Kapitel 37
Nun ist Weihnachten vorbei, und es ist gar nicht so schlimm gewesen, wie er befürchtet hat. Am Heiligen Abend sind sie alle in die Kirche gegangen, und es hat wieder ein Krippenspiel gegeben, wie alle Jahre. Er hat einen Hirten gespielt, dazu hat er sich die Mütze und die alte Joppe vom Hannes geliehen, und er hat seinen Text richtig und zur rechten Zeit gesprochen. Trotzdem ist er traurig gewesen, weil er daran denken musste, dass die Julia im vergangenen Jahr noch dabei war, und jetzt weiß er nicht einmal, wie es ihr geht. Drei Briefe hat er an sie geschrieben und die Briefmarken für ihre Antwort dazugelegt. Dafür hat ihm die Großmutter extra das Geld gegeben. Aber er hat bis heute keinen Brief von Julia bekommen. Nur die Briefe, die sie ihm in Frankfurt gegeben hat, liegen in einem Tuch eingewickelt in seiner Kammer.
Nach dem Gottesdienst hat die Frau Küpper, die jetzt Frau Goldstein heißt, allen Kindern eine Tüte mit Süßigkeiten geschenkt. Danach hat er lange warten müssen, weil die Marie mit dem Vater beim Kirchanger gestanden ist, um der Frieda für das schöne Krippenspiel zu danken und allen ein »Frohes Fest« zu wünschen. Das tut die Marie, weil sie sich als die Frau Bürgermeister wichtigmachen will.
»Hast du das gesehen?«, hat die Marie zu seinem Vater gesagt, wie sie später im Schützhof gewesen sind. »Geschenke hat sie an die Kinder ausgeteilt. An Ostern machen wir das auch, Otto!«
»Was denn für Geschenke?«, hat der Vater geknurrt. »Ich bin der Bürgermeister und net der Osterhas!«
»Ein Hahnebampel bist, der net einmal eine Gasleitung nach Dingelbach bringen kann!«
Da ist die Stimmung schon wieder verdorben gewesen, und von »Friede auf Erden«, den der Pfarrer Seybold gerade gepredigt hatte, ist im Schützhof nicht viel zu merken gewesen. Im Wohnzimmer hat ein Weihnachtsbaum gestanden, wie die Leute in der Stadt es halten, den hat die Marie unbedingt haben wollen. Sie hat ihn mit silbernen Glaskugeln, Vögelchen und Lametta geschmückt, die sie in Frankfurt auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hat, und weiße Kerzen daraufgesteckt. Aber die Großmutter hat schreckliche Angst gehabt, dass der ganze Hof abbrennen könnte, deshalb hat sie darauf bestanden, dass neben der Tür ein Eimer mit Wasser stehen muss.
»So eine Verschwendung!«, hat sie geschimpft. »Ein Heidengeld hat der Otto für diesen unnützen Kram ausgegeben. Früher, da haben wir ein paar Tannenreiser geholt, und es hat Äpfelchen, Nüsse und Plätzchen gegeben. Aber bei der Marie muss ja alles fein ›städtisch‹ sein …«
Der Rücken der Großmutter ist seit einiger Zeit gottlob wieder besser geworden, und sie sagt jetzt öfter, was sie denkt. Das gefällt der Marie nicht, sie hackt zurück wie ein gereiztes Hinkel, aber der Vater mischt sich nicht mehr ein und lässt die beiden Weibsbilder ihre Sache allein ausfechten.
Das Abendessen haben sie im Wohnzimmer eingenommen, da hat die Marie den Tisch festlich mit dem weißen Leinentischtuch und dem neuen Geschirr gedeckt. Sie sind nur zu viert gewesen, denn der Hannes und die Gretel haben in der Küche bleiben müssen. Das Essen hat die Gretel mithilfe der Großmutter ganz gut hinbekommen, nur das Fleisch war zäh und die Klöß ein wenig verkocht. Da hat die Marie wieder auf den alten Herd geschimpft, und der Vater hat gesagt, ob sie nicht wenigstens am Heiligen Abend einmal Ruhe geben könnt. Aber bevor sie wieder mit Streiten anfangen konnten, ist Heinz das Glas aus der Hand gerutscht, weil er nicht gewohnt ist, aus einem Weinglas mit einem Stiel daran zu trinken, und natürlich hat die Marie ein fürchterliches Theater um das teure Glas gemacht. Die Gretel hat kommen müssen, um die Scherben aufzusammeln, und dann hat sie den guten Teppich mit einem feuchten Lappen wischen müssen, weil der Apfelmost vielleicht Flecken hinterlässt.
»Wenn einer so dabbisch is, der sollt in der Küch essen, net im guten Zimmer …«
Da hat der Vater schließlich gesagt, sie solle endlich das Maul halten, und gleich ist die Großmutter eingefallen.
»So was kann einem Bub halt einmal passieren. Hättste die alten Gläser genommen, dann brauchteste jetzt net zu jammern.«
Da haben sie dann um das teure neue Geschirr gestritten, bis die Gretel die Bratäpfel gebracht hat, die sind köstlich gewesen mit Nüssen und Erdbeermarmelade drin, und schließlich hat die Marie geseufzt, dass sie sich ja heut net hat ärgern wollen, weil Heiliger Abend ist.
Nach dem Essen hat es die Geschenke gegeben. Das meiste hat die Marie bekommen, das war lauter Weiberkram, Parfüm, seidene Pantoffeln und ein kleines glitzerndes Täschchen und noch andere Sachen, die niemand brauchen kann. Der Vater hat eine Kiste mit Zigarren und zwei neue Hemden erhalten, die Großmutter eine Schürze und warme Strümpf. Heinz hat auf seinem Gabentisch wie immer neue Unterwäsche, gestrickte Socken und Handschuhe gefunden, aber unter den Socken hat etwas hervorgeschaut, das ist ein nagelneues Taschenmesser gewesen.
»Weil du immer so hübsche Schnitzereien machst«, hat die Marie in süßlichem Ton gesagt.
Er hatte tatsächlich für alle eine kleine Schnitzerei angefertigt. Die Großmutter und die Gretel haben Herzen bekommen, der Hannes und der Vater einen Stern. Für die Marie hat er einen kleinen Engel mit Locken und Flügeln gemacht, der sollte eigentlich für die Großmutter sein, aber dann ist ihm ein Flügel abgebrochen, und er hat ihn anleimen müssen. Deshalb hat er den Engel dann doch der Marie geschenkt, und sie hat sich sogar darüber gefreut.
»Nein, wie goldig! Grad so wie unser Bub ausschauen wird, wenn er auf die Welt kommt.«
Aber Heinz glaubt trotzdem, dass es der Vater gewesen ist, der das Taschenmesser für ihn gekauft hat.
Wie er dann ins Bett geschickt wurde, hat er noch lange wach gelegen und unter sich das Schnaufen und Kettenrasseln der Kühe gehört. Es gefällt ihm, weil es so warm und lebendig ist, aber trotzdem hat er immer nur an die Julia denken müssen. Warum schreibt sie ihm nicht? An den teuren Briefmarken kann es nicht liegen, die hat er ja gekauft und dazugelegt. Dann wird sie wohl zu krank zum Schreiben sein, denkt er, und sein Herz zieht sich zusammen.
Der erste Weihnachtstag hat wie immer mit der Stallarbeit begonnen, danach sind sie wieder in den Gottesdienst gegangen, aber der ist langweilig gewesen, da es kein Krippenspiel gegeben hat. Nur Lehrer Hohnermann hat viel und schön auf der Orgel gespielt, und er hat auch nicht aufgehört, wie schon alle aus der Kirche gegangen waren. Die Männer sind hinüber in den »Raben«, um noch einen weihnachtlichen Frühschoppen zu nehmen, aber der Vater durfte nicht dabei sein, der musste mit der Marie nach Heringsdorf fahren. Darüber hat sich die Großmutter sehr gefreut, denn nun konnte sie mit der Gretel und dem Hannes zusammen in der Küche essen. Es hat Reste vom Vortag gegeben, die haben richtig gut geschmeckt, weil das Fleisch jetzt weich gewesen ist. Danach hat Heinz gewartet, bis die Großmutter mit der Gretel das Geschirr abgewaschen hat, und dann ist er schnell ins Wohnzimmer geschlichen und hat eins von den Parfümfläschchen in die Hosentasche gesteckt. Anschließend hat er noch eine Wurst aus dem Rauchfang genommen, die hat er unter der Jacke verborgen, und mit diesen Schätzen ist er vom Hof gelaufen. Im »Raben« hat die Guckes Karin im Schankraum gestanden und Gläser gespült. Wie sie ihn gesehen hat, hat sie geschimpft, dass sie nicht einmal an Weihnachten ihre Ruhe hat und arbeiten muss und dass die Marthe Haller es gut hätte, die würde ihren Laden über die Feiertage einfach zumachen.
»Du willst wohl zu deiner Mutter, wie? Die ist net da. Rüber zum Killinger Hannes ist sie. Lässt mich mit der Arbeit sitzen, die faule Person …«
Er ist schnell wieder gegangen und hat gedacht, dass die Guckes Karin und der Jörg den »Raben« an Weihnachten ruhig hätten zumachen können. Aber sie tun’s net, weil sie auf den Verdienst aus sind. Beim Killinger Hannes ist die Schmiede unten kalt gewesen, aber der Schornstein vom Haus hat geraucht, und wie er hineingegangen ist, hat er schon die laute Stimme von der Ida gehört.
»Aber ob er wirklich am fünfundzwanzigsten Dezember geboren ist, das weiß keiner. Das haben die Kirchenleute einfach so bestimmt.«
Im kleinen Wohnzimmer vom Killinger Hannes ist es so voll gewesen, das man hätte meinen können, es platzt gleich auseinander. Da waren die drei alten Leutchen vom Grossmannhof, das Lenchen, die Anni und der Adam, aber auch der Dorfheiler Alberti und seine Marlis. Dazu der Killinger Hannes, die Ida und seine Mama. Sie haben dicht gedrängt am Tisch gesessen und heißen Äppler mit Zimt getrunken, und wie sie ihn gesehen haben, hat die Ida gerufen: »Hab ich’s net gesagt?«
Alle haben ihn fröhlich begrüßt, der Hannes hat aus der Schmiede einen Hocker geholt, damit er sich dazusetzen konnte, und die Marlis hat im Schrank nach einem Becher für ihn gesucht. Heinz ist zu seiner Mutter gegangen, und weil Weihnachten ist, hat er es gelitten, dass sie ihn in die Arme genommen hat. Sie hat ihn auch nur fest an sich gedrückt und kein bisschen dabei geheult. Darüber ist er sehr froh und erleichtert gewesen.
»Ich hab dir auch ein Geschenk gebracht, Mama.«
»So ein teures Parfüm. Wo hast du das her, Heini?«
»Das hab ich für dich besorgt.«
Er hat gesehen, dass die Ida gegrinst hat, und da wusste er, dass sie ihn durchschaut hat. Aber sie hat nichts gesagt. Die Räucherwurst hat er der Großmutter Anni geschenkt, weil er weiß, dass sie so gern geräucherte Blutwurst isst. Weil sie kaum noch Zähne im Mund hat, muss sie sie immer in ganz winzige Stückchen schneiden. Sie ist ganz unglücklich gewesen, weil sie kein Geschenk für den Enkel hat, da hat er sie auch umarmt und gemeint, dass sie heute Nacht einen guten Wunsch für ihn zum Christkind schicken soll, der würde bestimmt in Erfüllung gehen.
»Du bist ein kluger kleiner Bursche«, hat der Alberti Rudolf gemeint. »Und recht hast du auch, denn Wünsche, die in der Weihnachtsnacht getan werden, gehen immer in Erfüllung.«
Die Mama hat natürlich auch etwas für ihn gehabt, nämlich fünf Zinnsoldaten, solche, wie der Kurt sie besessen hat. Zwei sitzen auf einem Pferd, die anderen drei sind Fußsoldaten. Alle sind bunt angemalt und haben hohe schwarze Helme auf, und jeder trägt einen Säbel, auch die Reiter. Er ist ganz begeistert gewesen, weil nur wenige Jungen im Dorf solch schöne Zinnsoldaten besitzen.
»Die Ida hat sie für mich in Frankfurt gekauft«, hat ihm die Mutter gestanden. »Hat sie gut ausgesucht? Gefallen sie dir?«
»Die sind famos, Mama!«
Er hat sie vor sich auf den Tisch gestellt, da haben sie zwischen den vielen Bechern und dem Teller mit Weihnachtsgebäck kaum Platz gefunden, und wenn der Killinger Hannes neben ihm seinen Äppler getrunken hat, ist immer der eine Reiter umgefallen. Aber das hat Heinz nicht gestört, denn es ist fröhlich zugegangen, und alle haben gelacht, weil die Ida immer ihren Senf dazugegeben hat. Das Lenchen hat gesagt, dass man zwischen den Jahren keine Wäsche heraushängen darf, weil sonst der wilde Jäger kommt und sie mitnimmt.
»Zieht der das dann an?«, hat die Ida geflachst.
»Das weiß ich net«, hat Lenchen kopfschüttelnd gemeint.
»Die Nachthemden von der Marie mit den Spitzen dran bestimmt net«, vermutet Heinz und erntet Gelächter.
»Aber auch die Nägel darfst du dir net schneiden bis Neujahr«, warnt die Anni Christ. »Weil du sonst Kopfschmerzen oder die Gicht kriegen kannst.«
»Das ist doch ein dummer Aberglaube!«, ruft die Marlis Alberti.
»Ob ich die Nägel geschnitten hab, das weiß ich gar net«, lässt sich der Killinger Hannes vernehmen. »Aber Kopfschmerzen hab ich am Neujahrstag immer.«
»Weil du am Abend vorher halt zu viel gesoffen hast«, meint der Knecht Adam grinsend.
So ist es weitergegangen, und sie haben so viel lachen müssen, dass das Lenchen gemeint hat, sie hätte jetzt Bauchschmerzen davon. Der Hannes hat den Ofen so eingeheizt, dass ihnen der Schweiß herunterlief, und alle sind froh gewesen, als die Mama ein Fenster aufgemacht hat, dass einmal ein wenig frische Luft hereinkommt. Draußen ist es längst dunkel gewesen, und im Licht der Laterne bei der Kirche hat man sehen können, dass es schon wieder schneit.
»Viel Schnee gibt eine gute Ernte«, hat der Alberti Rudolf behauptet.
»Da friert das Ungeziefer kaputt«, hat der Adam zugestimmt.
»Und die Füß erfriert man sich auch«, hat das Lenchen geseufzt.
Es ist spät gewesen, als die Mama und der Alberti Rudolf mit den drei alten Leutchen zum Grossmannhof gelaufen sind. Der Adam hat zwar gemeint, er allein sei Manns genug, um die zwei Weibsleut heimzubringen, aber weil er nicht mehr so ganz fest auf den Beinen hat stehen können, sind der Rudolf und die Mama lieber mitgegangen. Heinz ist noch mit dem Killinger Hannes und der Ida in den Stall, um dem Willibald »Frohe Weihnachten« zu wünschen. Der hat sehr vergnügt seinen Extrahafer gekaut, aber er hat ihnen nicht geantwortet. Und dabei heißt es doch, dass die Tiere in der Weihnachtsnacht wie Menschen reden können.
»Der braucht net wie ein Mensch reden«, hat die Ida gesagt und dem Willibald das weiche Maul gestreichelt. »Den versteh ich auch so.«
Im Stall hat es kräftig nach Hengst gerochen, da hat der Killinger Hannes gelacht und gemeint, dass sich die Frau Kaldenbach vielleicht wundern wird, was für Fohlen ihre Stuten werfen werden, und dass die gewiss alle dem Willibald ähnlich sehen.
»Da musst du Deckgeld verlangen«, lacht Ida.
»Das kannste aber glauben«, findet der Hannes. »Was Besseres wie der Willibald kann den feinen Stütchen gar net passieren. Der ist der schönste Hengst weit und breit.«
Als er danach mit der Ida zusammen heimgelaufen ist, haben sie die Mama und den Alberti Rudolf getroffen, die vom Grossmannhof wieder zurückgekommen sind. Da haben sie noch ein Weilchen beim Kirchanger gestanden und über die drei alten Leutchen geredet, und der Alberti Rudolf hat gemeint, dass der Schütz Otto vier Höfe besäße, aber nur auf zwei davon Vieh hielte und sonst das Land bewirtschaften ließe und dass in den Wohnhäusern die Tagelöhner wohnen würden.
»Da könnt man leicht ein Plätzchen für die drei finden.«
»Der Otto, der würd sich eher alle Finger abschneiden, als drei alte Leut in eines seiner Häuser zu setzen«, hat die Mama zornig gesagt.
»Den packen wir bei seiner Ehre als Bürgermeister«, hat die Ida gemeint. »Onkel Schorsch hat neulich wieder gesagt, dass der Schütz Otto nichts für Dingelbach tut und man ihn deshalb absetzen muss.«
Wie Heinz das gehört hat, ist er zornig geworden, weil er es nicht leiden kann, wenn schlecht über den Vater geredet wird.
»Den könnt ihr gar net absetzen, weil der für zehn Jahre gewählt ist!«, hat er geschimpft.
Dann hat er allen ein »Guude« gewünscht und ist zum Schützhof gelaufen. Dort ist er über das Tor geklettert und in seine Kammer über dem Kuhstall geschlüpft. Wie gut, dass er jetzt nicht mehr im Haus wohnt, da merkt nicht einmal die Großmutter, wann er heimkommt.
Am zweiten Weihnachtstag ist dann schon alles wieder wie immer gewesen, nur dass die Marie Kopfschmerzen gehabt hat und der Vater am Abend lange im »Raben« gesessen ist. Heinz hat mit dem neuen Messer geschnitzt und überlegt, ob er den Vater einmal wegen der drei alten Leutchen fragen soll. Die könnten doch auf dem Matheshof wohnen, der ist mitten im Dorf und das Haus nur wenig kaputt. Aber er hat es doch nicht getan, weil er gerade jetzt den Vater nicht gegen sich aufbringen will, wo er wieder freundlich zu ihm ist.
Insgesamt ist er mit den Weihnachtstagen recht zufrieden. Für Silvester hat er im Dorfladen Knallfrösche besorgt, die muss man kaufen, wenn die Ida allein im Laden ist, das wissen alle Bauernkinder in Dingelbach, und wer zu Weihnachten ein paar Groschen geschenkt bekommen hat, der setzt sie gleich im Dorfladen um. Ärger gibt es auf jeden Fall, weil die Knallerei das Vieh und die alten Leute verschreckt, aber das stört die Dingelbacher Buben nicht. Da kommen sie hinter der Kirche bei der Dorflinde zusammen und freuen sich, wenn’s so richtig knallt und hüpft. Wenn der Lehrer Hohnermann dann herbeiläuft und meint, sie sollten es net übertreiben, dann warten sie, bis er fort ist, und machen weiter.
Heute will die Verwandtschaft aus Heringsdorf zu Besuch kommen, da hetzt die Marie die arme Gretel herum, dass das Wohnzimmer blitzsauber ist, der Ofen warm angeheizt und die Fenster geputzt. Gewaschen haben sie auch, aber die Wäsche net draußen aufgehängt, wo sie im Frost hart gefriert, sondern oben im Dachboden. Da wird der wilde Jäger wohl Mühe haben, die Unterhosen von der Marie mitzunehmen, es sei denn, er zwängt sich durch das runde Dachfenster. Unten im Wohnzimmer deckt die Marie den Kaffeetisch mit dem neuen Geschirr, und Kuchen hat sie auch gebacken.
»Da schau einer an«, sagt die Großmutter missgünstig. »Wenn die Sippschaft aus Heringsdorf kommt, dann ist ihr unser alter Herd gut genug.«
Backen kann sie, die Marie. Sie hat Windbeutel gemacht und mit geschlagener Sahne gefüllt, aber der Schmandkuchen, den die Großmutter gebacken hat, schmeckt bestimmt besser, weil da mehr dran ist. Einstweilen steht der Kuchen in der Küche, und keiner darf etwas davon probieren. Stattdessen muss Heinz den guten Anzug anlegen, und die Marie kontrolliert, ob er auch den Hals gewaschen hat. Auch die Großmutter macht sich fein, denn sie ist eitel und will bei der Heringsdorfer Verwandtschaft Ehre einlegen. Aber der Vater hat sich schon wieder den Zorn seiner Ehefrau eingehandelt, denn er hat eine Zigarre im Wohnzimmer geraucht.
»Da mach ich alles schön, und du verstänkerst das Zimmer mit deinem Zigarrenqualm! Rauch halt auf dem Hof, da stört’s keinen.«
Wieso schenkt sie ihm zu Weihnachten Zigarren, wenn er sie nicht im Haus rauchen darf?, denkt Heinz. Wenn die so weitermacht, dann wohnt der Vater bald mit mir und dem Hannes über dem Kuhstall, und das ganze Haus gehört der Marie.
Der Besuch kommt spät, weil das Automobil vom Herrn Schäfer unterwegs in eine Schneewehe gerutscht ist und sie warten mussten, bis jemand vorbeikommt, dass er ihnen hilft, es wieder herauszuziehen. Maries Mutter jammert, sie hätte sich die Füße erfroren, und ihr Vater hat ganz rote Ohrwascheln von der Kälte, aber im warmen Wohnzimmer beruhigen sie sich, und die Marie schenkt ihnen heißen Kaffee ein. Heinz macht brav seinen »Diener« bei der Begrüßung und darf sich mit an den Tisch setzen. Das Stück Schmandkuchen muss er mit der Kuchengabel essen und darf es nicht wie gewohnt in die Hand nehmen, das hat ihm die Marie noch eingeschärft, und er hält sich brav daran. Aber der Vater tut es nicht, obgleich er weiß, dass er die Marie damit ärgert. Sie reden über die Landwirtschaft und über die vielen Arbeitslosen, die in Königstein immer noch auf den Straßen herumlungern. Herr Schäfer will von Heinz wissen, was er einmal werden will, wenn er groß ist, und lacht furchtbar, als Heinz erklärt, er wolle Farmer in Amerika werden.
»Das ist ein mutiges Vorhaben«, sagt er dann, wieder etwas ernster. »Aber wenn du willst, kannst du auch gleich nach der Schulzeit bei mir auf dem Hof anfangen.«
»Vielleicht«, sagt Heinz und denkt bei sich: Das könnte dir so passen, dass ich für dich den Knecht mache.
Nach dem Kaffeetrinken muss die Gretel den Tisch abräumen und alles in die Küche tragen, und die Marie schenkt den Gästen ein Gläschen Johannisbeerlikör ein. Dazu will Herr Schäfer eine Zigarre rauchen, und der Vater lässt sich nicht lange bitten und tut mit. Jetzt hat die Marie auf einmal nichts mehr dagegen, dass geraucht wird, sie macht auch nicht das Fenster auf, sondern redet mit ihrer Mutter und der Großmutter über das Kinderkriegen und lauter anderen Weiberkram. Heinz sieht die Gelegenheit gekommen, sich davonzuschleichen und rasch hinunter in die Küche zu laufen, bevor die Gretel und der Hannes alle Kuchenreste aufgegessen haben. Aber wie er gerade aufgestanden ist, geht die Wohnzimmertür auf, und die Ida Haller spaziert herein.
»Ich wollt net lang stören«, sagt sie und lächelt freundlich in die Runde. »Aber ich hab eine Einladung für den Herrn Bürgermeister, die will ich ihm überbringen.«
Die Marie hat schon einen zornigen Satz auf den Lippen gehabt, weil die Ida so einfach hereinkommt und nicht einmal anklopft. Aber wie sie etwas von einer »Einladung für den Bürgermeister« hört, schluckt sie den Ärger hinunter und setzt ein freundliches Lächeln auf.
Ida zieht einen Briefumschlag aus der Jackentasche, den gibt sie aber nicht der Marie, die schon die Hand ausstreckt, sondern dem Vater.
»Was für eine Einladung?«, will der misstrauisch wissen, weil er die Ida und ihre ausgefallenen Ideen kennt.
»Ein großer Theaterabend mit Frankfurter Schauspielern im ›Raben‹«, erklärt Ida. »Das ist eine Benefizveranstaltung für einen guten Zweck.«
Jetzt öffnet der Vater doch den Umschlag und zieht eine Karte heraus, die ist ganz vornehm goldumrandet und mit schöner Druckschrift beschrieben. Die Marie will die Karte gleich haben und gibt sie ihrem Vater zum Lesen.
»Für einen guten Zweck«, sagt sie und lächelt Ida gewinnend an. »Da sind wir natürlich dabei, gell, Otto?«
»Es ist für ein kleines Mädchen aus dem Dorf, das einen Aufenthalt in einem Lungensanatorium benötigt«, erklärt Ida. »Die Julia Grossmann.«
»Was?«, entfährt es dem Vater. »Da hat doch schon der Hohnermann gewollt, dass ich Geld in seine Büchse tu. Aber da gibt’s nix!«
»Natürlich gehen wir hin«, bestimmt die Marie energisch und schaut dabei ihre Eltern an, die ihr Beifall nicken. »Als Bürgermeister haben wir da Ehrenplätze, und Spenden geben wir auch.«
Aber der Vater ist bockig. Schon weil die Marie jetzt auch noch ihre Eltern hinter sich hat.
»Da kannst allein gehen, wenn du’s dir net verkneifen kannst«, sagt er und stößt den Zigarrenstummel auf das Tellerchen, dass ihm die Gretel als Aschenbecher hat bringen müssen. »Ein Lungensanatorium! Das ist was für reiche Leut. Bei uns in Dingelbach, da wird gestorben, wenn einer die Schwindsucht hat, weil ein Bauer sich kein Sanatorium leisten kann.«
Heinz bekommt einen furchtbaren Schrecken, wie der Vater so redet. Ja, es sind schon Leute in Dingelbach an der Schwindsucht gestorben, aber nur Erwachsene und keine Kinder. Die Julia ist doch viel zu jung, um schon zu sterben!
»Wenn du daheimbleiben willst, Otto«, lässt sich jetzt die Großmutter vernehmen, »dann musst du das halt tun. Aber ich geh mit der Marie und dem Heini in den ›Raben‹, da kannste Gift drauf nehmen.«
Jetzt halten die Großmutter und die Marie gegen den Vater zusammen, das hat es ja noch nie gegeben! Und auch Herr und Frau Schäfer sind der Ansicht, dass eine solche Veranstaltung eine gute Sache sei, ähnliche Aktionen habe es auch schon in der Kirchengemeinde in Königstein gegeben.
»Die Einladung ist sehr ansprechend gedruckt«, bemerkt Herr Schäfer. »Wo habt ihr das machen lassen?«
»Die hat die Frau Goldstein von der Fabrik bei einer Druckerei bestellt«, erklärt Ida. »Frau Goldstein ist nämlich die Schirmherrin der Veranstaltung.«
Es klingt sehr großartig, wie sie das so von sich gibt, und Heinz ist mächtig stolz auf Ida. Der Vater sagt nun nichts mehr, aber die Marie und die Großmutter erklären, dass sie sich sehr auf den Abend freuen, und Herr Schäfer meint, auch er würde gern anwesend sein, aber leider hielte die Arbeit in seinem Hotel ihn davon ab.
»Die Eintrittskarten kosten eine Reichsmark für Erwachsene, Kinder die Hälfte«, sagt Ida freundlich. »Wenn Sie sich gleich entscheiden, kann ich Ihnen die besten Plätze reservieren.«
Die Marie schaut den Vater auffordernd an, aber der Herr Schäfer zieht sein Portemonnaie.
»Ich leg’s euch vor, das kann der Otto mir nachher wiedergeben …«
Er kauft drei Karten für Erwachsene und eine für ein Kind, die ist für Heinz. Ida steckt das Geld ein und gibt ihnen dafür vier Karten, die sehen aus wie Kinokarten. Drei rote und eine blaue.
»Da dank ich auch schön und wünsche noch einen angenehmen Abend«, verabschiedet sie sich, nickt allen freundlich zu, und weg ist sie.
Am Abend hockt Heinz ganz aufgeregt auf seinem Bett und schreibt den vierten Brief an Julia.
Jetzt wird bald alles gut werden, weil Du in ein Sanatorium kommst und dann ganz gesund wirst. Dann fahren wir zusammen nach Amerika, und wenn Du willst, können wir auch heiraten …
Als der Brief fertig ist, legt er sich hin und überlegt beim Einschlafen, was er noch tun könnte, um Julia zu helfen. Vielleicht das neue Messer verkaufen? Der Kessel Willi hat ihm zwei Reichsmark dafür geboten, aber er hat es ihm nicht geben wollen, weil der Vater es ihm gekauft hat. Aber wenn es für die Julia ist, würde er es schon tun.