Kapitel 38
Heute also ist der Tag. Sonntag, der 17. Januar. Hohnermann ist früh auf den Füßen, hat den guten Anzug angelegt und die Noten unter den Arm geklemmt. Den Gottesdienst muss er heute ausfallen lassen, Frau Pfarrer Seybold spielt die Orgel, das hat er schon vor zwei Wochen mit ihr ausgemacht. Pünktlich um zehn nach acht steht Frieda vor seiner Tür; sie wollen gemeinsam hoch zum Bahnhof laufen, um die Freunde aus Frankfurt abzuholen.
»Gib mir deine Tasche«, sagt er.
Sie trägt einen gut gefüllten Beutel, in dem ihre Kostüme sind, die sie aus dem Theaterfundus geliehen hat.
»Dankschön«, sagt sie und strahlt ihn an. »Das ist lieb von Ihnen.«
Ein Schneegestöber weht ihnen entgegen, als sie hinauf zum Bahnhof steigen. Es ist noch dunkel, die erleuchtete Halle der Fabrik weist ihnen den Weg. Oben am Bahnhof hat man eine Lampe aufgestellt, aber die brennt nicht sehr hell. Frieda geht munter neben ihm her und gesteht, dass sie schreckliches Lampenfieber hat und in der Nacht kaum schlafen konnte.
»Nicht wegen mir«, erklärt sie. »Ich freu mich immer, wenn ich Theater spielen darf. Aber der Harry und die Annemarie, die sind so ängstlich, wenn die uns bloß net die Szenen schmeißen. Auf den Rudi, da kann ich mich verlassen, der ist immer voll in seiner Rolle drin …«
Er gibt sein Bestes, um sie zu beruhigen, hat aber nicht das Gefühl, erfolgreich zu sein. Ach, wie hübsch sie ist, wenn die Kälte ihre Wangen rötet und sie so aufgeregt daherschwatzt! Sie hat ein wollenes Tuch um den Kopf gelegt, weil der Frost in die Ohren beißt, aber das dunkle Haar schaut heraus, und auf ihren Wimpern fangen sich die Schneeflöckchen. Oben am Bahnhof müssen sie ein paar Minuten auf den Zug aus Frankfurt warten, da hat sie keine Scheu, sich dicht an ihn zu drängen.
»Sie sind mein Windbrecher«, lacht sie. »Sie halten mir den Schnee vom Leib.«
Er ist einen Moment lang versucht, den Arm um sie zu legen, aber er tut es doch nicht, weil in der Ferne schon die Lichter der Bahn zu sehen sind. Als die drei jungen Leute aussteigen, wird es lebendig um ihn, es gibt herzliche Umarmungen, aufgeregte Rufe, Gelächter und dumme Sprüche. Wobei sich besonders ein junger Mann namens Harry hervortut; der andere heißt Rudi und ist ein sympathischer, eher zurückhaltender Mensch. Frieda stellt Hohnermann als ihren »musikalischen Begleiter und Förderer« vor, und man schüttelt ihm wohlwollend die Hand. Hat sie die Freunde vorgewarnt, dass er eine Kriegsverletzung hat? Keiner starrt ihm erschrocken ins Gesicht, niemand stellt dumme Fragen. So stapft er mit Friedas Beutel über der Schulter hinter den eifrig schwatzenden jungen Leuten her und freut sich gutmütig über deren unbefangene Fröhlichkeit.
In der Villa werden sie gleich am Eingang von Carla Ritter in Empfang genommen. Die kennt er gut, weil sie oft im Dorfladen ihre Einkäufe macht.
»Ja, der Herr Hohnermann«, sagt sie und schüttelt ihm die Hand. »Das ist aber recht, dass Sie auch einmal zu uns in die Villa kommen.«
Die Mäntel, Mützen und wärmenden Tücher werden abgelegt und von Carla irgendwohin getragen, dann schickt sie sie hinauf in den zweiten Stock, wo sich das »Atelier« des Herrn Goldstein befindet. Hohnermann spürt, dass er befangen ist. Die Innenräume der Villa hat er noch nie betreten, auch Richard Goldstein hat er nur im Automobil durch den Ort hinauf zur Villa fahren sehen, ansonsten kennt er ihn nur vom Hörensagen. Im Dorf wird abfällig über ihn als »reicher Jud« gesprochen. Frieda hat ihm jedoch begeistert erzählt, dass Herr Goldstein in Wahrheit ein sehr gebildeter, kunstsinniger und charmanter Mann sei. Beides hat ihm nicht gefallen.
Er betritt als Letzter das »Atelier« und wartet höflich ab, bis Herr und Frau Goldstein die jungen Schauspieler mit großer Herzlichkeit begrüßt haben. Frau Goldstein, ehemals Frau Küpper, trägt ein weit geschnittenes blaues Kleid mit einer lockeren Jacke darüber. Die Gerüchte stimmen also: Sie erwartet ein Kind. Herr Goldstein sieht, wie befürchtet, ausgesprochen gut aus: der typische weltgewandte Bonvivant, höflich, liebenswürdig und sehr beredt.
»Lieber Herr Hohnermann, wir sind ja so gespannt auf Ihre Kompositionen, die uns Fräulein Haller vortragen will«, sagt Frau Goldstein und schüttelt ihm die Hand so fest, wie es sonst nur Männer tun.
»Ich hoffe sehr, dass diese kleinen Liedchen Ihnen gefallen werden«, sagt er und fühlt sich sehr unsicher dabei. »Ich habe sie eigentlich für ein Theaterstück geschrieben, das Frieda verfasst hat …«
»Sie hat ein Theaterstück verfasst?«, mischt sich Herr Goldstein ein. »Das hat sie uns ja gar nicht erzählt!«
»Oh, ich glaube, es ist noch in der Entstehung«, stellt er die Sache richtig und bereut, aus dem Nähkästchen geplaudert zu haben, was sonst gar nicht seine Art ist. Es muss daran liegen, dass er sich hier so deplatziert fühlt und daher Unsinn redet. Dabei sind die beiden Goldsteins sehr nett und bemüht. Sie haben alles sorgfältig vorbereitet, eine kleine Bühne mit einem roten Samtvorhang aufgebaut, Stühle für die Besucher hingestellt und in einem Zimmer eine Art Garderobe und Aufenthaltsraum für die Schauspieler eingerichtet. Außerdem steht neben der Bühne ein Klavier: ein Ibach, auf dem er spielen darf.
»Wir haben gestern den Klavierstimmer hier gehabt«, erklärt ihm Herr Goldstein und öffnet den Deckel der Tastatur. »Sie sollen ja ein großartiger Organist sein, hat mir meine Frau erzählt.«
»Ach, da hat sie wohl etwas übertrieben …«
Das Lob ist ihm peinlich, er ist stets voller Selbstzweifel. Ja, er wollte einmal ein guter Musiker werden, das war vor dem Krieg. Aber es hat nicht sollen sein.
Er stellt seine Noten auf und will sich auf den Klavierhocker setzen, weil er glaubt, man würde jetzt mit der Probe beginnen. Aber da bringt Carla Kaffee und ein kräftiges Frühstück, damit sich die Künstler erst einmal stärken können. Die jungen Leute lassen sich nicht lange bitten, auch Herr und Frau Goldstein setzen sich dazu, geben Erklärungen, stellen Fragen, und es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch. Er selbst ist viel zu nervös und bringt nur eine Tasse Kaffee und ein halbes Brötchen herunter. Es geht schon auf neun Uhr, um elf beginnt die »Matinee«; wie man jetzt in aller Ruhe frühstücken und schwatzen kann, ist ihm ein Rätsel. Als sie endlich aufstehen und mit den Proben beginnen wollen, erscheint auch noch Ida Haller, die von allen mit großer Freude begrüßt wird, und natürlich setzt sie sich an den Tisch und spricht dem gebotenen Frühstück mit großem Appetit zu. Während sie kaut, gibt sie bereits ihre Anweisungen, schlägt vor, dass parallel geprobt werden soll, Frieda mit dem Lehrer Hohnermann am Klavier, die anderen probieren währenddessen die Szenen, bei denen Frieda nicht mitspielt. Das klingt vernünftig und beruhigt ihn etwas. Ida hat schon seinerzeit in der Schule für Ordnung gesorgt, sie wird vermutlich auch dieses Chaos in den Griff bekommen.
Als er am Klavier sitzt, ist auf einmal alle Beklemmung verflogen. Er hört kaum, was sich neben ihm auf der Bühne tut, er ist in seine Musik vertieft und freut sich an Friedas forscher Art, die Lieder vorzutragen. Ihre Texte sind frech, wie es zurzeit überall gang und gäbe ist, sie besingt das grüne Auto, das vier Räder und eine Hupe hat, wobei sich »Räder« auf »jeder« reimt, was aber gar nicht stört. Das zweite Lied preist die Vorzüge und Tücken des Regenschirms, auch das ist witzig geschrieben, und er folgt ihren Einfällen musikalisch, was ihm viel Freude macht.
Herr Goldstein steht daneben und spendet Beifall, wobei er sich jedoch mehr an die Interpretin als an den Komponisten wendet. Hohnermann ist nicht beleidigt, weil ihm die Eitelkeit eines Künstlers abgeht, aber es stört ihn, wie Richard Goldstein Frieda mit Schmeicheleien überschüttet. Dessen Ehefrau ist inzwischen mit Vorbereitungen für die Gäste beschäftigt, die offensichtlich mit Sekt und Kaviar empfangen werden; auf der Bühne wirkt Ida lautstark als Kritikerin und Regisseurin.
Um halb elf Uhr bittet Frau Goldstein darum, die Proben zu beenden, da soeben die ersten Gäste vorgefahren sind. Der Bühnenvorhang wird vorgezogen, und die »Künstler« verschwinden in dem für sie eingerichteten Zimmer. Er bemerkt erst jetzt, dass es eigentlich ein Schlafzimmer ist; man hat das Bett mit einem Tuch abgedeckt, sodass man sich daraufsetzen kann, und einen großen Spiegel über die Kommode gehängt, damit sich die Schauspieler schminken und zurechtmachen können. Was nun auch eifrig getan wird und ihn in nicht geringe Verlegenheit bringt. Die jungen Leute kennen keine Vorbehalte, sie ziehen die Kleider aus, legen die Kostüme an, helfen sich gegenseitig, irgendwelche Häkchen oder Knöpfchen zu schließen, und fragen, ob die Seidenstrümpfe richtig sitzen. Frieda bewährt sich beim Aufsetzen der Perücken, Ida berät bei der »Maske«, und Harry bringt alle durcheinander, weil er die zum Kostüm gehörende Kopfbedeckung vergessen hat. Während all dieser aufgeregten Aktionen muss man sich selbstverständlich leise verhalten, da drüben die illustren Gäste empfangen werden. Man vernimmt knallende Sektkorken und leicht gekünstelte Begrüßungsworte wie:
»Meine allerherzlichsten Glückwünsche zur Vermählung, liebe Frau Goldstein …«
»Ach, wie hübsch Sie das wieder arrangiert haben!«
»Nein, was für ein Wetter. Meine liebe Frau hat trotz Pelz ganz schrecklich im Wagen gefroren.«
»Sekt kann man ja immer und zu jeder Gelegenheit trinken, nicht wahr, lieber Richard?«
Hohnermann verspürt wieder heftiges Herzklopfen und fragt sich, wie diese Leute seine einfachen Liedchen aufnehmen werden. Dann aber muss er über einen Spruch des jungen Harry lächeln, und er beruhigt sich wieder. »Wenn die sich jetzt schon besaufen, sind sie wenigstens nachher guter Laune!«
»Genau so war’s geplant«, versetzt Frieda.
»Kluges Kind!«
»Psst!«
Drüben scheint man die Veranstaltung nun eröffnet zu haben. Das Stimmengewirr hat sich gelegt, man hört Frau Goldstein, die ihre Gäste offiziell willkommen heißt, danach stellt ihr Ehemann mit gewandten Worten den Zweck der Veranstaltung dar. Oh ja, Frieda hat nicht unrecht, er versteht es, Menschen zu überzeugen. Ohne Zweifel wird er Geldquellen und Unterstützer für die kleine Julia gewinnen. Was er allerdings verschweigt, ist die fatale Tatsache, dass Julias Eltern mit einer Heilkur für ihre Tochter keineswegs einverstanden sind. Vor allem die Mutter stellt sich dagegen, sie behauptet, die Julia müsse das Essen kochen und auf den kleinen Bruder aufpassen, während sie selbst arbeiten geht. Sie bräuchten das Geld unbedingt, um über die Runden zu kommen und ein wenig für später beiseitezulegen. Leider folgt der Vater, der die letzte Entscheidung hat, in allem den Wünschen seiner Frau, sodass man einstweilen ratlos ist.
Herr Goldstein kündigt die erste Szene an: Frieda und Annemarie spielen einen Ausschnitt aus Minna von Barnhelm. Er kann nichts sehen, da er mit den beiden jungen Herren im »Künstlerzimmer« bleiben muss, aber den Stimmen nach scheint es zu gelingen: Vor allem Friedas verschmitzte Heiterkeit scheint den Zuhörern zu gefallen. Es gibt reichlich Applaus. Frieda und Annemarie stürmen mit gelösten, glücklichen Gesichtern ins »Künstlerzimmer«, und die beiden jungen Herren gehen auf die Bühne, während Herr Goldstein eine Überleitung spricht. Wer wohl den Vorhang zieht, überlegt Hohnermann nervös. Ob es Ida ist? Noch eine Szene, dann ist er mit Frieda an der Reihe. Wo hat er seine Noten gelassen? Hier im »Künstlerzimmer« sind sie nicht, er kann nur hoffen, dass sie auf dem Klavier liegen, sonst muss er aus dem Gedächtnis spielen. Neben ihm kleiden sich Annemarie und Frieda um; er schaut angestrengt zur Tür und wagt keinen Blick zur Seite, wo Tücher rascheln und Häkchen geöffnet und geschlossen werden. Auf der Bühne vollzieht sich ein Dialog aus einem Stück von Calderón. Der junge Mann, den Frieda mit Rudi vorgestellt hat, ist sehr überzeugend, der andere scheint eher Mittelmaß zu sein.
Applaus. Überleitung. Frieda trägt ein erschreckend kurzes Fähnchen, das kaum die Oberschenkel bedeckt. Sie lächelt ihm aufmunternd zu. »Auf geht’s, Herr Komponist!«, flüstert sie.
Sie müssen um die Bühne herum zum Klavier gehen, und Gott sei Dank!, dort liegen seine Noten. Er wirft nur einen raschen, oberflächlichen Blick ins Publikum: eine Ansammlung schön frisierter Damen und schnurrbärtiger Herren, weiße Hemdbrüste, farbige Stoffe leuchten hervor, hie und da blitzen Schmuckstücke auf. Dann nimmt die Musik ihn vollständig ein. Frieda macht es großartig, er gibt sein Bestes und erschrickt fürchterlich, als ihnen hinterher begeisterter Applaus gespendet wird. Es gibt sogar verhaltene Bravorufe, die natürlich ausschließlich Frieda gelten.
In der Pause bleiben sie im »Künstlerzimmer«, und er erlebt die Freude, dass Rudi auf ihn zugeht und ihm zu seiner »flotten« Komposition gratuliert. Die anderen ziehen sich schon wieder um, es gibt nach der Pause zwei Ensembleszenen, wo alle gleichzeitig agieren, aber nun ist alles Lampenfieber verflogen. Sie können ihren Auftritt kaum abwarten, spenden sich gegenseitig Lob und kichern über kleine »Patzerchen«, die ganz sicher niemandem aufgefallen sind. Von drüben vernimmt man angeregtes Stimmengewirr, Gläser klirren, Damen lachen hell auf, Wortfetzen wie »sehr begabt«, »bezaubernd«, »ein Erlebnis« dringen an seine Ohren, daneben unterhalten sich zwei Herren über die aktuellen Börsenkurse. Die Pause dehnt sich in die Länge, drüben scheinen sich die Herrschaften gut zu amüsieren, hier im »Künstlerzimmer« platzen die Schauspieler vor Ungeduld.
»Die schlagen sich die Bäuche voll, und wir sitzen auf dem Trockenen«, mault Harry.
»Dass du jetzt ans Essen denken kannst!«
»Wo ist mein seidenes Halstuch? Eben hat’s noch auf dem Bett gelegen!«
»Die Annemarie hat ihr Kostüm draufgeworfen!«
»Schlamperei!«
»Seid mal still, ich glaub, es geht weiter …«
Der zweite Teil der Veranstaltung gleitet wie im Traum an ihm vorüber. Applaus erhebt sich danach, Frieda stürmt ins Künstlerzimmer, fasst ihn bei der Hand und zerrt ihn auf die Bühne, wo sich die Schauspieler vor dem Publikum verbeugen. Man ruft »Da capo« und »Zugabe«, er muss sich noch einmal ans Klavier setzen und mit Frieda das Lied vom hupenden vierrädrigen Auto zum Besten geben. Danach taucht Frieda in die Menge der elegant gekleideten Gäste ein, und er denkt daran, sich so unauffällig wie möglich zurückzuziehen, denn dies hier ist nicht seine Welt. Hat er nicht wieder einmal scharfe Blicke aufgefangen, erschrockene Gesichter entdeckt und Geflüster gehört: »Ach, der arme Kerl. Ja, der Krieg …«
»Herr Hohnermann?«, sagt eine grauhaarige, dunkel gekleidete Dame zu ihm. »Ich freue mich sehr, Sie einmal persönlich kennenzulernen. Meine Enkelinnen haben mir schon so viel über Sie berichtet …«
Frau Haller – Friedas Großmutter aus Frankfurt. Was für eine freundliche alte Dame! Sie reicht ihm die Hand und erzählt ganz unbefangen, dass Frieda große Stücke auf ihn hält.
»Dieses Dorf kann sich glücklich schätzen, einen solch engagierten Lehrer zu haben.«
Dann erfährt er, dass Frieda nun doch nicht nach Bochum gehen wird. Die Mutter erlaubt es nicht, sie muss warten, bis sie volljährig ist.
»Sie ist natürlich sehr geknickt«, fährt Frau Haller lächelnd fort. »Aber sie wird es schon überleben. Vor allem, weil sie nun wohl viele Angebote für Auftritte im privaten Kreis erhalten wird.«
Sie will wissen, ob er auch andere Texte ihrer Enkelin vertont hat. Die Lieder seien ja sehr zeitgemäß und frech gewesen, er müsse sie unbedingt an einen Verlag geben und sich die Rechte sichern.
»Ich hörte, dass Sie ein ausgezeichneter Organist sind, Herr Hohnermann. Hätten Sie vielleicht Lust, auch einmal in Frankfurt zu spielen? Einen Gottesdienst vielleicht?«
Er erklärt, nur schwer abkömmlich zu sein, da er ja die Gottesdienste in der Dingelbacher Kirche spiele, aber vielleicht könnte man so etwas einmal ins Auge fassen.
Dann ist er froh, der inzwischen angeheiterten Gesellschaft zu entkommen, und verabschiedet sich eilig von Frau Goldstein, die sehr bedauert, dass er schon fortwill.
»Ich wollte Sie einigen meiner Bekannten vorstellen, man hat sich nach Ihnen erkundigt, Herr Hohnermann …«
»Bei Gelegenheit, Frau Goldstein«, versichert er. »Zunächst bedanke ich mich bei Ihnen und ihrem Herrn Gemahl ganz herzlich für die Mühe, die Sie sich gemacht haben. Hoffen wir, dass es auch den Zweck erfüllen wird, den wir gemeinsam anstreben.«
»Sie meinen die kleine Julia? Oh, da werden wir einen Weg finden. Die Gespräche diesbezüglich sind schon im Gange.«
Unten im Flur muss er warten, bis ihm Carla seinen Mantel bringt, dann geht er eilig nach Hause. Es hat aufgehört zu schneien, ein paar graue Wolken hängen noch über dem Tal, aber hie und da blitzt die Wintersonne dazwischen auf und lässt die Schneedecke auf Wiesen und Äckern glitzern.
In seiner Studierstube heizt er den Ofen an und setzt sich an den Schreibtisch, um ein wenig zur Ruhe zu kommen, doch es gelingt ihm schlecht. In seinem Kopf gehen die Stimmen und Eindrücke durcheinander: Frieda in ihrem kurzen Kleidchen, Herr Goldstein, der geschmeidig und humorig zu den Gästen spricht, der feste Händedruck von Frau Goldstein, Frau Hallers freundliche Anrede. Ach Gott, nun ist es wohl endgültig, Frieda darf nicht nach Bochum. Aber sie wird wohl in Frankfurt im »privaten Kreis« auftreten. Wird man sie bei verschiedenen Festen und Gesellschaften herumreichen? Wen wird sie dort kennenlernen? Welchen Versuchungen wird sie da ausgesetzt sein? Sollte er sie nicht anregen, ihr Theaterstück fertigzuschreiben? Einfach nur, um sie ein wenig hier in Dingelbach zu halten …
Es ist schon später Nachmittag, als der Hunger ihn in die Küche treibt. Dort steht ein Topf mit Fleisch, Gemüse und Kartoffeln, den muss ihm jemand gebracht haben, ohne dass er es bemerkt hat. Er verzehrt das Essen kalt, weil er keine Lust hat, den Herd anzufeuern, dann schaut er auf die Uhr und stellt fest, dass es schon Zeit ist, hinüber in den »Raben« zu gehen, wo der »Theaterabend« auf sieben Uhr festgesetzt wurde. Seine Noten hat er leider in der Villa vergessen, aber er besitzt eine Abschrift, die nimmt er mit.
Die Theaterabende im »Raben« sind nicht neu, Frieda hat dort schon öfter kleine Aufführungen organisiert, und der Rabenwirt ist stets erfreut darüber, weil der Gasthof dann brechend voll ist und nach der Aufführung nicht nur Getränke, sondern auch kleine Speisen bestellt werden. Handkäs mit Musik, Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat oder Ofenkuchen.
Als Hohnermann in den Gastraum tritt, sitzen dort schon etliche Dingelbacher Bauern beieinander, trinken heißen Äppler und begrüßen ihn lautstark.
»Guude, Herr Lehrer!«
»Das war vielleicht ein saumäßiges Georgel heut in der Kirch!«
»Ja, wenn unser Hohnermann die Orgel net spielt, bei der Seybold’schen, da klingt’s wie eingeschlafene Füß.«
Es ist ihm etwas peinlich, trotzdem freut er sich und fühlt sich angenommen. Der Guckes Jörg bringt ihm ein Bier, das ginge aufs Haus, und erzählt, dass sogar Leut von auswärts Karten gekauft hätten, es würde heute eine ganz große Sach werden. Seine Karin hat den Schauspielern oben zwei Zimmer gerichtet, eines für die Mädchen und eines für die Buben, damit alles seine Ordnung hat. Einen Imbiss und Getränke hätten sie auch bekommen, da ließe er sich net lumpen, wo doch so viele Gäste kommen würden.
»Drüben im Nebenraum haben wir gestern die Bühne gerichtet, der Killinger Hannes und der Altmann Schorsch haben mit angefasst. Und Stühle haben sie überall im Dorf zusammengeholt, dass keiner stehen muss …«
Auch seine Noten sind da, die hat die Frieda mitgebracht und aufs Klavier gelegt. Nein, gestimmt ist’s net, aber der Herr Hohnermann wird’s schon richten. Er hat den Stimmschlüssel wohlweislich eingesteckt, weil er das klapprige Klavier kennt, und macht sich gleich daran, die herabgerutschten Töne wieder hochzuziehen.
Währenddessen füllt sich der Gastraum, es kommen vor allem die Männer, um vor der Aufführung noch ein paar Bierchen oder Äppler zu sich zu nehmen; die Frauen kommen später mit den Kindern, wenn das Theaterspielen anfängt. Laute Stimmen dringen zu ihm in den Nebenraum, sodass er sich anstrengen muss, um die Klaviertöne richtig zu hören. Vor allem der Altmann Schorsch tut sich hervor: Wie es scheint, wirbt er wieder für den Reichslandbund, der im vorletzten Jahr gegründet wurde und die Interessen der Bauernschaft vertreten soll.
»Billiges Korn kaufen sie in Dänemark und Russland, und wir gucken in die Röhre. Hat die Regierung endlich Einfuhrzölle festgesetzt, damit wir deutschen Bauern aus dem Schlamassel herauskommen? Nichts haben sie gemacht! Weil sonst die geizigen Städter mehr fürs Brot und Fleisch bezahlen müssen …«
»Und trotzdem taugt der Reichslandbund nix«, überbrüllt ihn der Schütz Otto. »Weil die nur für die großen Gutshöfe sorgen, die wo im Osten sind. Aber für uns hier in Dingelbach machen die keinen Finger krumm!«
»Das ist es ja«, brüllt der Schorsch zurück. »Weil hier keiner das Maul aufmacht, da haben die adeligen Gutsbesitzer das Sagen. Deshalb müssen wir laut werden und uns engagieren …«
»Dass wir Bauern auf keinen grünen Zweig kommen, daran sind allweil die jüdischen Viehhändler schuld«, schimpft der Jochen Schmidtkunz. »Jedes Jahr schlagen sie die Preise auf, aber wennste was verkaufen willst, dann geben sie dir nix …«
»Das Korn, das reicht grad für uns selber über den Winter«, jammert der Koppel Willi. »Saatgetreide muss auch zurückbleiben. Der Sommer ist halt elend heiß gewesen, da ist’s schlecht gewachsen, und dann haben die Gewitter das Korn niedergedrückt …«
»Und grad deshalb muss man sich engagieren …«, ruft der Altmann Schorsch ärgerlich.
»Wann kommste endlich mit dem Bier rüber, Rabenwirt?«, schimpft der Schütz Otto. »Soll man bei lebendigem Leib verdursten in deiner Kaschemme?«
Hohnermann weiß, dass der Altmann Schorsch wenig erreichen wird. Die Dingelbacher Bauern sind erzkonservativ, sie misstrauen großen Verbänden und Organisationen. Hunger und Not sind von Gott gegeben und müssen durchlitten werden, heißt es hier immer. Es kommen auch bessere Tage.
Er ist noch nicht mit dem Stimmen fertig, da erscheinen die vier jungen Schauspieler, winken ihm fröhlich zu und probieren die Bühne aus. Nun füllt sich auch der Nebenraum mit neugierigen Dingelbachern, die keine Scheu haben, den Schauspielern beim Proben zuzuschauen und sich dann schon einmal auf den besten Plätzen niederzulassen. Es wird geschwatzt und gelacht, der Kuhstallduft, der allen an den Kleidern haftet, verbreitet sich im Raum, einige haben ihren Äppler mitgenommen und stellen das Glas unter den Stuhl. Der Rabenwirt hat recht gehabt – von allen Seiten strömen die Dingelbacher in den Gasthof, nun kommen auch die Frauen und Kinder, man ruft einander Scherzhaftes und Deftiges zu, es gibt Streit um die Plätze, die halbwüchsigen Jungen und Mädel lärmen, draußen vor dem Gasthof zündet der Kessel Willi einen letzten Knallfrosch an.
»Wann geht’s denn los?«, will der Dippel Alfred wissen.
»Wenn’s so weit ist«, versetzt der Rabenwirt, der noch rasch ein Tablett mit Bier und Schnäpsen an den Mann bringen will.
Der Beginn der Vorstellung wird durch eine Glocke verkündet, und da sich daraufhin der Lärm nur wenig senkt, schlägt der Killinger Hannes mit seiner Schmiedefaust gewaltig gegen das Fensterbrett.
»Ruhe! Wer das Maul nicht halten kann, dem komm ich bei!«
Daraufhin wird es leiser, nur zwei Kleinkinder auf dem Schoß ihrer Mütter plappern fröhlich weiter, und hinten fragt die Anni Christ, ob es jetzt losginge.
Ida betritt die Bühne, begrüßt das Publikum und erklärt, dass alle Einnahmen des Abends für die kleine Julia Grossmann bestimmt sind. Auch die Schauspieler hätten auf ihr Honorar verzichtet, und wer etwas spenden wolle, könne das Geld in die Büchse auf dem Tresen tun. Die Reaktion ist gemischt; man ist der Ansicht, dass der Eintritt schon teuer genug war, und außerdem will man sich später noch ein oder zwei Bier und vielleicht einen Handkäs gönnen.
Ein sachkundiges Publikum sind die Dingelbacher nicht. Auch wenn Ida versucht, die gespielten Szenen vorher zu erklären, so sind doch viele mit den Texten überfordert. Trotzdem haben die Zuschauer ihren Spaß, es gibt Zwischenrufe und Applaus, einige haben schon ein Bierchen über den Durst getrunken und klatschen an den falschen Stellen. Aber alle sind wohlwollend, freuen sich über das ungewohnte Ereignis und darüber, dass diese Frankfurter Schauspieler extra nach Dingelbach gekommen sind, um für sie Theater zu spielen. Auch Hohnermanns Lieder kommen gut an, und er ist froh, dass Frieda hier im »Raben« nicht das kurze Kleidchen, sondern Rock und Bluse trägt.
Als das Programm zu Ende ist, werden die Schauspieler mit ausgiebigen Beifallsbekundungen belohnt, dann streben die meisten hinüber in den Gastraum, wo die Guckes Karin zusätzliche Tische und Stühle aufgestellt hat, damit die Gäste Platz finden und bestellen können. Nun beginnt für die Dingelbacher der wichtigste Teil des Abends, man hockt beieinander, es wird getrunken und gegessen, geraucht und gelacht, nur die Frauen mit den Kleinkindern sind heimgelaufen. Die Halbwüchsigen dürfen noch bleiben, ihre Mütter sitzen an den Tischen und gönnen sich auch einmal einen heißen Äppler mit Zimt.
Hohnermann weiß, dass sie bis in die Nacht hinein bleiben werden, und er gönnt es ihnen. Die Arbeit auf dem Land ist hart, das Leben entbehrungsreich und voller Sorgen um die Zukunft. Aber an solch einem Abend kann man einmal alles vergessen und miteinander fröhlich sein. Auch wenn wohl wieder einige in der Nacht heimgetragen werden müssen und morgen mit brummendem Schädel aufwachen werden.
Er packt seine Noten ein und sucht nach Frieda und ihren Freunden, um sich von ihnen zu verabschieden. Aber die sind hinauf in ihre Zimmer gegangen und scheinen dort noch eine Menge zu bereden zu haben. Da will er nicht stören und geht durch die laute Gaststube hinüber in seine Wohnung.
Es kalt und still in seiner Studierstube, er schaltet das Deckenlicht ein, und die Bücher in den Regalen schauen ihn an. Was für ein Tag ist das gewesen! Er geht im Zimmer auf und ab, kann sich nicht entschließen, zu Bett zu gehen, und öffnet stattdessen das Fenster. Bei der Kirche leuchtet die Straßenlaterne, weiter rechts schimmern die Lichter vom Gasthof über die verschneite Dorfstraße. Die Fenster vom »Raben« kann er von hier aus nicht sehen, aber das aufgeregte Stimmengewirr und die lauten Rufe sind vernehmbar. Ab und zu mischt sich Hundegebell dazwischen, das sind die Hofhunde, die sich in der Nacht miteinander unterhalten.
Er hat heute zwei Welten erlebt. Die Welt der wohlhabenden, gebildeten und kunstsinnigen Leute oben in der Villa, die ihren Reichtum an der Börse anlegen und nebenbei Vereine gründen, um den weniger Begüterten zu helfen. Und die Dingelbacher Bauern, die jetzt drüben im »Raben« feiern und morgen wieder früh im Stall stehen müssen, um das Vieh zu füttern und die Kühe zu melken. Sie hängen an ihren Höfen, halten zusammen und wollen nicht begreifen, dass Wissen und Bildung den Menschen weiterbringen können.
In welche dieser Welten gehört er? Er weiß es nicht. Er hat darüber nachgedacht, wieder mit dem Musikstudium anzufangen, Konzerte zu spielen, in die Stadt zu ziehen. Weiterhin für Frieda zu komponieren und mit ihr aufzutreten. Aber er hat eingesehen, dass es unsinnig ist: Er ist zu alt, es ist zu spät, und die Hoffnung, Frieda auf diese Weise eine Zeit lang an sich zu binden, ist mehr als lächerlich. Er gehört nicht in die Stadt, aber auch in Dingelbach wird er letztlich immer ein Einsamer bleiben.
Er beginnt zu frieren und schließt das Fenster, legt das Polster auf das Fensterbrett, damit es nicht zieht, und geht in sein Schlafzimmer, um sich zu Bett zu legen. Wozu grübeln, denkt er. Morgen warten meine Schüler auf mich, und ich werde sie so gut wie ich nur eben kann auf das Leben vorbereiten. Ob es gelingt, das weiß ich nicht. Die Welt dreht und verändert sich – wer kann schon wissen, was die Zukunft uns bringt?