dort die Endstation der Vorstadtbahn ist. Von dort aus ist er wohl zu Fuß weiter, aber vielleicht hat ihn auch ein Pferdefuhrwerk mitgenommen. In den Taunus hinein. Der Nase nach.
Da hat sie ihn also gefunden und doch gleich wieder verloren. Er ist in den Taunus hinein, aber vielleicht auch schon längst weiter, hinauf in den Norden, hinunter in den Süden oder gar hinüber nach Frankreich. Dort wird ihn auch der Sirius Engelke nicht treffen, der ihr halbherzig versprochen hat, sich umzuhören, aber seitdem nicht mehr in Dingelbach aufgetaucht ist.
Wie die Karin Guckes kurz darauf wieder in ihre Kammer kommt, da glaubt sie, wieder beschimpft zu werden, und dreht sich zur Wand. Aber die Karin ist ungewöhnlich sanft.
»Da trink einmal einen Kaffee und iss einen Wecken«, hört sie sie sagen. »Damit du wieder auf die Füß kommst. Liegst ja da wie der leibhaftige Tod.«
Dass ihr die Karin etwas zu essen und sogar einen Kaffee bringt, ist ein wahres Wunder. Gewiss tut sie das nicht aus freien Stücken, sondern weil sonst im Dorf geredet würde, sie hätte eine Kranke verhungern lassen.
»Dankschön …«, murmelt Helga zur Zimmerdecke hinauf.
»Und dann kommste runter in die Küch. Brauch dich zum Kartoffelschälen. Das wirste ja wohl zustande bringen, wie?«
Gar nichts bringt sie zustande. Ein Zentnergewicht liegt auf ihr, sie wird Oskar nicht wiedersehen, sie hat ihn verloren, es ist unmöglich, ihn zu finden. Wieso hat sie geglaubt, sie könnte ihr Schicksal in die Hand nehmen und alles wiedergutmachen, was sie versäumt hat? Es geht nicht, sie kann bis ans Ende der Welt laufen, dreimal um den Erdball, und sie wird ihn doch immer wieder verpassen. Am besten bleibt sie hier liegen und wartet auf den Tod.
Gegen Mittag klopft es an ihrer Kammertür, aber sie gibt keine Antwort. Sie will niemanden sehen, mit niemandem reden, sie will nur sterben.
»Helga?«
Marthe Haller öffnet leise die Tür, bleibt einen Moment an der Schwelle stehen, dann kommt sie herein und beugt sich über das Bett.
»Was ist mit dir? Hast du Fieber?«
Nein, sie hat kein Fieber. Sie fühlt sich nur sterbenselend und will nicht mehr leben.
»Lass mich in Ruh«, murmelt sie.
Doch Marthe hat anderes im Sinn. Sie reißt das Fenster auf und lässt die kalte, frische Winterluft in die Kammer. Dann nimmt sie die Tasse mit dem Milchkaffee und hält sie Helga vor die Nase.
»Das trinkst du jetzt aus. Und mach mir nix vor. Mit Simulanten kenn ich mich aus, das kannste mir glauben. Setz dich auf!«
Helga gehorcht widerwillig. Die frische Luft wirkt belebend auf ihre Lunge, und Marthes ungewohnt energische Rede tut ein Übriges. Sie nimmt ein paar Schlucke von dem kalten Kaffee und verzieht das Gesicht.
»Das wird ausgetrunken«, befiehlt Marthe unerbittlich. »Und den trockenen Wecken tunkst du ein, dann kannst du ihn essen. Ich geh net weg von hier, bis du das verputzt hast.«
»Mach das Fenster zu, ich friere!«
»Deine stinkerte Bude muss gelüftet werden, sonst erstickt man ja hier drin!«
Helga tunkt den Wecken ein und stellt nach ein paar Bissen fest, dass es nicht so widerlich schmeckt, wie sie zunächst glaubte. Marthe beobachtet sie dabei scharf und scheint nicht im Sinn zu haben, die unglückliche Freundin zu trösten, wie sie es sonst immer tut. Ganz im Gegenteil, Marthe Haller zeigt heute Eigenschaften, die Helga sehr an deren Tochter Ida erinnern.
»Bist tagelang gegen die Wand gerannt wie der Hammel im Stall«, schimpft sie. »Hast du denn wirklich geglaubt, den Oskar zurückholen zu können? Der ist auf und davon, und ob er wiederkommt, das weiß nur er selber.«
Dann bekommt sie zu hören, dass auch Marthe nach dem Krieg allein dagestanden ist, dass sie um ihren Albert viel geweint hat und immer noch gehofft hat, er könnte zurückkommen.
»Aber ich hab mich net hänge lasse. Weil da Leut waren, für die hab ich sorgen müssen …«
Helga schluckt den Rest vom Wecken herunter und trinkt den Kaffee aus. Jetzt regt sich bei ihr langsam der Widerstand.
»Für wen sollt ich denn sorgen?«, muckt sie auf. »Der Heini braucht mich net, hat er gesagt. Und die Mutter kommt auch ohne mich zurecht.«
»Das glaubst auch nur du!«
Marthe schließt das Fenster mit festen Handgriffen und dreht sich dann zu Helga um.
»Auf dem Grossmannhof ist deine Mutter. Beim Adam. Es fehlt ihnen an allem, weil die Grossmanns fort sind und der neue Besitzer sich net kümmert. Der Schorsch hat ihnen zwei Schubkarren Kohle gebracht, damit sie net erfrieren. Und der Alberti Rudolf ist mit einem Sack Kartoffeln gekommen.«
Staunend vernimmt Helga, dass sogar die Ursula Dönges, die selber so wenig hat, den beiden alten Leuten ein Brot und ein Fässchen mit Kraut gespendet hat. Und Marthe hat Malzkaffee, Butter und Mehl aus ihrem Lager hinübergetragen.
»So steht’s um die Anni und den Adam. Da könntest du ruhig einmal hingehen und dich nützlich machen, anstatt dem Oskar hinterherzulaufen. Und was den Heini betrifft …«
Helga hält sich die Ohren zu. Aber es hilft nicht viel, weil Marthe so laut redet, dass sie es trotzdem hört.
»Der hat kein leichtes Leben auf dem Schützhof, wo jetzt die Stiefmutter das Sagen hat. Haste noch net gehört, was das für eine ist, die sich dein verflossener Eheherr ans Bein gebunden hat? Das ganze Dorf redet über die.«
Helga weiß nur, dass sich der Guckes Jörg schrecklich geärgert hat, weil die Hochzeit nicht im »Raben« gefeiert wurde. Aber das hat sie nur zufällig gehört, wie sie hoch in ihre Kammer gelaufen ist, um so rasch wie möglich das Kleid für die Ida zu nähen. Am Sonntag ist die Marie Schütz dann in der Kirche gewesen. Da hat Helga sie nur aus der Ferne gesehen, weil sie ja ganz hinten beim Gesinde und den armen Leuten hocken muss und ihr die Sicht verstellt war. Aber sie hat bemerkt, dass die neue Schützbäuerin jung und schön ist und dass ihr Bub, der Heini, bei ihr sitzt und sie freundlich zu ihm ist. Es ist schmerzlich für sie gewesen. Darum braucht er mich net, hat sie gedacht. Die schöne Stiefmutter hat mir die Liebe meines Buben gestohlen.
»Was reden sie denn über die?«
»Hochmütig ist sie und wirft mit dem Geld um sich«, berichtet Marthe. »Die kommt net selber, um im Laden einzukaufen, die schickt ihre Dienstmagd, die Gretel. Ein armes Ding ist’s, noch recht jung und ganz verschüchtert. Aus Heringsdorf hat sie sie geholt. Die muss alle Arbeit im Haus und im Stall verrichten, weil die Hofbäuerin zu faul dazu ist.«
»Und … der Heini hat’s net gut bei ihr?«
»Die Dippel Lore hat mit dem Knecht vom Schützbauern, dem Hannes, geredet. Der hat gesagt, dass die neue Hofbäuerin nach außen hin sanft mit dem Heini täte, weil sie sich als die Frau Bürgermeister beliebt machen will. Aber daheim muss er arbeiten wie ein Knecht und kriegt nur böse Worte zu hören.«
Helga ist wie vor den Kopf geschlagen. Wenn der Heini so schlimm dran ist, warum sagt er dann, dass er sie net braucht?
»Weil er einen dummen Stolz und einen Dickkopf hat«, erklärt Marthe mitleidslos. »Das hat er von seinem Vater geerbt. Aber da darfst du dich net ins Bockshorn jagen lassen. Der braucht dich, dein Bub. Lass den Oskar laufen, sag ich dir, und pack das Leben da an, wo es nötig ist.«
Marthe muss einmal tief durchatmen, weil sie sich so in Rage geredet hat, dann erklärt sie, nun hinüber in den Laden zu müssen, weil die Ida dort allein ist und die Herta nicht arbeiten will.
»Allweil die Zucht mit den sturen Weibsbildern«, schimpft sie. »Schau mich net an wie vom Himmel gefallen! Red einmal mit dem Lehrer Hohnermann. Der hat heut eine Menge Süßigkeiten eingekauft. Weil er morgen mit dem Heini nach Frankfurt fährt, um den Kurt und die Julia zum Advent zu bescheren.«
Weg ist sie, und Helga sitzt wie betäubt in ihrem Bett. Nie hat ihre Freundin Marthe so grob und ohne Mitgefühl zu ihr geredet. Respektlos ist sie gewesen. Hat sich vor ihr aufgespielt, als sei sie eine ihrer Töchter. Helga spürt eine warme, belebende Empörung in sich aufsteigen. Nein, so lässt sie sich nicht behandeln. Es hält sie nicht mehr im Bett, sie steht auf, und weil sie nun schon einmal auf den Füßen steht, wäscht sie sich, kleidet sich frisch an und kämmt sich das Haar.
So ist das also, denkt sie. Mit dem Lehrer Hohnermann fährt der Heini nach Frankfurt zur Julia. Kein Sterbenswörtchen hat man mir davon gesagt. Aber ich werd ihnen schon zeigen, dass ich mich net zur Seite schieben lasse. Ein Geschenk für die Julia, das bring ich auch zustande. Das gebe ich dem Lehrer Hohnermann mit, damit der Heini sieht, dass seine Mutter etwas schaffen kann, was nützlich und gut ist.
Auf einmal ist alle Mattigkeit verflogen. Sie hat noch den Rest Stoff von Idas Kleid, das ist ein feiner Wollstoff, daraus kann sie leicht ein hübsches Kleidchen für Julia nähen. Sie macht sich gleich ans Zuschneiden; lange Ärmel braucht das Mädel im Winter, ein kleiner Kragen macht sich auch gut, und wenn sie geschickt zuschneidet, bleibt noch ein schmaler Streifen, den sie als Rüsche unten an den Rock setzen kann. Zusammengenäht sind die Teile schnell, nur das Versäubern und die Knöpfe mit den Knopflöchern brauchen ihre Zeit. Das ist nicht zu ändern, es soll ordentlich genäht sein, da legt sie ihre Ehre hinein. Die Nähmaschine rattert, die Nähte sitzen, die Arbeit macht ihr Freude. Es dauert nicht lange, da steigt die Karin Guckes schon wieder zu ihr hinauf.
»Bist ja wieder gesund«, sagt sie. »Ich hab mir schon gedacht, dass das alles nur Theater gewesen ist. Aber nähen brauchst du jetzt net. Unten in der Küche müssen die Zwibbele und das Dörrfleisch geschnitten werden für den Kartoffelsalat. Der Männergesangsverein hat heut seine Weihnachtsfeier.«
Helga sieht nicht von der Arbeit auf; gerade jetzt hat sie eine schwierige Naht, da muss sie aufpassen, sonst kann sie gleich wieder trennen.
»Hab keine Zeit. Hast ja zwei Töchter, die können die Zwibbele schneiden!«
»Wie schwätzt du denn mit mir, du verkommene Person?«, faucht die Karin. »Gleich stehst du auf und gehst mit mir in die Küche. Sonst kannst du dir eine andere Bleibe suchen.«
»Gut!«, gibt Helga trotzig zurück und tritt fleißig die Nähmaschine an.
Der Karin verschlägt es die Sprache bei so viel Frechheit. Sie stemmt die Arme in die Seiten und starrt Helga an, ob die sich nicht besinnen will. Da sie dazu aber keine Miene macht, lässt die Karin die Arme wieder sinken und streicht ihre Schürze glatt.
»Alsdann«, sagt sie giftig. »Jetzt ist endgültig Schluss mit dem Mitleid und der Gutherzigkeit. Nach Weihnachten ziehst du hier aus. Basta!«
Damit knallt sie die Tür von außen zu und stampft die Treppe hinunter. Helga schneidet die Fäden ab und besieht sich die Naht – sie sitzt richtig, dann kann sie jetzt versäubern und mit den Knopflöchern beginnen. Bis zum Abend wird sie nicht mehr fertig werden, aber sie wird die Nacht dranhängen und das Kleid gleich morgen früh noch vor Schulbeginn hinüber zu Lehrer Hohnermann bringen. Mit einem lieben Gruß von ihr an die Julia und an ihre Eltern und guten Wünschen für eine gesegnete Adventszeit.
Während sie weiterarbeitet, kann sie hören, wie unten in der Küche laut geschimpft wird. Vor allem die Stimme der Karin Guckes dringt unangenehm an ihre Ohren. Hinauswerfen will sie sie. Soll sie es doch tun, sie findet schon ein Plätzchen, wo sie unterkommen kann. Dann wird die Guckes Karin sich umschauen, weil sie die Gläser wieder selber spülen und den Gastraum wischen muss. Und ihre Kartoffeln kann sie auch alleine schälen. Von wegen Mitleid und Gutherzigkeit. Ausgenutzt hat sie sie. Die Ida hat’s auch gesagt. Überhaupt ist die Ida ein kluges Mädel. Und mutig ist sie. Da kann sich so manche im Dorf eine Scheibe abschneiden. Sie selber auch. Sie selber am allermeisten.
Dann geht auf einmal das elektrische Licht aus, und sie sitzt im Dunklen. Was ist los? Das Deckenlicht geht nicht, die Lampe auf ihrem Tisch ist auch erloschen. Aber unten in der Küche ist Licht, das kann sie am Fenster sehen, weil der Schein in den Garten dringt. So eine Gemeinheit, die Karin hat ihr den Strom abgedreht. Bei Kerzenschein muss sie die Arbeit fortsetzen, während von unten jetzt die Lieder der »Concordia 1860« schwülstig zu ihr heraufdringen.
»Wer hat dich, du schöner Wald …«
Nun geht es mühsamer mit dem Nähen voran, und bald schmerzen ihr die Augen von der schwachen Beleuchtung. Sie sticht sich zweimal in den Finger, aber sie gibt nicht auf. Erst weit nach Mitternacht ist sie fertig, prüft noch einmal genau, ob alle Fäden ordentlich verwahrt sind, dann faltet sie das Kleid zusammen und bindet ein hübsches Band darum. Aufatmend setzt sie sich auf ihr Bett und stellt fest, dass sie einen fürchterlichen Hunger hat. Unten ist jetzt alles still, die Sänger sind abgezogen, auch in der Küche ist kein Licht mehr, die Karin und ihre Familie sind zu Bett gegangen. Leise geht sie aus der Kammer und steigt die Treppe hinunter. Der Geruch von Kartoffelsalat und Hausmacher Blut- und Leberwurst hängt noch in der Luft, gemischt mit den Bier- und Äpplerdünsten aus der Gaststube. In der Küche tastet sie sich zur Speisekammer und findet einen Topf, in dem die Karin einen Rest Kartoffelsalat und drei Leberwürste verwahrt hat. Den nimmt sie mit hinauf, hockt sich damit auf ihr Bett und isst ihn genüsslich leer. So, darauf hat sie Anspruch, dafür hat die Karin heute das Geld für den elektrischen Strom in ihrer Kammer gespart.
Satt und müde macht sie sich nachtfertig, und als sie sich niederlegt, kann sie nicht mehr verstehen, dass sie noch heute Mittag ans Sterben gedacht hat.
Das hätt er nicht mit mir machen dürfen, der Oskar, denkt sie und klopft sich das Federbett zurecht. Erst stellt er mir ein Ultimatum, und dann geht er ohne Abschied einfach davon. Hätte er mir net wenigstens ein paar Worte sagen oder einen Brief schreiben können? Nein, das war nicht anständig von ihm. Soll er gehen, wohin er will, ich lauf ihm net mehr nach.
Der Zorn tut ihr wohl, auch wenn er den Schmerz in ihrem Inneren nicht ganz verdecken kann. Sie wird Oskar nicht wiedersehen, er liebt sie nicht mehr, er sucht sein Glück anderswo. Das ist bitter, aber sie muss es nehmen, wie es ist.
Morgen bring ich das Kleid zum Hohnermann, macht sie sich Mut. Und danach schau ich gleich auf dem Grossmannhof vorbei. Wenn der Otto oder seine hochnäsige neue Frau mich am Schützhof vorbeigehen sehen, ist mir das auch gleich. Die haben mir gar nix zu sagen.