Kapitel 36
Nun ist sie also eine verheiratete Frau. Ilse muss sich eingestehen, dass sie trotz allem ein wenig enttäuscht ist. Natürlich hat es keine große Hochzeitsfeier gegeben, das wollte sie auch nicht, zumal sich die Schwangerschaft nun doch sehr deutlich bemerkbar macht. Und eine kirchliche Trauung wäre so und so nicht infrage gekommen. Dennoch ist diese Heiratszeremonie im Frankfurter Römer irgendwie sehr rasch und wenig feierlich gewesen.
»So schnell geht’s«, hat Carla auf ihre pragmatische Art gesagt. »Und so lang dauert’s.«
Nein, an Carla hat es nicht gelegen. Zu Ilses allergrößtem Erstaunen ist sie an dem bewussten Tag in einem sehr dezenten, aber hübschen dunklen Kleid erschienen, mit einer lockeren Jacke darüber, die ihre Formen geschickt verdeckt hat. Stolz hat sie ihr eingestanden, dass es keine neu geschneiderten Sachen seien, sondern das alte Schwarze und ein Mantel, den sie noch von der Mutter im Schrank hängen hatte. Helga Schütz hat ihr ein paar Änderungen genäht.
Carla hat sich also sehr gut präsentiert, was Richard ihr auf seine charmante Art bestätigt hat. Eher ist es Richards Trauzeuge gewesen, ein gewisser Edwin Liebmann, der bei dem anschließenden Essen in einem kleinen, aber feinen Spezialitätenrestaurant in der Mainzer Straße für eine angespannte Stimmung gesorgt hat.
»Habt ihr’s auch bemerkt, wie unfreundlich der war?«, hat er Richard zugeflüstert. »Der hat uns beide angestarrt, als wären wir Küchenschaben, die sich ins Rathaus verirrt haben.«
»Du meinst den Standesbeamten?«, hat Richard gefragt. »Ehrlich gesagt, mir ist nichts dergleichen aufgefallen.«
»Weil du mit Scheuklappen durch die Welt läufst. Dem hat es ganz eindeutig missfallen, dass eine christliche deutsche Frau einen Juden heiratet. Das stand dem ins Gesicht geschrieben.«
»Nun …«, hat Richard ärgerlich entgegnet. »Ich bin nicht der Erste und gewiss auch nicht der Letzte, der sich über die eingebildeten Grenzen rassischer oder religiöser Art hinwegsetzt. Ich hatte angenommen, dass du ähnlich denkst, Edwin.«
»Das tu ich auch. Aber die Realität um uns herum sieht anders aus. Da wirst du an jeder Ecke darauf gestoßen, dass die Juden das Unglück der Welt wären und den Jesus Christus ans Kreuz genagelt hätten.«
Carla Ritter hat große Augen gemacht und dann leise bemerkt: »Das haben sie doch auch, oder?«
»Nein«, hat Ilse energisch geantwortet. »Das sind die Römer gewesen. Der Pilatus hat’s befohlen, der römische Landpfleger.«
»Ach ja, richtig«, hat Carla mit rotem Kopf geantwortet. »Entschuldigen Sie, Frau Küpper … ich wollt sagen: Frau Goldstein.«
Richard hat die Gelegenheit benutzt, das Gespräch auf ein anderes Thema zu leiten, und Ilse erzählt, dass sein Onkel Edwin ein hervorragender Landschaftsmaler sei, den er seit seiner Kindheit stets bewundert hätte. Ein kluger Schachzug von ihm, denn nun redete der Trauzeuge wie ein Wasserfall über sich selbst, seine Studien an der Städelschule in Frankfurt, Reisen nach Italien und Frankreich, den harten Einschnitt des Weltkriegs, den er von Anfang bis Ende mitgemacht hat, und den schwierigen Neuanfang zusammen mit gleichgesinnten Künstlern an der Nordsee. Dieser missriet, da er sich mit der Gruppe nicht vertragen konnte und nach »fürchterlichen Querelen« abgereist ist. Dann beschwerte er sich ausgiebig über die mangelnde Förderung durch die Familie und schimpfte, man würde alle möglichen Schmierfinken und Nichtskönner durch Stiftungen und großzügige Spenden finanzieren, aber die eigenen Verwandten dabei vergessen.
Ilse ist während dieser Tiraden klar geworden, warum Richard gerade diesen Verwandten als Trauzeugen ausgesucht hat. Edwin Liebmann ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein familiärer Außenseiter, der keine Probleme hat, sich mit dem Rest der Familie anzulegen. Möglich, dass Richard ihn für die heutige Zeremonie sogar bezahlt hat.
Carla sagte während des ganzen Essens nichts mehr außer »Bitte schön« und »Vielen Dank, es ist ausgezeichnet«, aber Ilse sah ihr an, dass sie Mühe hatte, die ungewohnten Köstlichkeiten herunterzubringen. Vor allem die Austern zur Vorspeise verlangten ihr viel ab, aber sie nahm mutig einen der glibberigen Meeresbewohner zu sich und behauptete mit tapferem Lächeln, es sei sehr gut gewesen. Eine zweite Auster lehnte sie jedoch höflich ab.
Sie dehnten die Mahlzeit nicht ungebührlich lange aus; nach dem Mokka erklärte Ilse, dass in der Fabrik viel Arbeit auf sie warte, und Richard bestellte für Edwin Liebmann ein Taxi nach Höchst. Zu dritt fuhren sie in Richards Wagen nach Dingelbach, wobei sie ihm freiwillig das Steuer überließ, weil sie sich ungewöhnlich müde fühlte. Ausruhen konnte sie sich allerdings nicht, da nun Carla die Schleusen ihrer Redseligkeit öffnete und begeistert von dem eindrucksvollen großen Rathaus, den feinen Leuten im Restaurant, dem Weihnachtsmarkt um die Katharinenkirche und den vielen Geschäften schwatzte. Das alles sei für sie ein großes Erlebnis und eine noch größere Ehre gewesen, sie sei davon noch ganz »wuschelig« im Kopf und müsse sich erst wieder fangen.
In der Villa nimmt Richard Ilse in die Arme und küsst sie zärtlich. »Ich weiß, es war grauenhaft, Liebling«, sagt er bedauernd. »Aber wir haben es glücklich überstanden. Sag mir, wie du dich fühlst als ›Frau Goldstein‹.«
»Ein wenig ungewohnt«, gesteht sie. »Trotzdem ist es ein wundervolles Gefühl, deine Ehefrau zu sein.«
Dann befreit sie sich aus seinen Armen und eilt ins Schlafzimmer, um sich umzukleiden und gleich hinüber in die Fabrik zu laufen. Sie hat ihren Arbeitern erzählt, dass sie heute Vormittag eine Verkaufsmesse besuchen müsse, aber an den ungläubig grinsenden Gesichtern erkennt sie gleich, dass Carla den wahren Grund ihrer Abwesenheit an diesem Vormittag schon ausgeplaudert hat. Nun – sie hat sich vorgenommen, die feierliche Ankündigung bis übermorgen hinauszuschieben, da ist Heiliger Abend, und es wird nur bis mittags gearbeitet. Danach hat sie eine kleine Weihnachtsfeier angesetzt, bei der es die üblichen Geschenke und Reden geben wird.
Bis dahin ist noch viel zu tun, da Nachbestellungen eingegangen sind, die unbedingt noch vor Weihnachten auf den Weg gebracht werden müssen. Die lästige Müdigkeit begleitet sie leider den ganzen Nachmittag über, dazu haben sich auf der linken Seite unangenehme Rückenschmerzen eingestellt, die bis hinunter in die Ferse ziehen. Wie es scheint, hat sich ihr Ischiasnerv verklemmt.
Auch dass ihre Sekretärin Fräulein Sonntag mit einem Blumenstrauß und »herzlichen Glückwünschen zur Vermählung« aufwartet, stört sie, aber da sie es ja gut meint, bedankt sie sich herzlich, merkt aber an, dass die Sache erst übermorgen in der Fabrik »offiziell« werden wird.
Am Abend stellt sie fest, dass wieder einmal Überstunden erforderlich sein werden, um das Soll zu erfüllen, also bleibt sie mit mehreren Arbeitern zwei Stunden länger in der Fabrik und nimmt dann vorsichtshalber den offiziellen Weg und nicht den vereisten Pfad hinüber zur Villa, da sie auf ihre Gelenkigkeit heute nicht vertrauen kann.
»Sie sollten sich mehr schonen, Frau Goldstein«, empfängt sie Richard mit vorwurfsvollem Lächeln.
»Nach Weihnachten lasse ich es langsamer angehen«, verspricht sie.
Er hat mit dem Abendessen auf sie gewartet, aber sie bringt nicht viel herunter, trinkt nur den heißen Tee und macht sich dann nachtfertig.
»Sei mir nicht böse – es war ein langer Tag.«
»Warum sollte ich böse sein? Ich wundere mich nur, wie du dieses Pensum durchhalten kannst, Liebes.«
Er geht mit ihr gemeinsam zu Bett und erkundigt sich besorgt, ob sie jemanden gefunden hat, der die Fabrik in ihrer Abwesenheit leiten kann.
»Noch nicht …«
»Aber das hattest du mir fest versprochen …«
»Es ist ja noch Zeit, Richard. Bitte bedränge mich nicht!«
Das leise Gespräch erstirbt bald, sie dreht sich auf die Seite und will nur noch schlafen. Das also war mein Hochzeitstag, denkt sie, während sie ins Traumland hinübergleitet. Der zweiundzwanzigste Dezember. Ich muss es im Kalender vermerken, damit ich es nicht vergesse.
Am folgenden Morgen wacht sie noch vor der gewohnten Zeit auf, weil das Kind in ihrem Bauch sich heftig bewegt. Richards Nachttischlampe brennt, er hat am Abend wohl noch eine Weile gelesen und vergessen, die Lampe auszuschalten. Beim Aufstehen meldet sich der vertrackte Ischiasnerv wieder, aber ansonsten fühlt sie sich erholt, der Kaffee, den Carla unten zubereitet, duftet verführerisch, und auch ihr Appetit hat sich wieder eingestellt. Im Wohnzimmer brennt ein wärmendes Feuerchen im Kamin, sie genießt die frischen Brötchen, die Carla jeden Morgen zaubert, und nimmt die Gelegenheit wahr, Carla noch einmal zu ihrer gelungenen Kleiderwahl zu gratulieren.
»Ja, die Helga«, meint Carla kopfschüttelnd. »Die kann so viel, aber eine Geschäftsfrau ist die net. Die näht fürs halbe Dorf, macht aus den Jacken der Väter ganze Anzüge für die Buben – aber meist nimmt sie nur’n Appel und ein Ei dafür.«
»Dann hoffe ich, dass wenigstens du sie anständig bezahlt hast.«
»Das hab ich getan«, erklärt Carla mit energischem Kopfnicken. »Fünfzehn Reichsmark hat sie von mir bekommen.«
Ilse sagt nichts dazu, aber sie findet diese Bezahlung angesichts der tadellosen und einfallsreichen Arbeit immer noch jämmerlich.
»Man müsste ihr auf die Sprünge helfen«, meint sie nachdenklich. »Aber ich fürchte, ich hab schlechte Karten bei ihr.«
»Das könnt schon möglich sein, Frau Küp… Goldstein. Du liebes Lieschen – ich muss mich erst dran gewöhnen …«
»Da geht es dir genau wie mir«, lacht Ilse und ist schon wieder auf den Füßen, weil sie in der Fabrik die Erste sein will.
»Richte meinem Mann aus, dass ich zum Mittagessen drübenbleibe, weil zu viel zu tun ist«, weist sie Carla an.
»Ach, der Arme«, seufzt Carla. »Frisch verheiratet, und da muss er schon allein zu Mittag essen. Das ist net gut für die junge Ehe, Frau K… Goldstein.«
»Sei so gut und halte mir keine Vorträge«, versetzt Ilse. »Um zwölf bringst du mir das Essen hinüber. Ich versuche, heute Abend pünktlich zu sein. Aber versprechen kann ich es nicht.«
In der Fabrik ist ihr Julius Offenbach zuvorgekommen und hat die Halle aufgeschlossen. Zu ihrem Ärger macht das Türschloss des Büros Probleme, es ist eingefroren und lässt sich erst öffnen, als Julius Offenbach mit Spiritus nachhilft. Kaum ist sie eingetreten und will den Ofen anfeuern, da läutet schon das Telefon. Sie wirft die Kohleschippe zurück in den Eimer und nimmt den Hörer ab – vermutlich eine Reklamation oder eine Nachbestellung. Das wird sie auf nach Weihnachten verschieben, die Kapazitäten sind erschöpft.
»Guten Morgen«, tönt eine bekannte Stimme aus dem Hörer.
Sofort steigt ihr Blutdruck in schwindelnde Höhen. Ihr Bruder Josef. Er hat die Stirn, sie am frühen Morgen in der Fabrik anzurufen. Nun ja, der Brief des Anwalts, den Richard ihr empfohlen hat, ist rausgegangen. Darin hat er Josef die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens in knapper Form deutlich gemacht und das Angebot für eine »gütliche Einigung« energisch zurückgewiesen. Vermutlich will Josef jetzt einlenken.
»Guten Morgen, Josef«, sagt sie. »So früh schon wach?«
Die Frage ist berechtigt, da Josef im Gegensatz zu ihr gern in den Morgen hineinschläft.
»Deine Ironie kannst du dir sparen, Frau Goldstein!«, kommt es ihr prompt entgegen.
Woher weiß er, dass sie geheiratet hat? Ach, vermutlich hat es ihm Julius Offenbach, sein Vermieter, erzählt. Deshalb ruft er sie an?
»Wenn du nur anrufst, um zu stänkern, lege ich jetzt auf«, versetzt sie wütend. »Ich habe einen anstrengenden Arbeitstag vor mir.«
»Ich halt dich net lang auf«, sagt er feindselig. »Du sollst nur wissen, dass ich auf deinen Drecksanwalt pfeife und jetzt erst recht vor Gericht geh.«
»Wenn du dich in einen aussichtslosen Prozess verwickeln willst – bitte sehr. Aber denke nicht, dass ich dir dann weiterhin Geld überweise.«
»Ich brauch dein Scheißgeld net«, platzt er zornig los. »Aber dass das Erbe unserer Eltern jetzt einem Juden gehört, das ist ein Skandal. Dagegen werde ich mit allen Mitteln vorgehen, dass du’s nur weißt.«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagt sie kurz angebunden und legt auf.
Danach muss sie erst einmal warten, bis sich ihr Pulsschlag einigermaßen beruhigt hat. Was für eine unglaubliche Frechheit! Nachdem er seinen Anteil am Erbe durchgebracht hat, nimmt er Richard zum Vorwand, um sich nun ihren Teil anzueignen. Aber nach diesem Anruf wird sie keinerlei Rücksichten mehr nehmen und gleich mal als Erstes die monatlichen Zahlungen streichen.
»Einen schönen guten Morgen, Frau Goldstein. Was für ein Wetter! Auf dem Feldberg soll der Schnee ganze zehn Meter hoch liegen.«
Fräulein Sonntag hat inzwischen ihr Büro betreten, Mantel und Hut ausgeschüttelt und sich gleich darangemacht, den Ofen anzufeuern.
Ilse atmet tief durch, begrüßt ihre Sekretärin in freundlichem Ton und kämpft gegen die aufsteigende schlechte Stimmung an. Was ist nur mit ihr los? Seit wann ist sie so empfindlich und macht aus jeder Mücke einen Elefanten? Der Auftritt ihres Bruders am Telefon war einfach nur lächerlich, sie wird Richard kein Wort davon sagen, das ist die Sache nicht wert.
»Fräulein Sonntag? Ich brauche Sie dann zum Diktat …«
Wie erwartet schlägt nun die Arbeit über ihr zusammen, sie läuft zwischen Büro und Werkshalle hin und her, treibt die Arbeiter an, schimpft über unnötigen Ausschuss, kontrolliert die Kisten, die fertig zum Versand sind, findet Fehler und regt sich darüber auf.
»Das hab ich doch schon hundertmal gesagt! Wenn ihr das so verpackt, brechen die gedrechselten Stäbe ab! Alles wieder raus und neu verpacken!«
Um die Mittagszeit findet sie ein Tablett auf ihrem Schreibtisch. Der Teller ist abgedeckt, um die Mahlzeit warm zu halten, und unter dem Besteck liegt ein Zettel.
Ich wünsche dir einen gelungenen Arbeitstag, meine fleißige Biene. Denk trotzdem ein wenig an deine Gesundheit und übernimm dich nicht. Bis heute Abend, ich freue mich sehr auf dich.
Richard
Ach, wie nett, denkt sie. Beim Essen liest sie es noch einmal, ärgert sich dann aber plötzlich über seine Mahnung. Was meint er mit: »übernimm dich nicht«? Sie trägt schließlich die Verantwortung für alles und kann keine Schlamperei dulden.
Es kommt, wie es kommen muss – es sind wieder Überstunden nötig, um die letzten drei Sendungen fertig zu machen, die morgen rausgehen müssen.
»Gehen Sie ruhig nach Hause, Frau Goldstein«, meint Julius Offenbach fürsorglich. »Ich kümmere mich um alles und schließe hinterher ab.«
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, widerspricht sie. »Ich lasse doch nicht meine Arbeiter Überstunden schieben und lege selbst die Hände in den Schoß.«
»Wenn ich Ihnen das sagen darf«, entgegnet er. »Ihr Vater und ihr Bruder haben das immer so gehalten.«
»Und man hat ja auch gesehen, wohin es geführt hat!«
Sie bleibt stur, obgleich sie so müde ist, dass sie sich am liebsten hinlegen und einschlafen würde. Gegen zehn Uhr schickt sie ihre Arbeiter heim und schließt die Halle ab. Es ist nicht alles erledigt, was sie sich vorgenommen hatte, sie ist unzufrieden, aber es ist nicht zu ändern. Sie wird sich über die Weihnachtstage überlegen, wie sie die Produktion noch effektiver gestalten kann, denn wenn sie nicht genug liefern kann, geht die Kundschaft zur Konkurrenz. Leider haben ihre Ideen inzwischen Nachahmer gefunden, die zwar schlechtere Ware liefern, aber im Preis deutlich unter ihren Produkten bleiben.
Als sie hinüber zur Villa gehen will, sieht sie zwei Scheinwerfer in der Toreinfahrt der Fabrik. Es ist Richards Wagen.
»Steig ein, mein Schatz«, sagt er durch das herabgedrehte Fenster. »Ich bin heute dein Chauffeur.«
Sie ist nicht böse darüber, denn sie hat bleischwere Beine und sehnt sich nach einem gemütlichen Sofa. Trotzdem findet sie seine Fürsorge übertrieben. Hat er geglaubt, sie würde den vereisten Pfad zur Villa nehmen? So ein Unsinn, sie wäre natürlich über den Fahrweg gelaufen.
Im Wohnzimmer erwartet sie ein flackerndes Kaminfeuer und ein schönes Abendessen. Fisch, zwei Sorten Fleisch, Gemüse, Reis und eine von Carlas köstlichen Cremespeisen zum Nachtisch. Sie trinken Tee dazu – Richard verzichtet ihr zuliebe ebenfalls auf den gewohnten Wein.
»Du kannst ruhig ein Gläschen trinken«, bemerkt sie.
»Es geht mir nicht ab«, versichert er. »Möchtest du noch ein wenig von dieser ausgezeichneten Sahnecreme?«
»Eine Kleinigkeit …«
Nach dem Essen fühlt sie sich müde und schwer, aber sie geht nicht zu Bett, sondern setzt sich auf das Sofa – er soll nicht schon wieder behaupten, sie hätte sich übernommen. Ärgerlicherweise schwebt das Telefonat mit Josef ihr noch im Sinn, und sie überlegt, ob sie Richard vorschlagen sollte, ihr die Fabrik ganz offiziell zu überschreiben. Nur aus dem einfachen Grund, dass es lästige Formalitäten ersparen würde, schließlich braucht sie als Fabrikleiterin freie Hand in allen Entscheidungen und muss die Verträge unterschreiben. Aber ihr Kopf ist dazu heute einfach zu müde.
Während sie noch überlegt, wie diese Angelegenheit am einfachsten zu lösen wäre, legt er ihr ein handgeschriebenes Blatt vor die Nase. »Schau dir das einmal an, Liebling. Deine bezaubernde junge Schauspielerin hat sich heute Nachmittag bei mir vorgestellt, und wir haben schon einmal ein Programm verfasst.«
Ja, richtig! Frieda Haller war ausgerechnet heute in ihrem Büro, wo sie überhaupt keine Zeit für sie hatte, und sie hat sie hinüber in die Villa geschickt. Wie es scheint, hat sie Richard sogar vorgesprochen. Nun ja, sie ist eine aparte Erscheinung und offensichtlich auch talentiert, denn Richard zeigt sich ungewöhnlich begeistert.
»Dass solch ein Paradiesvöglein in einem Dorf wie Dingelbach aufwächst – kaum zu glauben«, meint er kopfschüttelnd. »Ich denke, sie wird es an der Bühne weit bringen, denn sie hat alles, was dazu nötig ist: Talent, Charme, Beweglichkeit und eine hinreißende Bühnenwirkung.«
Ilse findet seine Schilderung reichlich überzogen. Natürlich ist sie dazu bereit, eine junge Künstlerin zur fördern, schließlich ist diese szenische Lesung ihre Idee gewesen. Aber nun scheint ja ein ganzer Theaterabend daraus zu werden, und singen will Frieda auch unbedingt. Mit Befremden hört sie nun, dass er auf seine Kosten ein Klavier in Frankfurt leihen und hertransportieren lassen will.
»Es geht um einen guten Zweck, Ilse. Ein lungenkrankes Mädchen, Julia Grossmann heißt sie und benötigt dringend eine Kur in einem Sanatorium. Ich werde unsere Gäste darauf ansprechen und denke, ich kann einiges in die Wege leiten.«
Ilse hat Julia Grossmann letztes Jahr beim Krippenspiel in der Kirche gesehen, da trug sie ein Engelsgewand, und Ilse ist das blasse Gesichtchen mit den großen, umschatteten Augen aufgefallen. Daraufhin hat Carla ihr erzählt, dass das Kind nicht gesund ist. Ach Gott, das arme kleine Ding. Natürlich muss ihr geholfen werden, sie trägt schließlich selbst ein Kind unter dem Herzen und ist voller Mitgefühl. Aber trotzdem …
»Das ist eine gute und wichtige Sache, die ich gern unterstütze«, versetzt sie. »Allerdings hätte es dafür nicht einen solch aufwendigen Theaterabend gebraucht. Eine kurze szenische Lesung hätte auch genügt …«
»Möglich«, meint er und lächelt sie schelmisch an. »Aber es wäre meiner Ansicht nach schade, unsere talentierte junge Schauspielerin zu enttäuschen …«
»Tatsächlich?«, fragt Ilse leicht pikiert zurück. »Sie muss dich ja mächtig beeindruckt haben.«
Er lacht fröhlich und behauptet, Frieda Haller sei eine ungewöhnlich liebreizende Erscheinung, der man einfach verfallen müsse.
»Das merke ich gerade sehr deutlich«, meint sie spitz.
Er runzelt die Stirn und blickt sie überrascht an.
»Was merkst du, Liebling?«
»Dass du ihr verfallen bist«, platzt sie los. »Offensichtlich hat ihr jugendlicher Charme dich um den Verstand gebracht, wenn du sogar ein Klavier aus Frankfurt hertransportieren lässt, damit sie ein Liedchen zum Besten geben kann. Ich finde das alles reichlich übertrieben, Richard.«
Er hört sich ihren zornigen Erguss schweigend an, dann steht er auf und will den Arm um sie legen. Doch sie wehrt ihn ab. »Lass mich jetzt, ich bin müde und möchte mich hinlegen …«
Er lässt sie gehen, folgt ihr auch nicht, sondern bleibt im Wohnzimmer sitzen. Sie macht sich im Badezimmer nachtfertig, sieht flüchtig in den Spiegel und stellt fest, dass sie abgespannt und blass aussieht. Das Haar ist fettig, und unter den Augen haben sich Fältchen gebildet. Dazu dieser riesige Bauch, der täglich zu wachsen scheint. Bald weiß sie nicht mehr, was sie anziehen soll.
Er ist nicht im Schlafzimmer, als sie zurückkehrt – aha, er ist beleidigt. Ärgerlich legt sie sich zu Bett, lässt aber die Nachttischlampe brennen und starrt an die Decke. Natürlich wird er gleich kommen und ihr vorwerfen, sie sei eifersüchtig. Wie lächerlich! Dann wird er sagen, sie sei überarbeitet und daher nervös und überempfindlich. Oh, das soll er nur wagen, sie wird ihm eine deutliche Antwort geben. Sie arbeitet so viel und so lange, wie sie es für nötig hält. Punkt.
Warum kommt er nicht? Es ist schon weit nach Mitternacht, warum lässt er sie so lange warten, das ist rücksichtslos. Soll sie vielleicht aufstehen und zu ihm ins Wohnzimmer gehen? Sich für ihren Ausfall entschuldigen? Oh nein, wenn er darauf aus ist, hat er Pech gehabt. Sie steht immer zu dem, was sie sagt … wenn sie auch in diesem Punkt vielleicht ein wenig übertrieben hat … Warum sollte er sich in dieses junge Ding verliebt haben? Schließlich ist Frieda Haller nicht die einzige hübsche Künstlerin in seiner Bekanntschaft. Nein, da hat sie ihm wohl unrecht getan. Aber deshalb braucht er jetzt nicht die beleidigte Leberwurst zu spielen!
Schließlich schläft sie mit dem Gefühl ein, dass etwas sehr Beklemmendes, Trauriges auf ihr lastet, das sie unbedingt von sich schieben muss, um nicht davon erdrückt zu werden. Am Morgen, als das Kind in ihrem Bauch sie weckt, dreht sie sich auf den Rücken und lauscht. Er ist da, sie kann seine Atemzüge hören.
»Richard?«
»Ich bin hier.«
Es ist noch dunkel, und sie mag die Nachttischlampe nicht einschalten. Aber sie erkennt an seiner Stimme, dass er schon länger wach sein muss.
»Es tut mir leid«, flüstert sie. »Ich war ungerecht und beleidigend. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Verzeih mir bitte.«
Sie vernimmt einen tiefen Atemzug. Dann spürt sie eine sanfte Berührung an ihrer Schulter.
»Vergessen wir es, Ilse.«
Er streicht an ihrem Arm herab, findet ihre Hand und umschließt sie mit den Fingern. Sie ist unendlich erleichtert.
»Möglicherweise habe ich mir doch etwas zu viel zugemutet«, gibt sie zu. »Nach Weihnachten sehe ich mich nach einem tüchtigen Menschen um, der mich etwas entlasten kann.«
»Das ist deine Entscheidung, mein Schatz. Und ich finde sie sehr klug.«
Sie spürt den Druck seiner Hand, und sie weiß, dass er jetzt schmunzelt. Es stört sie nicht, im Gegenteil, sie ist froh und glücklich, dass die Last nun von ihr genommen ist. Kein Streit, keine Entfernung, kein Kummer, keine Reue. Alles ist wieder im Lot. Die Erleichterung gibt ihr neuen Schwung und weckt ihr Organisationstalent.
»Hör zu«, sagt sie eifrig. »Ich habe über die kleine Julia nachgedacht. Es gibt doch Heilstätten speziell für Arbeiterkinder, die vom Roten Kreuz oder ähnlichen Einrichtungen unterstützt werden …«
Natürlich ist ihm das bekannt, aber da sie jetzt in Fahrt ist, erzählt sie ihm, dass eine ärztliche Untersuchung und eine Einweisung nötig sind. Auch sollte man unbedingt mit den Eltern Kontakt aufnehmen, und außerdem …
»Das Mädchen ist krank, Richard, ich hab sie ja selbst gesehen. Man darf diese Sache nicht auf die lange Bank schieben: Je früher etwas geschieht, desto besser. Ich denke, wir sollten die Benefizveranstaltung recht bald machen, vielleicht schon im Januar.«
»Tatsächlich – du hast recht!«, sagt er. »Daran hatte ich gar nicht gedacht. Wie gut, dass ich dich habe, mein Schatz!«
Er setzt sich auf und schaltet die Nachttischlampe ein. Wie blass und übernächtigt er aussieht, im dunklen Bartschatten auf Wangen und Kinn entdeckt sie ein paar weiße Stoppeln. Er lächelt sie an.
»Was hältst du vom siebzehnten Januar?«, will er wissen.