Das Licht im Restaurant war goldenes Licht, schweres Licht — eine ehrlich gesagt altmodische Sorte von Licht, in den Neunzigern beliebt, inzwischen aber ein Überbleibsel einer Art von protzigem, altbackenem Vergnügen, das zu genießen nicht mehr als schick galt. Es war fünf Jahre, vielleicht auch länger, her, dass George in diesem Lokal gewesen war. Schon richtig, das Essen war nicht besonders gut. Große Steaks, Rahmgemüse, und auf allem ein Geklecker von Himbeer-Coulis, das ganze Zeug, was man damals so aß, weil zum Geldhaben noch nicht gehörte, dass man auf seine Ernährung achtete. Trotzdem, er mochte die saftigen Maya-Garnelen auf Eis, die befriedigende Leere, wenn das Fleisch aus dem Schwanz flutschte. Er wischte sich die von Zitronensaft und Garnelen klebrigen Finger an der Serviette in seinem Schoß ab.
»Noch Brot?«, fragte Kenny.
Eigentlich unmöglich, dass Kenny nach all den Jahren immer noch hier arbeitete, aber da war er. Der nette Kenny mit dem weichen Gesicht und einem leichten Überbiss. Er war Bühnenautor gewesen, wenn George sich recht erinnerte. Früher hatte er Kenny immer Freikarten für die Show gegeben, die er gerade produzierte, oder irgendein Screening, und wenn er ihn dann das nächste Mal sah, gab Kenny ihm mit wohlüberlegtem, professionellem Bemühen Feedback. Vielleicht hatte er gehofft, George würde ihn für irgendwas engagieren. Mit einer einzigen raschen Bewegung hielt Kenny ihm einen Korb mit Brötchen hin und ließ eine Zange über der Auswahl schweben.
»Vollkorn«, sagte George. Besser für dich, dachte er. »Oder nein«, sagte er, »lieber die normalen.«
»Klar doch.«
William war jetzt schon zwanzig Minuten überfällig. George könnte etwas Arbeit erledigen — ein Produzent hatte ihm einen Link zu irgendeinem David-Hume-Dings geschickt. Die Vorstellung, auf das Display zu glotzen, deprimierte ihn. Wie sollte man solche Dinger überhaupt nennen — eine Abhandlung, einen Traktat? Und wer kam eigentlich auf die Idee, so was wäre adaptierbar, irgendein langweiliger, altertümlicher Sermon? Die Leute waren allerdings ganz scharf darauf, auf den Tod. Hume war in einer dieser Kolumnen erwähnt worden, die alle Welt las, Teil einer Serie von diesem Wissenschaftler, der unheilbar krank war. Zig Leute leiteten ihm jede Woche den Link weiter:
»Zu Tränen gerührt«
»Gib auf deine Lieben acht!«
George las einen der Artikel auf der Webseite der Times und gab sich alle Mühe, sich die Realität seines eigenen Hinscheidens vor Augen zu führen. Er war einundsiebzig, mit einem künstlichen Kniegelenk und einer Hüfte, deren Austausch fällig war; dürfte nicht schwierig sein. Der Wissenschaftler schrieb darüber, wie er über seinem eigenen Leben schwebte und jeden Teil davon wie einen Traum sah, aus dem er bald erwachen würde. Es ist bloß ein Traum, sagte sich George. Alles Einbildung. Bis auf eine vage Wahrnehmung der Grammatikfehler hatte er nichts von dem Text gehabt. Einige inhaltliche Ansätze waren letzten Endes nicht hilfreich. Er war bei seinem zweiten Martini. Auch so etwas, was mal als schick gegolten hatte und in Ungnade gefallen war. Die antiseptische Kühle, das anregende Nass — warum hatte er jemals aufgehört, sie zu trinken?
Er sah William zuerst im Spiegel hinter der Bar, wie er sich in Rollmütze und Mantel durch die Tür schob, die berühmten Augenbrauen gesträubt. Georges Herz hämmerte, ein Schock von dem kalten Alkohol. Er drehte sich, um William herzuwinken, und in dem Augenblick, ehe William ihn sah, vermittelte irgendetwas in seiner Miene George die plötzliche Ahnung, dass der Abend nicht so laufen würde, wie er gehofft hatte.
Die Garderobiere machte ein Getue um William — genau wie der Wirt, der ihm auf die Schulter klopfte —, und als er schließlich die Bar ansteuerte, schien sich das ganze Restaurant seiner Anwesenheit bewusst zu sein, ein gewisses Hintergrundgeräusch von Leuten, die tuschelten, vielleicht mit tief gehaltenem Smartphone ein Foto zu machen versuchten, ihm einen raschen Blick zuwarfen, dann angelegentlich woandershin starrten. William bewegte sich trotzdem unbefangen durch den Raum, ohne Verlegenheit. Oder er war zumindest sehr versiert darin, so zu erscheinen.
»Mein Freund«, sagte er. George musste sich auf seinem Hocker verrenken, um die Umarmung zu erwidern.
»Ich bin reingekommen und habe gedacht, wer ist der alte Knacker an der Bar, der mir zuwinkt?«, sagte William. »Und dann warst du es. Und wir waren beide alt.«
William ließ sich auf dem Hocker neben ihm nieder. Wahrscheinlich war es knapp zehn Jahre her, dass sie einander nicht bloß zufällig gesehen hatten.
»Macht es dir was aus, wenn wir einfach hier essen?«, fragte George. »Sonst kann ich nach einem Tisch fragen.«
»Nein, lass nur. Kommt Benji nicht?«
George hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, seinen Sohn zu bitten, sich ihnen anzuschließen. Vielleicht war das seltsam. »Er ist bei seiner Freundin. Sie wollten ihr eigenes Ding machen.«
»Sich auf seine große Nacht vorbereiten«, sagte William. »Schön für ihn.«
»Ich weiß, dass er dir das hoch anrechnet. Benji. Das tun wir beide.«
»Nicht doch.«
William war Benjis Patenonkel. Als Georges erste Frau Patricia ihn zur Welt gebracht hatte, waren William und Grace in der Klinik ihre ersten Besucher gewesen. William ging mit Benji zu Spielen der Dodgers, warf Quarter in den Pool des Hauses in Brentwood und ließ Benji danach tauchen. Das war direkt nach Georges drittem Film, dem zweiten, den er mit William gemacht hatte. Sie fuhren nach Ojai, unternahmen Tagesausflüge nach Catalina, die Frauen gingen zusammen Kleider für die Oscarverleihung kaufen. George hatte eine First-Look-Vereinbarung mit Paramount, einen stetigen Strom von Projekten in der Entwicklung. Es war schon fast peinlich, wie inbrünstig George daran geglaubt hatte, dass weiterhin alles immer besser werden würde, das Leben eine ständige Anhäufung von Erfolgen, von Augenblicken, die immer nur noch strahlender und vergnüglicher wurden. Dann hatte George sich scheiden lassen und war nach New York gezogen, worauf seine Karriere ins Stocken kam, zuerst allmählich und dann auf einen Schlag. Viacom kaufte Paramount. Williams Telefonnummern wechselten schneller, als George hinterherkam. Nach ein paar Jahren rief William den Jungen nicht einmal mehr an seinem Geburtstag an. Das wurmte George, aber Benji war es egal. Und immerhin war William hier, war zu Benjis kleiner Filmpremiere gekommen und würde sich fotografieren lassen, wie er neben Benji stand, vielleicht auch ein bisschen was Nettes sagen, und das war keine Kleinigkeit.
Kenny goss ein Glas Wasser ein und stellte es vor William. »Kann ich Ihnen vorneweg einen Drink bringen?«
William trank bereits von dem Wasser und schüttelte, noch schluckend, den Kopf. »Wasser reicht mir völlig.«
Kenny, stets der Profi, zog sich zurück, doch George spürte seine Erregung, einen neuen Grad von Wachheit.
»Die Martinis hier sind ausgezeichnet.«
»Grace hat mich überredet, auf Alkohol zu verzichten«, sagte William. »Wir machen es beide, und ich muss sagen, es ist mir schwergefallen, aber es ist großartig.«
Unglaublich, wenn man darüber nachdachte, dass jemand wie William all die Jahre bei derselben Frau geblieben war, aber Grace war eine Gute. In dem Sommer, in dem sie in Turin gedreht hatten, hatte sie in ihrem großen, gemieteten Haus Partys veranstaltet, hatte gewaltige Essen für vierzig Leute produziert, in einem langen Kleid und barfuß Fischplatten aufgetischt, und wer würde nicht mit so jemandem verheiratet bleiben wollen? George selbst war zweimal geschieden. Nie wieder, obwohl seine Freundin ihn ständig unter Druck setzte, sie bei ihm einziehen zu lassen, sie und ihre Tochter. Es reichte ihr nicht, dass er ihre Implantate bezahlt, dass er eine Wohnung für sie gemietet hatte, dass er den Legasthenie-Therapeuten ihrer Tochter bezahlte. Der bloße Gedanke an die beiden machte ihn müde.
»Wie geht es Grace?«, fragte George.
»Gut«, sagte William, der die Speisekarte überflog. »Du kennst sie ja, ständig beschäftigt. Sie hat so eine Stiftung angeleiert, die Studiengebühren für Kids aus Reservaten bezahlt, deswegen fliegt sie ständig nach Utah oder so. Sie gibt den Kids ihre Handynummer, und dann ruft sie beim Essen irgendein Sechzehnjähriger in Tränen aufgelöst an, und sie düst los und kümmert sich.«
George hatte auf eine gewisse lockere Kameradschaft gesetzt, eine ganz leicht in Richtung Nachlässigkeit kippende Nostalgie. Dass William nicht trank, erschwerte alles. George versuchte, seinen Martini langsamer zu trinken. Wahrscheinlich konnte er noch einen bestellen und so tun, als wäre es erst sein zweiter.
»Und wie geht es Lena?«
»Sie ist auch beschäftigt. Hat übrigens gerade geheiratet, einen Betriebswirt«, sagte William. »Ein Riesenkerl, Brite. Ich mag ihn.«
»Freut mich zu hören.«
Als George sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie noch Zahnspangen getragen, auf dem Set herumgehangen und Hausaufgaben gemacht, die Mädchen von der Maske gebeten, ihr Lidstriche zu malen. Er erinnerte sich, weil er zur gleichen Zeit Anrufe von Patricia bekommen hatte, die Geld für eine neue Klinik für Benji brauchte, irgendeine Therapie draußen in der Wüste oder in der Wildnis von Alaska, jedenfalls so abgelegen, dass die Kids nicht an ihre Pillen rankamen. Diese Läden kosteten allesamt Tausende von Dollar und halfen kein Stück. Die Mitarbeiter durch die Bank unattraktive Endzwanziger, professionelle Rauschgiftfahnder mit unreiner Haut und Trekkingsandalen. Hatten sie nichts Besseres zu tun? Wie lieb ihm Lena damals vorgekommen war: höflich, die Haare gekämmt, die Worte stumm mitformend, während sie für den Englischunterricht Wolfsblut las.
»Grace freut sich riesig, dass sie nach Los Angeles ziehen«, sagte William. »Sie will, dass wir die typischen total engagierten Großeltern sind.« Er lachte. »Die Energie dafür hat sie. Ich glaube nicht, dass Lenas Mann weiß, worauf er sich da eingelassen hat.«
Sie bestellten beide den Heilbutt, alte Männer, die rotes Fleisch mieden, und das viereckige Stück Fisch kam in der Mitte eines übergroßen Tellers, umstreut mit Gemüse, irgendeiner Art von Minisprossen. George nahm einen Bissen und wünschte, das Essen wäre besser. Aber wenigstens lag das Kino direkt neben dem Restaurant.
»Müssen wir uns beeilen?«, fragte William.
»Alles bestens.« Ihnen blieb noch eine halbe Stunde, bis sie hinübergehen mussten.
»Bist du aufgeregt?«
George konnte nicht folgen.
»Der Film«, sagte William.
»Der Film.« George versuchte — durch seinen Gesichtsausdruck, seinen Tonfall — so etwas wie gemeinsame Beklommenheit anzudeuten, das Eingeständnis, dass er davon ausging, der Film würde schlecht sein, dass sie beide sich nichts vormachen mussten. Williams Gesichtsausdruck blieb unverändert, mit freundlicher Unverbindlichkeit zusammengestellt.
»Hast du ihn schon gesehen?«, fragte William.
»Ehrlich gesagt, nein. Heute Abend ist es so weit.«
Das schien William zu überraschen. »Man sollte doch meinen, dass er das fachkundige Urteil seines alten Herrn hören wollte, oder?«
Hatte in dem Wort »fachkundiges Urteil« ein Hauch von Sarkasmus gelegen? Nein, George war paranoid. Was hatte William den Leuten immer gesagt? Dass George einen magischen Verstand hatte. Was geht in diesem magischen Verstand vor, hatte er immer gefragt, was kommt als nächstes?
»Ich glaube«, sagte George, »meine Meinung ist genau das, was Benji nicht wollte.«
Immerhin hatte Benji Geld gewollt. George arbeitete schon eine ganze Weile nicht mehr so richtig und lebte von Rücklagen und vom Verkauf des Lofts. Er hatte nicht vorgehabt, Benji irgendetwas zu geben, bis er herausfand, dass Benji eine GoFundMe-Webseite eingerichtet hatte. Die Webseite zeigte, unerklärlicherweise mit »Clair de Lune« unterlegt, Filmmaterial in Zeitlupe von Benji und seinem abgewrackten Mitbewohner, wie sie, die Hände in den Taschen ihrer Fleecejacken, über den Campus des Santa Monica City College gingen. Ein Off-Kommentar von Benji versicherte mit melancholischer Stimme, dass dieser Film einzigartig sein, eine ganz neue Art des Filmemachens erkunden werde. Es sei ein Film über die Liebe, sagte er, eine Geschichte der Liebe, ein Dokumentarfilm, »der tief in das eintaucht, was uns alle in jeder Hinsicht bewegt.«
Der Gedanke, dass Benji alle möglichen Leute — Georges Kollegen, Verwandte, Freunde — per E-Mail um zehntausend Dollar gebeten hatte, um seinen kleinen Film drehen zu können, entsetzte George.
»Sei kein Arschloch«, hatte Patricia gesagt. Wenigstens zeige Benji Initiative, hatte sie gesagt, Interesse an etwas. Benji sammelte Leistungspunkte, würde vielleicht sogar mit Ach und Krach seinen Abschluss schaffen, und das war an und für sich schon ermutigend. Benji hatte bis dahin schon so vieles aufgegeben: Praktika, die George ihm verschafft hatte, Jobs, bei denen er sich nach zwei Wochen nicht mehr hatte blicken lassen. Irgendeine Abzocker-Kochschule im Norden — Benji war frühzeitig abgegangen, nachdem er bei sich selbst Lyme-Borreliose diagnostiziert hatte.
Aber wieso, hatte George gefragt, könne er sich nicht für irgendwas, für irgendetwas anderes interessieren?
Er versucht, einen Kontakt zu dir herzustellen, hatte Patricia gesagt. »Dein Sohn«, hatte sie gesagt, »blickt zu dir auf.«
Er hatte gehört, wie ihr Mann im Hintergrund etwas sagte. Der Anästhesist.
»Wie war das?«, hatte George gefragt. Zuweilen kam er sich beinahe gestört vor. »Weiß Dan irgendeinen Rat?«
»Ruf deinen Sohn an«, hatte sie gesagt und dann aufgelegt.
Der Plan war, dass Benji es ihm zurückzahlen würde. Mit Zinsen. Unwahrscheinlich.
»Ich finde das großartig«, sagte William. »Benji will das allein machen. Nicht auf Dads Erfolgswelle mitschwimmen.«
Das war lachhaft.
»Da muss man vielen Erwartungen gerecht werden«, fuhr William fort. »Wenn man einen Vater wie dich hat.«
Das gefiel George. Und inzwischen hatten die Martinis ihre Wirkung getan, und seine Angst hatte sich ein wenig gelegt. Sie hatten gute Zeiten miteinander erlebt, er und William. Das hier war sein Freund. Er spürte, wie er sich entspannte.
»Mir wäre es lieber, er wäre, keine Ahnung, Zahnarzt«, sagte George. »Oder Müllmann.«
»Weißt du«, sagte William und wischte sich den Mund. »Müllmänner verdienen tatsächlich richtig gut. Das ist ein begehrter Job. Ich habe eine Radiosendung darüber gehört.«
Benji war ein nervöses Kind gewesen. Wie den Widerwillen beschreiben, den George manchmal empfunden hatte, wenn Benji ihn nach Weihnachten für zwei Wochen besuchte — ständig krank war, sich ständig Verletzungen zuzog. Damals, als er neun oder so war und versuchte, George und seiner Freundin — das war damals Monica — in der Küche der Wohnung in SoHo eine Art Radschlag vorzuführen. Er krachte gegen die Kante der Kücheninsel, seine Lippe platzte auf, sein Mund nass von Blut. Einen Moment lang war er benommen, dann untröstlich. Er schien die Verletzung als persönlichen Verrat von George aufzufassen. George hatte unten beim Türsteher angerufen, damit der einen Wagen besorgte, Benji auf Monicas Schoß, ein Badetuch gegen das Gesicht gedrückt. Monica hatte Benji die Wange abgewischt und George voller Resignation und Mitleid angesehen. Als wäre dies genau das, was George tat: Schmerz hervorzurufen, mit dem umzugehen er zu ungeschickt war. Sie war bis nach den Preisverleihungen bei ihm geblieben, wenn er sich richtig erinnerte, und hatte ihn dann verlassen, um mit einer Frau zusammenzuziehen.
»Was machst du denn so im Augenblick?«, fragte George. »Irgendwas am Horizont?«
»Einen von diesen albernen Filmen«, sagte William. »Du weißt schon. Zwei alte Kerle auf einem Roadtrip. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal solches Zeug machen würde. Ich dachte, ich setze mich zur Ruhe. Aber sie holen einen einfach zurück, stimmt’s?«
William hatte seinen Heilbutt nur halb gegessen; George sah, dass er nach Kenny Ausschau hielt.
»Du sollest mal den Set sehen«, sagte William. »Alles total effizient, läuft praktisch auf Autopilot. Nicht so wie bei uns früher — dieser ganze Irrsinn, das Gequatsche, den Affenzirkus zusammenhalten. Das beherrschen die jetzt alles aus dem Effeff. Ich bin in vierzehn Tagen fertig. Grace freut sich, dass ich mich beschäftige. Ich bekomme einen Haarschnitt umsonst. Eine Win-win-Situation.«
»Sich beschäftigen ist gut«, sagte George. Ihm fiel auf, dass er mit dem Fuß auf den Boden klopfte, und er ließ es sein. »Apropos beschäftigen«, sagte er, »das hat mit dem zu tun, was ich dich fragen wollte —«
»Entschuldigung«, sagte eine Frau, die sich neben Williams Hocker herumdrückte. Wieso hatte George nicht bemerkt, wie sie sich angeschlichen hatte? Es war eine jüngere Frau, vielleicht Anfang dreißig, die, in eine Winterjacke eingemummelt, mit roten Wangen rasche Blicke hinter sich zu ihrer Freundin warf. Sie sahen aus, als hätten sie eigentlich hundert Jahre früher Wäsche schrubben müssen. Die Frau fing atemlos zu lachen an.
»Ich mache so was nie«, sagte sie, ihr Akzent vielleicht australisch. »Ich wollte wirklich nur Hi sagen, und ich bin einfach ein großer Fan Ihrer Arbeit.«
William legte mit ungezwungener Geduld Messer und Gabel hin. Warum ärgerte George diese inszenierte Freundlichkeit plötzlich?
»Hallo zusammen«, sagte er. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Wie heißen Sie?«
Wieder sah die Frau ihre Freundin an, jetzt kicherten beide.
»Sarah«, sagte sie. »Und Mae.« Mae machte ihr Handy bereit. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir ein Foto machen?«
»Es ist wirklich nett, Sie beide kennenzulernen, Sarah, Mae«, sagte William, der Sarah die Hand gab und, die andere auf ihrer Schulter, irgendwie beide Frauen, ohne dass sie es merkten, ein paar Schritte zurücklotste. »Ich mache im Augenblick keine Fotos, ich hoffe, Sie verstehen das, aber nochmals vielen Dank, dass Sie vorbeigekommen sind und Hallo gesagt haben.« Er lächelte, herzlich, aber mit Bestimmtheit. »Und Ihnen beiden noch einen wunderschönen Abend.«
Er wandte sie wieder George zu. Die beiden Frauen hinter ihm waren unschlüssig, wie benommen; sie blieben einen Moment zu lange stehen, ehe sie rückwärtsschlurften und schließlich im Schnellschritt die Tür ansteuerten und dabei mit leisen, aufgeregten Stimmen aufeinander einredeten.
»Entschuldige«, sagte William. »Entschuldige. Heutzutage muss man nett sein, sonst stellen sie einen online und sagen, wie gemein man ist.«
»Klar.« Die Unterbrechung hatte George aus dem Konzept gebracht. Er hatte den Faden verloren. »Ich wollte dir von etwas erzählen, das würde dir, glaube ich, gefallen —« Er spürte das Kratzen eines Essensrests, der sich von seinen Backenzähnen gelöst hatte, ein Stück Fischgräte, das in der weichen Haut hinten in seiner Kehle feststeckte. Er hustete einmal kräftig. Er nahm einen Schluck Wasser.
»Alles in Ordnung?« William sah ihn besorgt an, das Gesicht eines besorgten alten Freundes, und während George sprach, änderte sich Williams Miene nicht, schien allerdings ganz leicht zu erschlaffen.
Das Drehbuch sei ausgezeichnet, sagte George, mit das beste, das er seit langem zu sehen bekommen habe, und es gebe eine Menge Interesse, aber es würde teuer werden, und das mache die Leute nervös, William wisse ja, wie es sei, und wenn er, George, sagen könnte, dass William mit im Boot sei, würde das bei den höheren Tieren einen gewaltigen Unterschied machen. »Es zu verfilmen dauert wirklich keine drei Wochen, und wir könnten in L.A. drehen, falls das hilft.«
George spürte, wie ihm das Lächeln im Gesicht verwackelte. »Du weißt, ich bin nicht so leicht zu begeistern«, fuhr er fort, »aber das ist wirklich eine dieser Ausnahmen. Das spüre ich. Mein magischer Verstand, stimmt’s?«
William sagte einen Moment lang nichts. Er nickte leicht, starrte an George vorbei. »Ah«, sagte er schließlich, kratzte sich am Kinn, schob seinen Teller von sich. »Du weißt, ich würde gern mit dir zusammenarbeiten. Du weißt, ich würde gern helfen. Ich wusste nicht, dass du gerade dabei bist, was auf die Beine zu stellen.«
»Ich wollte mich mit dir treffen«, sagte George. »Persönlich.«
»Ja, schön«, sagte William. »Schön für dich.«
Kenny erschien und räumte die Teller ab, und William richtete sich auf seinem Hocker auf, von Kennys Anwesenheit mit neuer Energie erfüllt. »Hör zu«, sagte er, »schick es mir. Ich werfe einen Blick darauf. Okay? Ich sehe es mir an. Ich kann nicht sagen, wie bald, kann nichts versprechen, aber ich sehe es mir an.«
»Großartig«, sagte George, »mehr verlange ich nicht, und du weißt ja, gib einfach Bescheid. Was du meinst.«
William hatte um die Rechnung gebeten, ohne dass George es bemerkt hatte; Kenny legte sie in der Ledermappe vor William.
»Das übernehme ich«, sagte George und griff nach der Rechnung, »das geht auf mich«, aber William hatte Kenny irgendwie schon seine Kreditkarte gegeben. Er unterschrieb rasch die Quittung, ohne auf Georges Proteste einzugehen.
»Bitte«, sagte William und lächelte herzlich, eine Hand auf Georges Schulter. Er drückte sie einmal, dann noch einmal. »Ich freue mich einfach, mit meinem alten Freund unterwegs zu sein.«
Das Kino war einer dieser Läden mit nur einer Leinwand, die jeder Schwachkopf mit einer Kamera für ein Wochenende mieten konnte, um seinen Film zu zeigen. Wahrscheinlich konnte man auch seine Urlaubsfotos zeigen. Im Übrigen wurden hier Filme vorgeführt, die schon vor Monaten angelaufen waren und jetzt endlich so billig waren, dass das Kino sie sich leisten konnte. Benji hatte auf dem matschigen Bürgersteig ein Step-and-Repeat-Banner aufgebaut. Ein einziges an zwei Stangen festgeklipptes, durchhängendes Stück Samtkordel. Mager, dachte George, mager. Aber wie unfreundlich. Reiß dich zusammen, dachte er — er hatte kräftig einen sitzen. Er blickte sich nach Benji um, sah ihn aber nicht. Zwei Fotografen waren da — vielleicht Freunde von Benji, er hatte keine Ahnung, wer sonst sich breitschlagen ließe, hierherzukommen, aber wer weiß? Sie machten ein paar Fotos von George und William zusammen, Williams schwerer Arm auf Georges Schulter. William war so groß. Ich schrumpfe und werde alt, dachte George. Es war ein kleines bisschen komisch. Der Blitz der Kamera blendete ihn einen Moment lang, ein jähes Licht — das alles sind Hirngespinste. George trat zur Seite, damit sie Fotos von William allein machen konnten. Er betrachtete William in seinem Mantel, wie er tapfer lächelte. George hatte dafür gesorgt, dass William hier auf dem verschneiten Bürgersteig, vor diesem Step-and-Repeat, anwesend war und sich von Idioten fotografieren ließ. Er war ein guter Freund.
»Wo ist der Mann der Stunde?«, fragte William, der sich wieder zu George an die Tür stellte. Er gab sich liebenswürdig, aber irgendetwas war abgekühlt, irgendeine Förmlichkeit war aufgekommen.
»Ich weiß nicht genau«, sagte George. »Vielleicht ist er drin.«
Eine junge Frau in einer grellorangefarbenen Steppjacke und mit nackten Beinen kam auf sie zu. George sah, wie William sich für die Störung wappnete. Aber die Frau lächelte nervös George an.
»Hi, Mr. Friedman.«
»Hi«, sagte er. Er erkannte sie nicht. Sie hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und reckte den Hals, um an ihm vorbei in die Eingangshalle zu schauen.
»Er ist nur eben auf der Toilette«, sagte sie. »Und ich kenne hier keinen Menschen. Dann habe ich Sie gesehen, und ich so, Gott sei Dank.«
Benjis Freundin. Maya, Mara? Sie waren einander erst einmal begegnet, als Benji und sie für eine Nacht im Loft aufgeschlagen waren, und sie hatten kaum miteinander gesprochen, Benji hatte sie ins Gästezimmer gescheucht, und morgens waren sie schon wieder fort gewesen, ehe George aufgewacht war. Sie war hübscher, als es Benji verdiente, große braune Augen, Piercings die Ohrkrempe rauf und runter, einen fast unsichtbaren Goldring in der Nasenscheidewand. Irgendwie war der Effekt nicht aggressiv, sondern hübsch, zart. Bei ihr wirkte es ganz natürlich und reizvoll, dass Frauen sich das Gesicht piercten. Er versuchte zurückzudenken — hatten sie und Benji sich auf dem College kennengelernt? Kam sie aus Toronto? Er wusste nicht, wo er diese Information hervorgekramt hatte.
»Das ist William«, sagte George. »Er ist übrigens Benjis Patenonkel.
»Mara«, sagte sie und gab ihm die Hand. Sie zitterte sichtlich, obwohl sie es zu verbergen versuchte.
»Gehen wir rein«, sagte George. »Sinnlos, in der Kälte rumzustehen.«
In einer Ecke der Eingangshalle stand ein Klapptisch, darauf Pappschachteln voller Popcorn und zimmerwarme Wasserflaschen vom Discounter.
»Ist das gratis?«, fragte Maja und sah George an. »Kann ich mir da einfach nehmen?«
»Natürlich.«
Sie strahlte so augenblicklich, dass er beinahe lachen musste. Das Popcorn war trocken und von einem Übelkeit erregenden Gelb, aber er aß trotzdem eine Schachtel, mampfte sie händeweise im Stehen, ohne Genuss. Mara aß ihre Stück für Stück, pflückte jedes wie eine Kostbarkeit heraus. Wie alt war sie? Zwanzig?
Ein Mann mit einem weißen Pferdeschwanz und einer getönten Sonnenbrille packte George am Arm, schüttelte ihm kräftig die Hand.
»George, mein Lieber!«
Er war vertraut, wenn auch nur nebelhaft — war er Redakteur gewesen? Sein Hemd war so weit aufgeknöpft, dass, in den Pelz seiner Brustbehaarung eingebettet, eine Haizahnkette zu sehen war. Wenn George den Namen der Frau, deren Foto der Typ auf seinem Smartphone vorzeigte, richtig verstanden hatte, dann war der Mann mit jemandem namens London verheiratet. Du meine Güte.
Seit neuestem stellte George fest, dass er Gespräche mühelos abwürgen konnte — er verstummte einfach und starrte ins Leere. Blinzelte langsam. Eine Art Mount-Rushmore-Manöver, und jegliche Gesprächsenergie verdämmerte zu nichts. Der Mann sah George an, schaute in die Richtung, in die George starrte. Er kniff die Augen zusammen, dann lächelte er. »Tja«, sagte er, »schön, dich zu sehen.«
George nickte kaum wahrnehmbar.
Auftritt der Sohn.
»Dad«, sagte Benji. »Dad, heilige Scheiße, ich freue mich so, dass du hier bist.«
Benji umarmte ihn kräftig, mit einer Hand eine Flasche Bier umklammernd. Seine Wangen waren gerötet. Er trug ein Hawaiihemd unter einer Lederjacke, auf dem Kopf eine Art Bowler. Er legte einen Arm um Mara und zog sie an sich, sodass er sie auf die Wange küssen konnte. »Das ist so cool, stimmt’s?« Er blickte sich weiter um. »Ach du heilige Scheiße!« Er umarmte William. »Das haut mich um. Dass ihr alle hier seid.«
»Der Typ hier«, sagte er zu Mara und drückte Williams Arm, »war praktisch so was wie mein zweiter Dad.«
Mara sah William sichtlich beeindruckt an, aber George merkte, dass sie ihn nicht erkannte.
»Wir waren mal in Cabo zum Hochseefischen. Weißt du noch? Wie ich übers ganze Deck gekotzt habe?«
»Das war mit mir«, sagte George. »Wir beide haben das gemacht.«
»Nein«, sagte Benji, »auf gar keinen Fall.«
»Das war mit mir«, sagte George.
Benji fing Willams Blick auf, und sie sahen einander einen Moment lang an. »Sorry«, sagte er mit sanfterer Stimme, »aber meiner Erinnerung nach war’s er hier« — er knuffte William leicht gegen die Schulter — »weil du Circus Peanuts gekauft und mir gesagt hast, die bräuchten wir, um einen Clownfisch zu fangen, stimmt’s?«
William zuckte leutselig die Achseln. »Vielleicht war’s ja doch dein Paps, oder? Das alles ist schon so lange her.«
Aber es hörte sich schon ganz nach William an, dieses ganze kitschige Zeug mit der Süßigkeit, und George wusste, er hatte Unrecht, natürlich hatte er Unrecht, er kam in der liebevollen Erinnerung seines Sohnes nicht vor. Inzwischen unterhielten sich William und Benji über irgendeinen Ausflug nach Wyoming, den sie unternommen hatten. Noch so ein Ausflug, den er vergessen hatte. Aber vielleicht war das auch nach der Scheidung gewesen, ein Ausflug, von dem er gar nichts gewusst hatte. Sie bekamen nicht mal mit, dass George schwieg. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne; das Popcorn hatte einen Rückstand in seinem Mund hinterlassen, irgendeine chemische Trockenheit. Er erblickte sich selbst im Spiegel der Eingangshalle; er schnitt Grimassen, sein Zahnfleisch entblößt und stumpf. So viele Gelegenheiten hier auf Erden, sich in eine peinliche Lage zu bringen. Mara lächelte ihn an, ihr nichtssagendes, gleichmäßiges Lächeln. Das heiterte ihn ein wenig auf. Sie war ein hübsches Mädchen. Was hatte noch gleich in diesem Artikel in der Times gestanden? Ich war einfach dankbar, als fühlendes Wesen auf dieser Welt gelebt zu haben.
Die Kinositze rochen leicht feucht, da alle ihre tropfnassen Jacken auf die Plätze vor sich häuften. Der Saal war nicht einmal annähernd voll. Vielleicht siebzig Leute. Vielleicht hundert, korrigierte sich George, sei großzügig. William saß auf einer Seite von ihm, der Platz auf der anderen blieb frei. Für Benji. Daneben saß Martha, sittsam, ihre orangefarbene Jacke im Schoß zusammengeknüllt. Sie hatte sich noch eine Schachtel Popcorn geholt und strahlte beinahe vor Aufgeregtheit. Sie liebte seinen Sohn. Seinen Sohn, der vorne stand und immer noch diesen Hut trug. Eine qualvolle Minute lang versuchte Benji erfolglos, die Höhe des Mikrofonständers zu verstellen. Er warf immer wieder Blicke ins Publikum und sagte etwas, was niemand verstehen konnte.
»Wir können dich nicht hören!«, rief eine Stimme.
Schließlich nahm Benji das Mikrofon ganz vom Ständer.
»Tja, dann wollen wir mal«, sagte er. »Ich muss mich für die, äh, technischen Schwierigkeiten da entschuldigen.«
Er hielt inne — George brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er auf irgendeine Reaktion wartete. Es gab ein paar vereinzelte Lacher, einen Pfiff von irgendeinem seiner College-Freunde.
»Ben-dschie!«, grölte jemand.
Benji quittierte es mit einem Kopfneigen.
»Ich möchte nur sagen, es ist eine echte Ehre, diesen Film gemacht zu haben. Es war ganz sicher eine Lernerfahrung«, sagte er, »aber es war auch wirklich schön, ein schönes Zusammenkommen von Menschen.«
Benji fuhr sichtlich auf den Klang seiner eigenen Stimme ab, darauf, im Fokus eines Publikums zu stehen. George konnte sich deutlich an dieses Gefühl erinnern, obwohl man natürlich niemals zeigen durfte, dass man es genoss, und auf keinen Fall so deutlich, wie Benji es tat, der wie ein Pfau hin und her stolzierte und mit einer Hand das Mikrokabel schlenkerte.
»Ach so, ja, und ich möchte mich auch bei allen von euch bedanken, die geholfen haben.« Er hielt inne und ließ den Blick über die Plätze wandern. »Das waren so ziemlich alle hier im Saal — ihr habt uns entweder geistige Unterstützung zukommen lassen oder manche von euch auch Geld, und ohne euch hätten wir es einfach nicht geschafft.«
Seine Hände legten sich in einer Art plumper Gebetshaltung um das Mikrofon; er verbeugte sich leicht in Richtung des Publikums.
»Und ein besonderer Dank an denjenigen, der das alles ausgelöst hat. Der meine Liebe zu alldem ausgelöst hat« — seine Geste schloss das ganze Kino ein. George rührte sich unbehaglich auf seinem Platz. Jetzt kam es.
»William Delaney«, sagte Benji. »Der unvergleichliche, der heute Abend hier ist, und — einfach — wow.« Er strahlte ins Scheinwerferlicht. »Keine Worte. Eine Legende.«
Leute drehten sich nach ihnen um. William hob eine Hand, nickte freundlich. Ein Handy blitzte. George zeigte keine Regung. Mount Rushmore. Als Leute zu klatschen anfingen, klatschte er ebenfalls.
»Und last not least«, sagte Benji, »möchte ich auch meinem alten Herrn meinen Dank abstatten. Auch er eine Legende. George Friedman.«
Die Lautstärke des Klatschens ließ ein wenig nach. George spürte, dass Leute einander fragten, wer er war. William lächelte ihn an, genau wie Mara. Er lächelte ebenfalls. Das waren nette Leute. Auf der Bühne formte sein Sohn mit den Lippen stumm »danke schön«. Konnte er George dort, wo er saß, überhaupt sehen, oder vermutete er nur ganz allgemein, wo sein Vater war? George kam der Gedanke, dass er vielleicht aufstehen, ein paar Worte sagen sollte. Gab es eine Version seines Lebens, in der er aufstand und eine Rede über seinen Sohn hielt? Diese Version hier war es jedenfalls nicht. Was auch immer sich an Raum für einen solchen Vorgang aufgetan haben mochte, schloss sich wieder. Benji fuhr fort.
»Und bitte, macht kräftig Mundpropaganda, seht zu, dass es sich da draußen rumspricht. Facebook und Twitter und das alles. Weit und breit. Wir wollen, dass die Welt das zu sehen kriegt.« Er blickte in die Runde, sein Gesicht glänzte im Scheinwerferlicht. »Ach so, ja«, sagte er. »Ich hoffe, es gefällt euch.«
Das ganze Ding dauerte keine fünfzig Minuten. Für einen Kurzfilm zu lang und für einen Spielfilm zu kurz, und die Welt würde ihn nicht zu sehen kriegen — er würde nirgendwo anders laufen als in diesem Kino in der 12th Street an diesem Februarabend im Jahr 2019. Allein die Rechte für die Songs zu kriegen hätte einen höheren Millionenbetrag gekostet — im Grunde handelte es sich um ein Musikvideo der größten Beatles-Hits. Dazwischen eingestreut waren Interviews mit Benjis Freunden und, so hatte es den Anschein, vielen wissenschaftlichen Hilfskräften des Santa Monica City College. Verkehrsgeräusche übertönten ein ganzes Interview, bei dem jemand auf einer Bank in einem Stadtpark saß und ins Objektiv blinzelte. Ab und zu wackelte das große rote Gesicht seines Sohns über die Leinwand, größer, als er es je gesehen hatte. »Der Oxford English Dictionary«, intonierte Benji, »definiert Liebe als ein Gefühl oder eine Gemütsverfassung von tiefer Zuneigung oder Zärtlichkeit für jemanden.« Benjis Gesicht in extremer Nahaufnahme: sein schwaches Kinn, der Hauch von Unsicherheit, an der Kieferpartie eine Hautreizung vom Rasieren.
Als Kind war Benji auf all die Filme versessen gewesen, die George hasste, all die Zackbumm-Filme, wie dieser eine Produzent sie immer genannt hatte. Erster Akt — Vorbereitung des Zackbumm. Zweiter Akt — Zackbumm. Dritter Akt — immer feste drauf mit Zackbumm und noch mehr Zackbumm. Was war Zackbumm? Explosionen, Autoverfolgungsjagden, Schießereien, Blut und Eingeweide. George hatte immer die Finger von diesem Zeug gelassen — die Flutwelle, die die Stadt verschlang, der entgleisende Zug. Er hatte sich nicht auf dem Laufenden gehalten; die ganzen Effekte, die Computeranimationen. Unbemerkt war um ihn herum eine völlig neue Welt entstanden. Vielleicht hatte es ihm auch an einer gewissen Toleranz gefehlt, der Fähigkeit, Veränderungen zu akzeptieren. Was war denn eigentlich so verkehrt mit dem Zackbumm-Zeug, mit diesen Rezepten? George hatte diese Filme zu akkurat gefunden, zu routiniert. Sie waren zu leicht zu lieben. Das hatte er Benji einmal zu erklären versucht, damals, als er noch glaubte, ihn zu erziehen, glaubte, dass sein Sohn diese Lektionen aufnehmen und dankbar dafür sein würde. Das war nicht der Fall gewesen. Ohnehin hatte Benji genau das an Filmen geliebt, sich genau deswegen immer wieder Stirb Langsam angesehen. Wer stellte sich nicht gern vor, das Leben hätte eine bestimmte Form, ein bestimmtes Rezept? Die Jahre gingen nicht so einfach durch einen hindurch? Die dunkle Nacht der Seele, alles ist verloren — dann der Moment des Sieges, die Wende, alles ist gut, Wiedervereinigung, Tränen. Der Held obsiegt. Ausblenden. Abspann.
Als sie auf den Bürgersteig vor dem Kino zurückkehrten, waren die Straßen weiß. George blickte nach oben, und aus der Dunkelheit strömte Schnee auf ihn zu. Irgendwer hatte das Step-and-Repeat-Banner abgeräumt. Man baute bereits wieder für eine Mitternachtsvorstellung eines anderen Films auf, eines japanischen Horrorfilms. William stellte sich neben ihn.
»Tja«, sagte William, während er sich seine Handschuhe anzog. »Wollen wir?«
Die After-Show-Party fand in einem Loft zehn Blocks entfernt statt, aber William entschuldigte sich.
»Ich bin zu alt«, sagte er. »Lass die jungen Leute ihren Spaß haben. Aber komm, ich setze dich dort ab.«
Ein schwarzer Wagen stand bereits mit laufendem Motor am Bordstein. Williams Fahrer stieg aus, um die Hintertür zu öffnen, dann blieb er stehen, den Blick zu Boden gerichtet.
Im Wagen war es still und warm. William hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf zurückgelehnt. Er hielt die Augen geschlossen.
»Netter Abend«, sagte er. »Benji ist ein guter Junge.«
»Ja«, sagte George. Sie würden nicht über den Film reden. George begriff, dass das vonseiten Williams eine Freundlichkeit war.
»Du hast das gut gemacht«, sagte William, und seine Augen gingen auf. Er tätschelte Georges Arm.
Inwiefern eigentlich gut?, hätte George fragen können. Stattdessen nickte er, schaute zum Fenster hinaus. Er war müde. Das waren sie beide. Es würde eine kurze Fahrt werden.
Und jetzt war William fort, bereits zu Hause, lag im Bett neben seiner Frau, und George war hier in diesem Loft, das einem Fremden gehörte. Auf der After-Show-Party wurde zu viel gequalmt, also hatte jemand sämtliche Fenster aufgerissen. Jetzt war es eiskalt, George hatte Jacke und Schal an. Er pflanzte sich auf das Sofa, bis drei junge Frauen das andere Ende mit Beschlag belegten, kichernd um ein Smartphone zusammengedrängt, als wäre es eine Wärmequelle. Dann drückte sich George, mit hochgezogenen Schultern in seine Jacke gehüllt, in der Nähe der Tür herum. Benji drängte Gästen Gläser mit Tequila auf, sein Hawaiihemd halb aufgeknöpft, so kräftig schwitzend, dass es aussah, als würde er schmelzen. Er amüsierte sich, wie es schien, auf fast schon brachiale Weise, küsste Frauen auf die Wange, legte seinen Freunden den Arm um den Hals. Er war, vermutete George, stolz auf sich. Mara saß auf der Kante eines Hockers und naschte von einer Schale Pistazien, auf dem Tresen ein Plastikbecher mit Wein. Sie betrachtete die Fotos an der Wand. Als George sich auf den Hocker neben ihr setzte, fuhr sie leicht zusammen.
»Oh, hi, Mr. Friedman«, sagte sie, immer noch eine Pistazie kauend.
»Haben Sie einen schönen Abend?«
»O ja, total«, sagte sie und hielt sich eine Hand vor den Mund, während sie hinunterschluckte. »Macht voll Spaß.«
Junge Leute wussten nicht, wie man Fragen stellte, wie man ein Gespräch am Laufen hielt. Normalerweise hätte ihn das gestört, an diesem Abend jedoch nicht.
»Mir auch«, sagte er. Vor den Fenstern konnte George es schneien sehen. »Richtig gute Party.«
Die junge Frau sah ihn an, dann senkte sie den Blick auf ihren Schoß. Würde sie noch jemals an ihn denken, in Jahren, wenn es ihn nicht mehr gab?
»Hat Ihnen der Film gefallen?«, fragte George.
»Ja. Es war cool, ihn in einem richtigen Kino zu sehen. Anstatt immer nur so stückchenweise, wie er ihn gemacht hat.« Mara nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Benjamin hat richtig hart dran gearbeitet.«
»Ach ja?«
Sie nickte. »O ja, total. Ständig.«
»Schön«, sagte George. »Sehr schön.«
Maras Miene hellte sich auf, sie lächelte, und George spürte, wie er zurücklächelte, ein Reflex — aber sie lächelte Benji an, der sich hinter George genähert hatte. Er schlang die Arme um Mara und hob sie vom Hocker.
»Komm, ich stell dir ein paar Leute vor«, sagte Benji und wirbelte sie herum, während sie versuchte, ihren hochgerutschten Rock herunterzuziehen. Benji kitzelte sie, und sie lachte und schlug seine Hand weg.
»Bis dann, Mr. Friedman«, sagte Mara über Benjis Schulter hinweg.
Benji wandte sich ihm einen kurzen Moment lang zu. »Bei dir alles gut, Paps?«
George nickte.
Sein Sohn strahlte. Sein mondgesichtiger, betrunkener und schwitzender, nach Gras riechender Sohn. Benji. Benjamin. Und dann war er fort.