Kapitel 34
Heute ist der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien. Ida fragt sich, wozu sie überhaupt nach Frankfurt fahren soll, denn sie haben nur drei Stunden Unterricht, und lernen tun sie sowieso nichts mehr. Es werden bloß Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen, und in der dritten Stunde müssen sie alle in die Aula. Da hält die Frau Direktor ihre Weihnachtsansprache, einige Schülerinnen spielen etwas auf dem Klavier vor, andere müssen Gedichte aufsagen. Danach geht es zurück in die Klasse, und die Zeugnisse werden ausgeteilt. Da wird es wohl wieder Tränen geben, weil schlechte Noten vor Weihnachten für ihre Mitschülerinnen schlimm sind. Manche Eltern haben sogar gedroht, es gäbe keine Weihnachtsgeschenke, wenn das Zeugnis nicht gut ausfällt oder wenn darin womöglich steht, dass die Versetzung gefährdet ist.
Ida ist ihr Zeugnis herzlich gleichgültig. Sie weiß, dass sie in allen Fächern gute Noten bekommt, aber in »Betragen« nur ein »Genügend« erhalten wird. Und wenn schon. Es kümmert sich sowieso keiner um ihr Zeugnis, höchstens, dass Frieda es sehen will, aber die Mutter hat es immer unterschrieben, ohne auch nur hinzuschauen, welche Noten die Tochter hat. Ja, die Großmutter, die würde sich schon dafür interessieren und wohl auch Lob spenden. Aber zu der geht Ida nur noch selten. Und schon gar nicht, um ihr Zeugnis vorzuzeigen und am Ende schon wieder einen Stoff geschenkt zu bekommen, damit sie sich etwas »Anständiges« zum Anziehen nähen lässt.
Seitdem sie bei Berta Kahn zu Besuch gewesen ist, hat sie viel nachgedacht und dann beschlossen, ab jetzt freundlich zu ihr zu sein. Berta hat es halt nicht leicht mit ihren strengen Eltern, die ihr keine einzige unbewachte Minute gönnen. Da ist ihr die eigene Mutter schon lieber, die schaut nur drauf, dass sie im Laden mitarbeitet, aber sie muss nicht bei Tisch gerade sitzen oder jeden Tag Klavier üben, und die Hausaufgaben kontrolliert die Mama auch nicht.
Auch Berta scheint es sich überlegt zu haben, denn sie geht jetzt in der Pause öfter zu Ida hinüber und fragt, ob bei ihr im Dorf viel Schnee läge. Ob sie schon auf dem Bach Schlittschuh gefahren sei. Manchmal fragt sie auch nach Frieda, weil sie wohl erfahren hat, dass Idas Schwester auf die Schauspielschule geht.
»Kennt sie dann auch den Toni Impekoven? Und die Elisabeth Bergner?«
»Na klar. Die laufen da doch alle im Schauspielhaus herum.«
»Ohhh!«
Es stellt sich heraus, dass Berta oft mit ihren Eltern in die Oper oder ins Schauspielhaus geht. Der Toni Impekoven ist ihr ganz besonderer Liebling, sie hat sich ein Autogramm von ihm geben lassen, das sie liebevoll in ihrem Schreibtisch aufbewahrt. In einem Umschlag, den sie mit Rosen und Veilchen bemalt hat. Ida verkneift sich ein Grinsen, weil sie Berta nicht verletzen will, und beißt herzhaft in ihr Pausenbrot. Dann erzählt sie, dass sie daheim leider keinen Ort hat, an dem sie etwas sicher unterbringen könnte.
»Das liegt daran, dass wir halt zu dritt in einem Zimmer wohnen und jede nur ein kleines Nachtschränkchen für ihre eigenen Sachen hat. Aber da gucken die anderen immer mal hinein.«
Sie verschweigt, dass es meist sie selbst ist, die die Nachtschränkchen der Schwestern untersucht und sich herausnimmt, was sie brauchen kann.
»Das macht mein kleiner Bruder auch«, klagt Berta. »Der geht einfach in mein Zimmer und zieht alle Schubladen an der Kommode heraus.«
Ida erinnert sich gut an den kleinen Klaus, der so fröhlich herumgehampelt ist und dann wegen einer winzigen Kleinigkeit von seinem Vater aufs Zimmer geschickt wurde.
»Der ist wohl ziemlich frech, wie?«, erkundigt sie sich.
»Und wie!«, stöhnt Berta. »Weil ich die ältere Schwester bin, will die Mama immer, dass ich nachgebe. Aber der Papa, der ist zum Glück streng mit Klaus.«
Sie hat einen Papa, der sogar recht freundlich zu Ida war. Um den beneidet sie Ida tatsächlich. An ihren eigenen Vater kann sie sich kaum noch entsinnen, es ist traurig, dass er nie mehr aus dem Krieg zurückgekommen ist.
»Weißt du auch, dass der Klaus immer noch von dir redet?«, fragt Berta. »Der ist ganz hin und weg von dir. Du hättest so wunderschönes Haar. Und du könntest so gut lachen und erzählen. Und gestern hat er sogar gesagt, dass er lieber dich zu seiner Schwester hätte als mich.«
Ach, herrje! Dass sie ausgerechnet bei Bertas kleinem Bruder so erfolgreich ist, damit hat sie nicht gerechnet.
»Und was hast du dazu gesagt?«
»Dass ich ihn gern abgebe.«
»Oh, vielen Dank«, lacht Ida. »Du kannst dafür meine Schwester Herta kriegen.«
»Lieber die andere. Die Frieda. Weißt du, ich hab mir immer eine Schwester gewünscht.«
»Du kannst sie gern alle beide haben«, knurrt Ida.
Solche Sachen haben sie in der Pause beredet. Manchmal sind sie auch ein Stückchen nebeneinander über den Hof gelaufen, und einmal haben sie die Pausenbrote getauscht. Weil Berta wissen wollte, wie das Dingelbacher Brot schmeckt, das im »Backes« aus eigenem Roggenmehl gebacken wird. Und Ida hat schon lange nach den frischen Wecken mit Fleischwurst oder Schinken gegiert, die Berta immer zur Schule mitbekommt.
Auch Fräulein Hübner hält heute in der Klasse vor der Zeugnisausgabe eine kurze Rede. Sie lobt ihre Schülerinnen für ihren Fleiß und die guten Leistungen, aber sie spart auch nicht mit Ermahnungen und erklärt, dass diejenigen, die heute mit ihren Noten nicht zufrieden sind, bis Ostern Zeit hätten, sich zu verbessern.
»Vor allem freut es mich aber, dass sich ein besserer Klassengeist eingestellt hat«, sagt sie zum Abschluss und lächelt erst Berta und dann Ida zu. »Wir sind doch eine kleine Gemeinschaft und sollten zusammenstehen. Ich hoffe sehr, dass die Unstimmigkeiten zwischen meinen Schülerinnen von jetzt an der Vergangenheit angehören. Und nun zu den Zeugnissen …«
Ida muss wieder bis zum Schluss warten; sie ist immer noch Klassenerste. Berta ist jetzt die Zweite, Charlotte ist auf Platz drei gerutscht. Trotzdem ist Berta sehr unglücklich über das Zeugnis, denn sie hat genau wie Ida in Betragen nur ein »Genügend«.
»Sag deinen Eltern einfach, dass es meine Schuld ist«, tröstet Ida sie, als sie später beieinander in der Straßenbahn stehen. »Weil wir halt gestritten haben.«
Aber Berta schüttelt den Kopf.
»Das glauben die mir nicht. Jetzt kriege ich vielleicht keine Geschenke zu Weihnachten.«
Die Kahns sind zwar Juden und gehören zur Frankfurter jüdischen Gemeinde, aber Weihnachten feiern sie trotzdem, weil sie nicht strenggläubig sind. Ach, herrje! Berta hat sich eine kleine seidenbestickte Handtasche fürs Theater gewünscht. Ida wüsste gar nicht, was sie mit solch einem »Affenkram« tun sollte, aber für Berta scheint es der Gipfel der Glückseligkeit zu sein, solch ein Täschchen zu besitzen.
»Dann sag ihnen, dass du an Ostern wieder ein ›Sehr gut‹ in Betragen bekommst«, rät ihr Ida. »Weil es mit dem Streit ab jetzt vorbei ist.«
»Ja«, meint Berta. »Das ist vorbei, Ida.«
Am Opernplatz steigen sie aus, Berta und einige andere Schülerinnen gehen von hier aus zu Fuß nach Hause; Ida muss in die Linie 2 umsteigen, die zur Hauptwache fährt. Sie ist heftig versucht, in die entgegengesetzte Richtung zur Bockenheimer Warte zu fahren, denn es ist noch früh, und sie könnte sich in der Buchhandlung bei der Universität umschauen. Aber leider hat sie kein Geld, da lässt sie es besser bleiben, sonst ärgert sie sich nur. Die Mutter gibt ihr nur das Fahrgeld, und dabei schimpft sie immer schon, dass es so teuer ist. Und zur Großmutter, die ihr sonst oft etwas zugesteckt hat, geht sie ja nicht mehr. Schon gar nicht, weil sie Geld von ihr haben wollte. Das wäre ja wohl wirklich das Allerletzte.
Also trödelt sie noch ein wenig an der Hauptwache herum, schaut sich die opulenten weihnachtlichen Auslagen in den Geschäften an und staunt darüber, was die Leute in der Stadt alles so kaufen. Da gibt es seidene Strümpfe und zierliche Spangenschuhe, Abendroben, wo man vorn und hinten alles sehen kann, Stirnbänder mit Federbüscheln daran und glitzernde Haarspangen, die in Amerika angeblich der letzte Schrei sind. Ein anderes Geschäft preist Staubsauger an, die mit elektrischem Strom laufen. Sie schauen aus wie ein silberfarbener Topf mit einem dicken Schlauch daran, der in einer Düse endet. Das findet Ida praktisch, dann müsste sie nicht jeden Tag den Laden wischen, sondern bräuchte nur mit dem Staubsauger den Dreck wegzusaugen. Leider ist das nützliche Gerät unerschwinglich teuer, also wird sie weiterhin wischen müssen.
Da spiegelt sich in der Ladenscheibe gleich neben dem Staubsauger ein bekanntes Gesicht, und sie erschrickt.
»Ein frohes Weihnachtsfest für dich, Ida«, sagt Florian. »Wie schön, dass ich dich treffe, ich bin schon auf dem Weg nach Köln zu meinen Eltern.«
Sie fährt herum und will eine unfreundliche Antwort geben. Aber das bringt sie nicht fertig, weil er sie so fröhlich anschaut und ihr zulächelt.
»Auch dir ein frohes Weihnachtsfest«, sagt sie und lächelt zurück. »Die rote Pudelmütze steht dir gut.«
Er grinst verlegen und erzählt, dass seine Schwester dieses gute Stück für ihn gestrickt hätte und dass es sehr praktisch und warm sei.
»Du wolltest mich mal mit zur Uni nehmen«, erinnert sie ihn.
»Richtig«, gibt er zu. »Lass uns nach Weihnachten darüber reden, ja?«
Also nie, denkt sie. Na, meinetwegen. Ich komme auch ohne ihn in die Universität.
»Dann mal gute Fahrt«, wünscht sie ihm. »Und einen lieben Gruß an deine Schwester und deine Eltern.«
Aber er bleibt stehen und muss offensichtlich etwas loswerden.
»Weißt du, Ida, ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren. Aber ich hab oft an dich denken müssen. Warum, das will ich dir erklären, weil ich ehrlich zu dir sein will. Aber nicht jetzt, ich muss zum Zug. Später … nach Weihnachten. Da können wir uns treffen und miteinander reden, ja?«
»Wenn du willst …«, meint sie. »Dann also bis nach Weihnachten.«
»Ja, versprochen«, ruft er und wendet sich zum Gehen. »Ich muss los. Hab ein schönes Fest, Ida. Bis bald …«
Sie schaut ihm nach und kann hin und wieder seine rote Pudelmütze entdecken, die zwischen dem Grau der Mäntel und Hüte aufleuchtet. Er scheint es sehr eilig zu haben, hoffentlich verpasst er seinen Zug nicht.
Was er ihr wohl erklären will? Ach, egal. Sie ist wider Willen sehr glücklich, ihn getroffen zu haben. Ja, sie hat ihn vermisst. Sie war traurig und enttäuscht, als er damals im Buchgeschäft so kurz angebunden war und gleich mit seinen Freunden davongerannt ist. Aber vielleicht gibt es dafür ja einen Grund. Vielleicht klärt sich alles auf ganz einfache Weise. Vielleicht treffen sie sich wirklich nach Weihnachten, und dann … Dann bleiben sie Freunde. Gute Freunde. Weiter nichts. Schließlich will er einmal ein Priester werden. Aber deshalb kann sie ja trotzdem seine Freundin sein. Während der Fahrt nach Dingelbach stellt sie verschiedene Mutmaßungen an, was er ihr wohl erzählen wird. Haben seine Kommilitonen ihn ausgelacht, weil er mit einem rothaarigen Mädchen vom Dorf befreundet ist? Stören sich seine Eltern daran? Seine Schwester? Oder hat es mit seinen Professoren an der Theologischen Fakultät zu tun? Schließlich hat die Kirche vor einigen Jahrhunderten rothaarige Frauen als Hexen verfolgt. Hat er deshalb Schiss, sie mit an die Uni zu nehmen?
Als sie in Dingelbach aussteigt, hat sie alle diese Vermutungen beiseitegeschoben, und geblieben ist nur sein Lächeln. Er hat ein unfassbar gewinnendes Lächeln, man kommt einfach nicht dagegen an. Den ganzen Weg vom Bahnhof bis hinunter zum Dorfladen sieht sie ihn vor sich und überlegt, was sie ihm alles erzählen will, wenn sie sich nach Weihnachten wiedersehen.
Als sie in den Laden tritt, ist es vorbei mit der Träumerei, denn neben der Mutter steht Herta hinter dem Ladentisch. Ach, herrje – sie hat aufgegeben. Kein Wunder – der Sirius Engelke hat sich schon eine ganze Weile nicht mehr blicken lassen, da ist es wohl aus mit der erhofften Heirat.
»Da bist du ja«, sagt die Mutter zu Ida. »Das Essen steht in der Küche. Und dann kommst du gleich zum Helfen.«
Dann wendet sie sich wieder der Frau Pfarrer zu, die zwei Rollmöpse und eine Schachtel Margarine benötigt. Wie immer vor Weihnachten ist der Laden brechend voll, weil die Bäuerinnen noch rasch Backpulver und allerlei Gewürze brauchen, auch Kaffee, Zucker und Salz, Senf und Scheuersand. Beliebt ist auch eine Tafel Schokolade, ein Taschentuch oder eine Schachtel Pralinen als Weihnachtsgabe oder ein Stück duftender Seife. Nicht, dass sich die Bäuerinnen damit waschen würden, aber sie legen es in den Schrank zwischen die Wäsche, damit es gut riecht und die Motten vertreibt.
Ida wirft noch einen kurzen Blick auf Herta, die mit verkniffener Miene ein Pfund Reis abwiegt, dann geht sie in die Küche und lädt sich den Teller voll mit Erbseneintopf. Den hat eindeutig die Herta gekocht, denn es ist zu wenig Salz drin.
Ida tut die Schwester leid. Nun hat sie so lange gekämpft und doch verloren. Daran ist bloß der Sirius schuld, der Feigling. Bei seinem letzten Besuch muss die Mutter ihn wohl recht unfreundlich behandelt haben, da hat er den Schwanz eingezogen, und jetzt lässt er sich nicht mehr blicken. Vielleicht ist es ja gut so, denn so einen Lapp, der gleich davonläuft, braucht die Herta net zu heiraten. Aber auch die Mutter wird sich umschauen, denn es ist möglich, dass der Sirius Engelke jetzt nicht mehr mit seinen Waren in den Laden kommt. Da muss sie einen anderen Handelsvertreter finden, und sie wird ganz sicher jammern, weil der Sirius ihr immer einen guten Preis gemacht hat.
Frieda kommt heute nicht heim; sie ist in Frankfurt und darf im Weihnachtsmärchen mitspielen. Morgen ist dann die letzte Probe für das Krippenspiel in Dingelbach, da muss Ida mitmachen, das ist Ehrensache. Und übermorgen ist schon Heiliger Abend.
Ida vermutet, dass es kein fröhliches Weihnachtsfest werden wird. Der Dorfladen ist normalerweise am ersten und zweiten Feiertag geschlossen, da gehen sie am Morgen alle in die Kirche zum Weihnachtsgottesdienst, und dann gibt es etwas Gutes zum Essen. An den Nachmittagen haben sie früher immer Onkel Schorsch und Tante Lina besucht, da hat es Schmandkuchen gegeben, und die Frieda hat mit der Luise Szenen aufgeführt. Aber das ist lange vorbei, weil die Luise jetzt verheiratet ist und schon zwei Buben hat, da hat sich ihre Leidenschaft für das Theaterspielen gelegt. Und ob die Mutter den Lehrer Hohnermann auch in diesem Jahr gebeten hat, ein Buch für Ida in Frankfurt zu besorgen, das ist sehr fraglich. Wahrscheinlich hat sie es über dem ganzen Streit vergessen, und es gibt in diesem Jahr bloß Unterwäsche und Strümpfe, höchstens noch eine Tafel Schokolade, aber nur, wenn im Laden welche übrig bleibt.
Ida stellt den leeren Teller in die Spüle und geht hinüber in den Laden, wo nach wie vor Hochbetrieb ist. Jetzt steht dort Lehrer Hohnermann am Ladentisch und kauft seinen Malzkaffee, dazu Trockenerbsen, Reis und Nudeln. Will der sich etwa selber was kochen? Das wird ja ein schöner Schlangenfraß werden. Ida bindet die Schürze um und fragt die Hedi Schmidtkunz, was sie ihr bringen kann. Aber die hört gar net zu, weil Lehrer Hohnermann sich jetzt umgedreht hat und allen erzählt, wie schlimm es um die Julia Grossmann bestellt sei und dass er Geld sammeln täte, damit die Eltern ihr einen Aufenthalt in einer Lungenheilanstalt bezahlen können.
»Gerade zu Weihnachten sollten wir alle unsere Herzen und Beutel auftun, um den Menschen, die in Not sind, zu helfen. Sie alle kennen doch die Julia, und Sie wissen, dass sie ein solch liebes Mädel ist …«
Er stellt eine Büchse auf den Ladentisch, da sollen sie ihre Spenden hineintun. Es ist eine alte Blechdose, darein hat er einen breiten Schlitz geschnitten, damit man etwas hineinstecken kann.
Die Reaktion der Dingelbacher Bäuerinnen ist verhalten. Da die Frau Pfarrer schon weg ist, nehmen sie kein Blatt vor den Mund.
»Ei, der hätt ja auch net nach Frankfort ziehen müssen, der Fritz.«
»Wo die Alma doch immer erzählt hat, dass in der Stadt alles besser wär.«
»Wir in Dingelbach kümmern uns um unsere Leut, die wo nix haben. Gestern hab ich dem Lenchen Zwibbele und Karotten gebracht. Die Frankforter, die gehen uns nix an.«
»Mei Oma hustet auch allweil, da denkt doch keiner dran, die für teures Geld in eine Lungenheilanstalt zu bringen. Mir sin doch keine Millionäre net!«
Ida hält es jetzt nicht mehr aus vor Zorn und platzt laut dazwischen.
»Eine Sünd und eine Schand ist es, wie geizig ihr seid«, ruft sie empört. »Die Julia ist die Enkelin vom Herbert und dem Lenchen, und deshalb ist sie auch eine Dingelbacherin. Von mir kriegt der Herr Hohnermann drei Reichsmark. Das kannst du mir von den Weihnachtsgeschenken abziehen, Mama!«
Entsetzte Blicke treffen sie, die Koppel Ella stößt ein höhnisches Kichern aus. Die Mutter starrt Ida wütend an und sagt: »Deine Meinung ist hier nicht …«
Aber da redet auf einmal die Herta, und der Mutter bleibt vor Überraschung das Wort im Hals stecken.
»Die Ida hat recht. Ich gebe fünf Reichsmark für die Julia. Die bring ich gleich, Herr Lehrer.«
Sie läuft in die Küche, und man hört, wie sie die Treppe hinaufsteigt. Oben in ihrem Nachtschränkchen hat sie nämlich Geld für ihre Aussteuer gespart, davon will sie nun der Julia etwas spenden. Ida ist auf einmal richtig stolz auf ihre Schwester.
»Na ja …«, meint jetzt Hedi Schmidtkunz. »Eine Mark würd ich auch geben. Weil ich dem Herbert das Andenken bewahren will.«
Die Guckes Karin zieht einen Flunsch, aber dann sucht sie fünfzig Pfennige aus ihrem Portemonnaie heraus und lässt sie in die Blechdose fallen. Es klingt hohl, weil sie die Erste ist, die etwas einwirft.
»Ich geb’s halt, weil unser Ernst und der Gustl die Julia gemocht haben«, meint sie. »Und dass sie die Enkelin vom Herbert und dem Lenchen ist, das ist allweil wahr.«
Der Verkauf im Laden stockt, weil nun alle die Geldbeutel ziehen und ein paar Pfennige zusammenkratzen. Die Ella Koppel ist sich nicht zu schade, ganze zwei Groschen und drei Pfennige in die Büchse zu werfen. Ida öffnet vor den starren Augen ihrer Mutter die Ladenkasse, nimmt fünf Reichsmark heraus und meint: »Du gibst doch bestimmt auch was, Mama. Da hab ich’s gleich zusammengerechnet.«
Die Mutter nickt gezwungenermaßen und meint lächelnd zu Lehrer Hohnermann, dass sie natürlich nicht zurückstehen will, wenn es um ein gutes Werk geht.
Schließlich haben sie alle ihre Christenpflicht erfüllt, und Lehrer Hohnermann bedankt sich überschwänglich. Er will heute Abend im »Raben« weitersammeln und wird dann berichten, welche Summe zusammengekommen ist. Ida hat genau mitgezählt: Bisher sind es zwölf Reichsmark und fünfzehn Pfennige. Vielleicht kriegt er fünfzig Reichsmark zusammen, wenn er so weitermacht. Aber ein Aufenthalt in einer Lungenheilanstalt ist vermutlich viel teurer.
Am Abend, als sie endlich den Laden schließen und Herta schon das Putzwasser hereinträgt, meint die Mutter ärgerlich zu Ida: »Dass du auch immer so vorlaut sein musst! Gleich fünf Reichsmark!«
Mehr sagt sie nicht. Das kommt, weil die Kundinnen alle etwas gespendet haben und die Mutter nicht zurückstehen darf. Aber vielleicht auch, weil ihr die Julia leidtut.
Herta geht an diesem Abend früh zu Bett und nimmt sich den Backstein mit, den die Mutter immer auf dem Herd anwärmt. Aber wie Ida ihren Tornister ins Schlafzimmer trägt, da schläft die Schwester nicht, sondern liegt in ihrem Bett und liest ihre Groschenromane.
»Das war großartig von dir«, sagt Ida anerkennend.
Herta hat verheulte Augen, das kann Ida erst jetzt sehen, als sie das Heft zur Seite legt.
»Ich brauch’s ja nicht mehr«, sagt sie. »Da soll wenigstens die Julia was davon haben.«
»Das ist recht«, meint Ida. »Aber heulen musst du net. Wenn’s halt der Sirius net sein soll, da kommt ein anderer. Wirst schon sehen.«
»Glaubst du wirklich?«, schnieft Herta.
»Wenn ich’s dir sag!«
Ob Herta jetzt getröstet ist, weiß Ida nicht. Sie läuft eilig wieder hinunter und zieht die Jacke über, weil ihr eine Idee gekommen ist.
»Wo willste denn hin, noch so spät?«, will die Mutter wissen, die unten im Laden die Regale auffüllt.
»Nur schnell rüber zum Lehrer Hohnermann. Bin gleich wieder da.«
»Dann nimm den Schlüssel mit, weil ich schlafen gehen will.«
Im Dorf sind nur noch wenige Fenster beleuchtet. Nur aus der Gastwirtschaft »Zum Raben« fällt ein heller Schein auf die Straße, da sitzen noch ein paar Zecher, die sich für die Weihnachtstage stärken müssen. Ida merkt erst jetzt, dass es auf der Dorfstraße höllisch glatt ist; es hat »angezogen«, der Wind ist so eisig, dass sie die Hände in die Jackentaschen stecken muss. Aber in der Wohnung von Lehrer Hohnermann ist Licht, dann ist er wohl schon im »Raben« gewesen und sitzt jetzt wieder in seinem Studierzimmer.
Wie sie unten vor der Tür steht, stellt sie fest, dass Hohnermann nicht allein ist, denn sie kann eine Frauenstimme vernehmen. Nanu? Hat er vielleicht eine Braut da oben? Dabei sagen doch alle, dass er unsterblich in ihre Schwester Frieda verliebt sei.
»Ja, Ida!«, sagt Lehrer Hohnermann, als er ihr die Tür öffnet. »Wie schön, dass du kommst. Ich muss mich bei dir noch bedanken, weil du vorhin im Laden so mutig für die Julia gesprochen hast.«
»Keine Ursache. Darf ich reinkommen, oder stör ich Sie bei was?«
Er schaut sie ganz verwirrt an, dann wird er rot.
»Natürlich kannst du reinkommen, Ida. Die Helga Schütz ist oben bei mir. Und der Alberti Rudolf.«
»Ach so.«
Den Rudolf Alberti hat sie von unten gar nicht gehört. Aber er sitzt tatsächlich vor Hohnermanns Schreibtisch auf einem Hocker, und neben ihm auf dem Besucherstuhl hat die Helga Platz genommen.
Ida wird von beiden herzlich begrüßt, denn Lehrer Hohnermann hat schon ihr Lob gesungen.
»Vermutlich wäre ich ohne einen Pfennig wieder heimgegangen, wenn du und die Herta nicht so energisch für mich eingetreten wärt.«
»Und wie ist’s im ›Raben‹ gegangen?«, erkundigt sich Ida.
»Weniger gut«, gesteht Hohnermann. »Leider hat der Schütz Otto gleich verkündet, dass er für einen ›Auswärtigen‹ keine Spenden macht, und die anderen haben dann auch nichts gegeben. Nur der Altmann Georg hat zwei Reichsmark in die Büchse gelegt.«
»Das kommt, weil Sie es völlig falsch anfangen«, platzt Ida heraus. »Mit der Sammelbüchse wie bei der Bahnhofsmission kriegen Sie das Geld nie zusammen.«
Rudolf Alberti fängt an zu lachen. »Grad hab ich das Gleiche gesagt. Und jetzt hört ihr es zum zweiten Mal. Dann erzähl uns mal, Ida, wie du dir die Sache vorstellst.«
Weil es keinen Stuhl mehr gibt, darf sich Ida auf Hohnermanns Schreibtischsessel setzen, während er selbst stehen bleibt, um seinen Gästen Kräutertee einzugießen. Der riecht so, als hätte ihn der Alberti Rudolf mitgebracht. Nach Salbei. Pfui Spinne.
»Ich denk mir, dass wir das Geld da holen müssen, wo es am meisten davon gibt«, erklärt Ida großspurig. »Das ist zum Beispiel die Frau Küpper oben in der Fabrik. Und der Herr Goldstein, der hat doch eine Bank.«
»Kluges Mädchen«, schmunzelt Rudolf Alberti.
»Die Frau Küpper und der Herr Goldstein«, meint die Helga. »Na, ich weiß net. Die kennen doch die Julia gar net.«
»Dann schick ich die Frieda hin«, meint Ida schulterzuckend. »Die will da doch sowieso eine ›szenische Lesung‹ mit ihren Freunden von der Schauspielschule machen. Bei der Gelegenheit kann sie gleich von der Julia erzählen. Die Frieda, die kann so was. Die kriegt den Herrn Goldstein herum, dass er eine größere Spende macht.«
Lehrer Hohnermann senkt bei diesem Vorschlag unwillig die Augenbrauen – vermutlich passt es ihm nicht, dass die Frieda dem Herrn Goldstein um den Bart gehen soll. Aber Rudolf Alberti nickt Zustimmung.
»Herr Goldstein wäre eine gute Adresse«, meint er. »Weil er Zugang zu verschiedenen Vereinen und Geldgebern in Frankfurt hat, die sich für soziale Ziele einsetzen.«
Ida stützt die Ellbogen auf und genießt es, an einem richtigen Schreibtisch zu sitzen. Wie großartig, so viel Platz ganz für sich allein zu haben! Und alles steht bereit, die Federn, das Tintenfass, die Bleistifte und stapelweise Bücher und Schreibpapier. Außerdem ein Becher mit Salbeitee, aber den ignoriert sie.
»Aber lang dürfen wir net mehr warten«, gibt Helga zu bedenken. »Der Julia muss bald geholfen werden.«
»Morgen schick ich die Frieda hin«, kündigt Ida entschlossen an.
»Ich glaub, die Sache kommt jetzt in Fahrt«, meint Rudolf Alberti zu Lehrer Hohnermann.
»Dann kann ich meine Sammelbüchse ja in den Schrank stellen«, meint der mit verlegenem Lächeln.
»Unsinn. Jeder Pfennig zählt.«