Kapitel 35

»Hast du dich schon nach einem Zimmer in Bochum umgeschaut?«, will Annemarie wissen. »Du, da musst du frühzeitig gucken, sonst wird’s vielleicht zu teuer.«

Frieda packt ihr Turnhöschen in die Tasche. Puh, die Leopoldine Müller hat sie wieder herumgehetzt und nur gemäkelt. Zu steif, zu unnatürlich, ob sie denn überhaupt nichts dazugelernt hätten. Ein Schauspieler arbeitet nicht nur mit dem Gesicht, sondern mit dem ganzen Körper. Besonders auf den armen Rudi hat sie es abgesehen, aber dem ist es inzwischen gleich, er hat sein Engagement, und von »Körperbewegung als Ausdrucksform des seelischen Lebens« nach Rudolf Laban hat in München keiner etwas wissen wollen.

»Ein Zimmer? Nein, das hab ich noch net. Nach Weihnachten will ich mal rüberfahren und auf Zimmersuche gehen.«

»Dann besuche ich dich in Bochum, gelle? Ach, ich freu mich so für dich! Du, das wird famos, wenn ich dich dann auf der Bühne sehen kann.«

Annemarie freut sich ehrlich, sie ist so eine liebe Freundin. Aber selbst ihr hat Frieda nichts von ihren Sorgen erzählt. Die Mutter ist stur, nicht einmal jetzt, wo Herta wieder im Laden mithilft, ist sie bereit, Friedas Vertrag mit dem Bochumer Schauspielhaus zu unterschreiben.

»Nächstes Jahr, wenn du volljährig bist, kannst du tun und lassen, was du willst«, hat sie gestern wieder verkündet. »Aber solang ich für dich die Verantwortung trag, gehst du mir net allein nach Bochum. Wo da im Theater allweil die Versuchung und die Unzucht lauern.«

»Hast du denn gar kein Vertrauen zu mir, Mama?«

»Ich hab dich zu einem anständigen Mädchen erzogen, Frieda, und wenn’s nach mir gegangen wär, dann hättest du net auf die Schauspielschule gehen dürfen. Aber deine Großmutter in Frankfurt, die hat die Verrücktheiten ja unterstützt und dir die Ferz in den Kopp gesetzt …«

Frieda gibt die Hoffnung trotzdem nicht auf. Nach Weihnachten will sie noch einmal mit der Mutter reden. Sie muss doch verstehen, dass sie es nicht noch ein ganzes Jahr in Dingelbach aushält! Da wird sie schwermütig. Oder irre. Oder alles beides. Ach, wenn sie die Mutter in einem guten Moment erwischt und sie ganz lieb bittet, vielleicht gibt sie dann ja nach.

Aber der Vertrag liegt seit Wochen in ihrem Nachtschränkchen und ist nicht unterschrieben. Wie lange werden die Bochumer Geduld haben? Rudi hat seinen Vertrag schon längst unter Dach und Fach gebracht, der ist volljährig und kann selber unterschreiben. Dieses blöde Jahr, das ihr fehlt! Eigentlich bloß zehn Monate. Warum ist sie nicht früher geboren worden? Warum ist nicht sie, sondern Herta die Älteste?

Den Freunden gegenüber tut sie so, als wäre alles in schönster Ordnung, lässt sich bewundern und beneiden und erzählt, was sie in Bochum für Rollen spielen wird und dass sie sich schon jetzt darauf vorbereitet.

»Pass auf, du kriegst bestimmt bald ein Angebot vom Wiener Burgtheater«, hänselt Harry. »Die Burgschauspielerin Frieda Haller aus Dingelbach!«

»Lass doch den Quatsch!«

Harrys Scherze klingen schräg. Er hat es inzwischen an zwei Theatern in der Umgebung versucht, bisher ohne Erfolg. Das hat sein Selbstbewusstsein heftig geknickt.

»Du bist halt verdammt hübsch, Frieda«, seufzt er. »Hübsche Mädchen haben es leichter am Theater.«

»Das ist doch dummes Zeug, Harry«, verteidigt Annemarie ihre Freundin. »Auf das Können kommt es an. Kunst kommt nämlich von Können

Frieda lässt sie reden und kommt sich dabei vor wie eine Hochstaplerin. Nach dem Rollenstudium fragt sie Frau Einzig, ob sie einen Augenblick Zeit hätte.

»Fünf Minuten hab ich. Was hast du denn auf dem Herzen, Frieda?«

Frieda wartet, bis alle anderen den Raum verlassen haben, dann vertraut sie der Lehrerin ihr Dilemma ein. Mathilde Einzig regt sich furchtbar darüber auf.

»Was denken sich die Leut eigentlich, was wir am Theater machen? Da wird hart gearbeitet, und wer sich da Liebesgeschichten leistet, der fällt hinten runter. Aber das ist in die Köpp der Spießbürger net reinzubringen!«

»Aber was soll ich denn bloß machen, Frau Einzig?«

»Ich kann’s net verstehen. Deine Mutter könnt sich freuen, eine so begabte und erfolgreiche Tochter zu haben. Und dann stellt sie sich dir in den Weg. Weißt du was, ich ruf sie einmal an.«

Kein guter Vorschlag. Das einzige Telefon in Dingelbach steht oben bei Frau Küpper in der Fabrik, und da würde ihre Mutter gewiss nicht hinlaufen, um mit Frau Einzig über ihre Tochter zu sprechen.

Ein Gespräch mit der Mutter in Frankfurt würde vielleicht helfen. Gemeinsam mit anderen Ausbildern der Schauspielschule. Aber das könnte erst nach Weihnachten stattfinden, und die Zeit drängt.

»Ich schreib deiner Mutter einen Brief«, verspricht die Lehrerin. »Wenn sie allerdings ganz und gar net will, dann sind auch uns die Hände gebunden. Aber da brauchst du trotzdem die Flügel net hängen lassen, Mädchen. Dann volontierst du halt hier am Schauspielhaus, und wenn ich Zeit hab, studieren wir ein paar Rollen ein, die du im nächsten Jahr vorsprechen kannst.«

Das will sie umsonst für Frieda machen. Weil sie an sie glaubt und dafür sorgen will, dass sie bei der Stange bleibt.

Sie schüttelt ihr kräftig die Hand und klopft ihr ermutigend auf die Schulter, dann muss sie los, weil sie eine Probe hat. Frieda bleibt deprimiert zurück. Ein Brief wird ihre Mutter sicher nicht umstimmen. Und Volontärin am Schauspielhaus – da ist sie das Mädchen für alles und muss jeden Mist machen. Da darf sie den Bühnenschauspielern den Kaffee bringen und die vergessenen Requisiten hinterhertragen, und der Regisseur brüllt sie an, wenn er schlechte Laune hat. Wenn die Annemarie das großartig findet – sie hat keine Lust darauf. Geld verdient sie dann auch keines. Aber falls es tatsächlich so weit kommen sollte, dann zieht sie einfach zur Großmutter. Jawohl, das tut sie. Und wenn die Mutter sich auf den Kopf stellt. Auf keinen Fall bleibt sie noch ganze zehn Monate in Dingelbach.

Nach dem Unterricht nehmen die Freunde Abschied, denn in der Schauspielschule geht es erst nach Weihnachten weiter. Annemarie bleibt heute im Schauspielhaus, weil sie in der Nachmittagsvorstellung vom Weihnachtsmärchen mitspielt, Harry stöhnt theatralisch, dass über Weihnachten die Verwandtschaft aus Offenbach einfallen würde und er sein Zimmer mit zwei Cousins teilen muss. Rudi wird mit seinen Eltern feiern, und Erwin Kreuzer lässt durchblicken, er habe in Berlin »ein Eisen im Feuer«.

Frieda klingen noch die fröhlichen Stimmen der Kollegen in den Ohren, als sie in der Vorstadtbahn sitzt. In Frankfurt sind die Geschäfte voller Menschen, die noch die letzten Geschenke einkaufen, es gibt Theatervorstellungen und Revuen, die Kinos zeigen Filme, und am Römer gibt es einen Weihnachtsmarkt mit Buden, wo man Rauschgoldengel, Nussknacker und allerlei bunten Flitterkram für den Weihnachtsbaum erwerben kann. Was erwartet sie in Dingelbach? Kahle Felder, dampfende Misthaufen und eine verständnislose Mutter, die gleich verlangen wird, dass sie sich hinter den Ladentisch stellt. Da ist sie beinahe froh, dass sie nachher noch mit den Kindern für das Krippenspiel üben muss, da braucht sie wenigstens keine Rollmöpse und Essiggurken zu verkaufen.

Als sie mit schlechter Laune am Dingelbacher Bahnhof aussteigt, da steht da ihre Schwester Ida in Jacke und Wollschal und tritt von einem Fuß auf den anderen, weil hier oben ein eisiger Wind weht.

»Ich hab auf dich gewartet«, sagt sie. »Pass auf, du gehst jetzt gleich hinüber zur Frau Küpper in die Fabrik. Wir sammeln nämlich Geld für die Julia, damit sie in eine Lungenheilanstalt kommt und wieder gesund wird.«

»Du spinnst wohl!«, schimpft Frieda. »Ich will jetzt heim und was essen, und dann muss ich mit den Kindern in der Kirche proben …«

Immer die Ida mit ihren verrückten Einfällen! Mit ihrer großartigen Idee neulich hat sie die Mutter erst recht gegen sich aufgebracht und sich eine zornige Absage eingehandelt.

»Ich hab’s dem Lehrer Hohnermann aber versprochen«, beharrt Ida. »Du musst doch sowieso zur Frau Küpper wegen eurer szenischen Lesung …«

Frieda lenkt ihre Schritte energisch an der Fabrik Pilz & Küpper vorbei in Richtung Dorf, aber Ida bleibt an ihrer Seite und redet ihr die Ohren voll. Dass die szenische Lesung doch für einen guten Zweck stattfinden könnte und dass es eilig sei, weil die Julia vielleicht sterben muss, wenn sie nicht bald in eine Heilanstalt kommt.

»Jetzt gib deinem Herzen mal einen Stoß, Frieda!«

Frieda stöhnt auf und bleibt stehen. Was für eine Plage diese kleine Schwester doch ist!

»Die Frau Küpper hat so kurz vor Weihnachten bestimmt keine Zeit«, wendet sie ein.

»Versuch es halt!«

»Also gut«, faucht sie. »Dann trägst du jetzt meine Tasche heim, und ich komm nach.«

Ida hängt sich die lederne Reisetasche um, die die Großmutter für Frieda gekauft hat, damit sie darin ihre Habseligkeiten unterbringt, wenn sie bei ihr übernachtet. Traumhaft schön ist die Tasche, und ohne Zweifel war sie sehr teuer – aber praktisch ist sie nicht, weil sie bleischwer an der Schulter hängt.

»Bis gleich«, sagt Frieda mürrisch und nimmt den Weg zur Fabrik hinüber.

Dort herrscht Hochbetrieb. In der Halle rattern und schleifen die Maschinen, Arbeiter laufen hin und her, im Hof stehen zwei Lastwagen, die mit Kisten beladen werden.

»Die Frau Küpper? Die ist hinten in der Lackiererei …«

»Nee, die ist grad eben ins Büro … da drüben, wo ›Direktion‹ an der Tür steht.«

Frieda bedankt sich und klopft an die genannte Tür. Natürlich wird die Fabrikleiterin bei diesem Trubel keine Zeit haben, das war ja wohl klar. Wieso lässt sie sich nur immer auf Idas dumme Einfälle ein?

Eine blonde Frau in weißer Bluse und dunklem Rock empfängt sie. Friedas Respekt steigt: Frau Küpper hat eine Sekretärin. Die Fabrik Pilz & Küpper scheint ja gute Geschäfte zu machen.

»Frau Goldstein? In welcher Angelegenheit?«

»Nein, nicht Frau Goldstein. Ich wollte zu Frau Küpper. Wegen meiner szenischen Lesung.«

»Frau Küpper hat gestern geheiratet und heißt jetzt Frau Goldstein«, erklärt ihr die Sekretärin und verzieht dabei keine Miene. »Einen Augenblick bitte …«

Sie steht auf und klopft an eine Tür. »Frau Goldstein? Da ist eine Frieda Haller. Wegen einer Lesung …«

Geheiratet hat sie!, denkt Frieda verblüfft. So ganz still und heimlich? Auf jeden Fall hat man unten im Dorf nichts von irgendwelchen Hochzeitsfeierlichkeiten in der Villa erzählt. Das hätte die Mutter gewusst, weil die im Laden immer die neuesten Nachrichten erfährt.

»Frieda Haller?«, vernimmt sie jetzt eine Stimme jenseits der Tür. »Sagen Sie ihr bitte, sie soll hinüber in die Villa gehen und die Angelegenheit mit meinem Mann besprechen. Einen lieben Gruß von mir … Haben Sie die Rechnung für Kontermann fertig, Fräulein Sonntag? Die Lieferung muss heute noch raus …«

»Ist in zwei Minuten erledigt, Frau Goldstein«, sagt Fräulein Sonntag dienstbeflissen, schließt die Tür und huscht hinter ihre Schreibmaschine.

Frieda kommt sich vor wie ein lästiger Störenfried. Ach, wie dumm, sie hat gehofft, einfach nur weggeschickt zu werden. Jetzt soll sie hinüber in die Villa gehen und Herrn Goldstein ihr Anliegen vortragen. Dabei kennt sie den kaum! Aber wenn sie jetzt einfach heimgeht, wird Ida ihr die Hölle heißmachen. Und außerdem ist sie ein wenig neugierig auf den jüdischen Bankier Goldstein, von dem im Dorf erzählt wird, er sei märchenhaft reich und sähe außerdem blendend aus.

»Dann richten Sie Frau Goldstein meine herzlichsten Glückwünsche zur Vermählung aus«, sagt sie höflich zu der eifrig tippenden Sekretärin. Aber die schaut nicht von ihrer Maschine hoch, vielleicht hat sie es überhört.

Im Hof wird sie beinahe von einem Wägelchen voller Kartons überrollt, das ein Arbeiter vor sich herschiebt. Sie springt rasch zur Seite und entscheidet sich dann für den schmalen Pfad zur Villa hinüber; der ist zwar ziemlich vereist, aber es ist der kürzeste Weg.

Es macht ihr sogar Spaß, auf dem hart gefrorenen, holprigen Untergrund zu balancieren. An manchen Stellen kann man ein Stückchen schlittern, wie sie es als Kinder oft auf der Dorfstraße getan haben. Als sie die Villa erreicht hat und die Glocke an der Pforte zieht, ist ihr richtig warm geworden, und ihre Wangen glühen.

»Ach, die Frieda Haller«, sagt Carla Ritter. »Die Frau Goldstein ist aber net da …«

»Ich weiß. Sie hat mich hergeschickt, ich soll mich mit ihrem Ehemann über die szenische Lesung im Frühjahr unterhalten.«

»Ach so. Dann gib mal den Mantel und den Schal her. Da gehst du die Treppe hoch in den zweiten Stock. Der Herr Goldstein ist in seinem Atelier.«

Ein Atelier hat er. Richtig, er macht ja Ausstellungen. Da oben soll gewiss auch die szenische Lesung stattfinden. Ach, vielleicht ist es ja doch ganz gut, dass sie hergekommen ist, so kann sie schon einmal die Örtlichkeit in Augenschein nehmen. Auch wenn ihre Begeisterung für diesen Auftritt wegen der Sorgen um ihr Engagement ziemlich in den Hintergrund gerückt ist.

Oben braucht sie nicht einmal anzuklopfen, denn die Tür steht offen.

»Treten Sie ein!«, ruft eine angenehme Männerstimme.

Sie bekommt auf einmal Herzklopfen, denn die Stimme erinnert sie an Richard Graf. Zögerlich betritt sie den Raum und bleibt gleich an der Schwelle wieder stehen. Wie weit und hell es hier ist! Das machen die hohen Fenster, die so viel Licht hereinlassen. Überall an den Wänden hängen oder stehen Zeichnungen und Ölgemälde, auf der Seite gibt es eine orientalisch aussehende Sitzgruppe, und an einem der Fenster steht eine Staffelei, hinter der jemand halb verborgen mit dem Pinsel hantiert.

»Fräulein Haller?«, sagt die angenehme Stimme. »Ich habe Sie schon unten auf dem Pfad gesehen und mich gefragt, wer da zu uns herüberschlittert. Nehmen Sie doch Platz. Es geht sicher um Ihren Auftritt im Frühjahr, nicht wahr?«

Ach, wie peinlich! Er hat beobachtet, dass sie wie eine alberne Dorfgöre auf dem Eis herumgerutscht ist. Jetzt tritt er hinter seiner Staffelei hervor und steckt den Pinsel in ein Wassergefäß. Frieda ist fasziniert. Was für ausdrucksvolle dunkle Augen, und dieser schön geschwungene, sinnliche Mund. Der würde als »Don Giovanni« eine viel bessere Figur machen als der dicke Sänger in der Frankfurter Oper.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie störe«, meint sie verlegen. »Ach ja, und meine herzlichsten Glückwünsche zur Hochzeit. Ich hab’s gerade erst unten bei Fräulein Sonntag erfahren …«

»Oh, vielen Dank«, meint er heiter und macht eine angedeutete Verbeugung. »Wir haben es nicht an die große Glocke gehängt, deshalb brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben, Fräulein Haller. Ich freue mich sehr, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Meine Frau hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«

Er ist ein vollendeter Kavalier, aber ganz anders als Richard Graf. Nicht so bemüht und aufdringlich, sondern ganz selbstverständlich. Mit einer scherzhaften Entschuldigung räumt er die benutzten Tassen und zwei Gläser von dem Tischchen, dann fragt er, was er ihr anbieten kann.

»Einen Kaffee? Oder einen heißen Tee mit Honig? Letzteres ist bei dieser Kälte sehr zu empfehlen.«

»Danke, nein. Ich will Sie gar nicht so lange aufhalten. Ich bin nur hier, weil mir meine Schwester Ida keine Ruhe gelassen hat …«

Er lacht, als sie das so ehrlich erzählt, und meint, von ihrer Schwester Ida hätte er auch schon gehört, die solle ja ein hochbegabtes Mädchen sein. Frieda verfolgt genau, wie er sich lässig auf einem marokkanischen Hocker niederlässt und die aufgekrempelten Ärmel seines Pullovers herunterstreift. Er hat dunkel behaarte, sehnige Arme, an der rechten Hand trägt er einen feinen goldenen Ehering.

»Oh ja, die Ida weiß alles und kann alles. Aber sie ist immer voller verrückter Einfälle. Und da hat sie sich jetzt ausgedacht, dass wir die szenische Lesung …«

Er hört ihr aufmerksam zu, und sie bemerkt, wie sich ihre lebhaften Schilderungen in seinem Gesicht widerspiegeln. Es gefällt ihr. Das ist ihr Talent, sie kann Menschen faszinieren, auf der Bühne oder im täglichen Leben – ganz egal, sie packt sich ihr Gegenüber und hält es in ihrem Bann.

»Das ist eine wunderschöne Idee«, meint er schließlich. »Ich denke, meine Frau wird der gleichen Ansicht sein. Allerdings wird der Erlös einer Benefizveranstaltung nicht für einen Aufenthalt in einem Lungensanatorium ausreichen. Aber es könnte ein Anfang sein.«

Frieda hat sich über die näheren Umstände von Idas Anliegen noch kaum Gedanken gemacht. Jetzt erklärt er ihr, dass Julia aller Vermutung nach mindestens ein halbes Jahr, wenn nicht länger in einem Sanatorium behandelt werden müsste.

»Es gibt sehr unterschiedliche Einrichtungen, Fräulein Haller. Einige Lungenärzte schwören auf die heilende Bergluft, andere setzen auf bestimmte Therapien, wieder andere bevorzugen die jodhaltige Seeluft. Die meisten Sanatorien entsprechen höchsten Standards und werden von sehr wohlhabenden Personen besucht. Man hat allerdings auch Heilanstalten für Arbeiter eingerichtet. Ob eine solche für das Mädchen infrage käme, müsste noch geklärt werden. Wie man hört, soll da eine harte Disziplin herrschen.«

Frieda kommt sich reichlich dumm vor. Eigentlich hätte sie sich denken können, dass eine einzige Veranstaltung nicht ausreicht, um Julia den heilsamen Aufenthalt zu ermöglichen.

»Ein Anfang ist besser als gar nichts«, meint sie zögernd.

»Das ist richtig!«, lobt er. »Dann lassen Sie uns jetzt über Ihre szenische Lesung sprechen. Wie ich hörte, werden Sie Kollegen mitbringen, also wird das eine richtige kleine Theateraufführung. Schauen Sie, ich hatte mir das so gedacht …«

Auf einmal zeigt er sich von einer ganz anderen Seite. Er springt auf und zeigt ihr, wo die Schauspieler agieren sollen, erklärt, dass er Bilder und Staffelei fortschaffen wird und dort in der Wandnische ein Podest stehen soll.

»Maximal finden hier zirka fünfzig Zuschauer Platz«, erklärt er. »Wir müssen ein wenig Raum lassen, weil in der Pause Sekt und Häppchen angeboten werden.«

»Den Sekt bieten Sie besser vorher an«, rät Frieda. »Dann sind die Gäste schon einmal in gehobener Stimmung, das kann nie schaden.«

Er lacht über ihren Vorschlag und meint anerkennend, sie sei eine gewitzte Geschäftsfrau. Frieda kommt jetzt in Fahrt, sie probiert die »Bühne« aus und gibt den Schlussmonolog des Kobolds aus dem Sommernachtstraum zum Besten. Er klatscht Beifall und hat leuchtende Augen bekommen.

»Ich sehe schon, Sie werden unsere Gäste im Sturm erobern, Fräulein Haller. Wenn Ihre Kollegen auch nur annähernd so überzeugend sind, wird es ein großartiger Abend werden.«

»Oh, die sind erste Klasse, Herr Goldstein. Der Rudi Stimpel ist schon bei den Münchner Kammerspielen engagiert und macht nur mit, weil ich ihn so herzlich gebeten habe …«

Er sucht nach Papier und Bleistift, und sie setzen sich an das Tischlein, um das Programm zusammenzustellen. Vier Szenen sollen gespielt werden, zwei vor und zwei nach der Pause. Jetzt wird sie übermütig und fragt, ob man ein Klavier besorgen könnte, dann würde sie ein paar Gesangseinlagen bringen.

»Das lässt sich arrangieren … Was wollen Sie denn singen?«

»Der Lehrer Hohnermann hat ein paar Lieder für mich komponiert«, erzählt sie eifrig und fügt hinzu: »Die klingen richtig flott und modern, gar net wie Kirchenmusik.«

Das Programm nimmt Formen an. Sie greift seine Vorschläge auf, ergänzt sie mit eigenen Einfällen, und er geht bereitwillig darauf ein. Schließlich schlägt er vor, als »Conférencier« durch die Veranstaltung zu führen und bei dieser Gelegenheit auf den guten Zweck hinzuweisen.

»Das wäre famos, Herr Goldstein!«

Es ist dämmrig geworden, draußen schneit es schon wieder, durch die hohen Fenster sieht man die erleuchtete Halle der Fabrik. Herr Goldstein ist aufgestanden, um die Lampe anzuschalten, damit er das mehrfach veränderte Programm in der Endfassung ins Reine schreiben kann. Frieda fällt plötzlich siedend heiß ein, dass sie ja für das Krippenspiel proben muss.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Kurz vor vier.«

»Ach, du liebes Lieschen!«, ruft sie und springt auf. »Ich muss hinunter ins Dorf, die kriegen heut ihre Engelskostüme, da sind sie alle schrecklich aufgeregt …«

»Soll ich Sie rasch mit dem Wagen hinfahren?«, bietet er an.

»Ach was. Bis Sie das Automobil in Gang gebracht haben, bin ich ja schon unten. Also, dann noch einen schönen Abend, Herr Goldstein … Und herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben … Und liebe Grüße an Ihre Frau …«

Er geht mit hinunter und hilft ihr in den Mantel. Begleitet sie zur Haustür und gibt ihr zum Abschied die Hand. Was er ihr nachruft, als sie den Weg hinunterhastet, kann sie nicht mehr verstehen, aber es klingt wie »… sehen wir uns ja bald wieder«.

Atemlos und mit wehendem offenem Mantel kommt sie vor der Kirche an und fürchtet schon, dass die Kinder enttäuscht wieder heimgegangen sind. Dann hört sie, dass drinnen die Orgel spielt und im Chor gesungen wird. Gott sei Dank – ihre Schwester Ida ist zur Stelle und schmeißt den Laden.

»Wer ist noch im Stimmwechsel?«, hört sie sie laut fragen. »Du net, Gustav. Aber der Erich, der hält beim Singen das Maul. Und du auch, Willi. Das ist ein Engelsgesang, da wird net gebrummelt. Noch mal von vorn. Und wer den richtigen Anfangston verpasst, der kriegt von mir eins hinter die Ohren … Vom Himmel hoch, da komm ich her …«

Aber die Kinder singen keinen einzigen Ton, sondern schreien laut durcheinander: »Die Frieda! Die Frieda!«

Ida dreht sich um und hat ein solch zufriedenes Grinsen im Gesicht, dass Frieda sich beinahe ärgert. Aber dann ist sie schon mittendrin, die Kinder umringen sie, die Helga hat die fehlenden Engelsgewänder gebracht, der Killinger Hannes und Onkel Schorsch haben den Stall von Bethlehem aufgebaut, und sie proben in »Kostüm mit Flügeln und Sternchen«. Danach müssen die weißen Hemdchen wieder ausgezogen werden, damit sie auf keinen Fall dreckig werden, und die Helga heftet an jedes Engelskleid einen Zettel mit dem Namen des Trägers, bevor sie sie in den Karton legt und in die Sakristei trägt. Ida sortiert die Engelsflügel und Sternchen in einen Wäschekorb, sie braucht keine Zettel, weil sie sich ganz genau gemerkt hat, was zu wem gehört.

»Wie ist es gegangen?«, will sie von Frieda wissen.

»Gut. Der Herr Goldstein ist ein Schatz. Er will selber die Conférence machen und auf den guten Zweck hinweisen. Also, der ist vielleicht ein charmanter Mann! Er hat mir sogar Kaffee angeboten, und wir haben zusammen das Programm …«

Sie hält inne, weil Lehrer Hohnermann von der Orgelempore heruntergestiegen ist und den Kirchenschlüssel in der Hand hält.

»Es ist spät geworden«, sagt er. »Du wirst gewiss müde sein, Frieda.«

Warum er so bedrückt dreinschaut, versteht sie nicht. Ach, morgen erzählt sie ihm, dass sie seine Lieder singen wird und er sie begleiten muss. Da wird er sich ganz sicher freuen.