»Wir haben nicht viel im Haus«, sagte Mary. »Tut mir leid.«
Kayla blickte sich um, zuckte die Achseln. »Ich habe gar nicht so viel Hunger.«
Mary deckte den Tisch, buntes Fiestaware-Geschirr auf Platzdeckchen, daneben Stoffservietten mit Fransen. Sie aßen Mikrowellen-Pizza.
»Wir brauchen ein bisschen was Frisches«, sagte Marys Freund Dennis fröhlich und häufte Spinatblätter aus einem Plastikbehälter auf die Pizza. Er schien sehr angetan von seiner Raffinesse. Kayla aß den Spinat, nahm ein paar Bissen vom Teig. Mary füllte Kaylas Wasserglas nach.
Als Kayla um ein Bier bat, sah sie Mary und Dennis einen Blick wechseln.
»Aber sicher, Schätzchen«, sagte Mary. »Dennis, haben wir Bier da? Vielleicht siehst du mal im Kühlschrank in der Garage nach.«
Kayla trank zwei zum Essen und ein drittes draußen auf der Veranda, die angezogenen Beine unter dem übergroßen Hoodie, den sie sich aus dem Zimmer von Marys Sohn geholt hatte. Die Wildnis des Gartens ließ alles dahinter künstlich wirken: die Skyline der Stadt weiter unten, die Sterne. So tief im Canyon war der Empfang miserabel. Sie konnte versuchen, wieder näher an die Straße zu gehen, drüben beim Zaun der Nachbarn, aber Mary würde es bemerken und etwas sagen. Sie konnte spüren, dass Dennis und Mary sie von der Küche aus beobachteten, den Schimmer ihres Displays verfolgten. Was würden sie tun, ihr das Handy wegnehmen? Sie googelte Rafes Namen, dann ihren eigenen. Die Anzahl der Treffer hatten zugenommen. Was für ein alptraumhafter Anstieg, die rasend schnelle Verdreifachung der Ergebnisse, und wie seltsam, ihren Namen so zu sehen, wie er Seite um Seite füllte, sogar mitten in Fremdsprachen auftauchte, über Fotos von Rafes vertrautem Gesicht schwebte.
Vor Dienstag war Kayla kaum in Erscheinung getreten; eine alte Fundraising-Webseite der Studenten für ein freies Tibet; ein von einer Cousine zweiten Grades betriebener Blog mit Fotos eines Familientreffens aus der ferneren Vergangenheit, Kayla im Teenageralter, den Mund voller Zahnspangen, in der Hand einen von Gegrilltem durchgebogenen Pappteller. Ihre Mutter hatte die Cousine angerufen und sie gebeten, das Foto zu löschen, aber zu diesem Zeitpunkt war es bereits in den Bernstein des Internets übergegangen.
Gab es irgendwelche neuen? Sie hatten Fotos von Kayla ausgegraben, wie sie hinter Rafe und Jessica herging und dabei Henrys winzige Hand hielt. Rafe in seinem Button-down-Hemd und Jeans, umgeben von Frauen und Kindern. Das waren die einzigen Bilder, die Kayla hatte, auf denen sie und Rafe gemeinsam zu sehen waren. Komisch, nicht? Sie stieß auf ein neues Foto — sie sah bloß okay aus. Diese Jeans, die sie liebte, stand ihr, wie sie sah, doch nicht so gut, wie sie gedacht hatte. Sie speicherte das Foto auf ihrem Handy, damit sie es sich später genauer ansehen konnte.
Kayla zwang sich, die Suchergebnisse zu schließen, dann aktualisierte sie ihre Textnachrichten. Eine Gnadenfrist, ein Sekundenbruchteil nur, in dem sie glauben konnte, die Kräfte des Universums wirkten zusammen und schickten etwas von Rafe in ihre Richtung. Noch bevor sie geladen waren, wusste sie, dass nichts dabei sein würde.
»Brauchst du irgendwas, Schätzchen?«
Mary stand in der Verandatür, bloß ein schwarzer Schatten.
»Ich würde dir ja Licht machen«, sagte Mary, »aber da draußen ist keine Glühbirne.«
Mary war auf dem College die Zimmergenossin ihrer Mutter gewesen und inzwischen Drogen- und Alkoholberaterin. Zunächst hatte Kaylas Mutter gewollt, dass sie nach Hause flog — ich bezahle dir das Ticket, hatte sie gesagt, bitte —, doch dann hatten die Fotografen ihr Ranchhaus in Colorado Springs belagert. Auf Kayla gewartet. Also hatte sie Mary angerufen, ihre College-Zimmergenossin, Mary, die Trauzeugin bei ihrer kleinen standesamtlichen Hochzeit, einer Hochzeit, der rasch eine Scheidung gefolgt war. Man konnte sich ohne weiteres vorstellen, was Mary von Kayla hielt. Zu nichts zu gebrauchen, glaubte sie wahrscheinlich, erst vierundzwanzig und jetzt das. Wahrscheinlich, dachte Mary, war das die zwangsläufige Folge eines abwesenden Vaters und einer überarbeiteten Mutter.
Aber wie konnte Kayla es erklären? Sie empfand das Ganze als angemessen, auch von der Größenordnung her. Sie hatte schon immer damit gerechnet, dass ihr so etwas passieren würde.
»Danke, alles gut.« Kayla bemühte sich um einen überaus höflichen Ton.
»Wir wollen uns gleich diesen Dokumentarfilm ansehen«, sagte Mary. »Über ein Mädchen, das die erste Falknerin in der Mongolei war.« Sie hielt inne. Als Kayla nicht reagierte, redete sie weiter. »Er soll sehr gut sein.«
Mit ihren weiten Leinenblusen und ihren silbernen Oxfords war Mary die Sorte ältere Frau, von der jüngere Mädchen ständig sagten, dass sie so werden wollten wie sie. Mary mit ihrem großen Haus oben in den Canyons, dem ganzen unberührt gebliebenen Holz aus den Siebzigern. Wahrscheinlich ließ sie sich von ihrem Teenager-Sohn beim Vornamen nennen. Kayla begriff, dass Mary ein netter Mensch war, ohne es wirklich zu glauben; Mary irritierte sie.
»Eigentlich bin ich ziemlich müde«, sagte Kayla. »Ich gehe einfach schlafen.«
Wollte Mary noch etwas sagen? So gut wie sicher.
»Nochmal danke dafür, dass ich hier wohnen darf«, sagte Kayla. »Ich versuche dann mal zu schlafen.«
»Gern geschehen«, sagte Mary und zögerte, sammelte sich wahrscheinlich, um irgendeine schlichte Weisheit, irgendeinen Ex-Junkie-Psalm von sich zu geben. Doch bevor sie etwas sagen konnte, lächelte Kayla sie an, ein professionelles Lächeln. Mary wirkte überrascht, und Kayla nutzte diesen Moment, um ihr Bier, ihr Handy an sich zu nehmen, an Mary vorbeizugehen und das Zimmer anzusteuern. Marys Sohn hatte seine Tür mit Absperrband umwickelt und ein »Zutritt verboten, Lebensgefahr«-Schild und einen Sticker mit einem Atomsymbol darangeklebt. Ja, ja, schon kapiert, dachte Kayla, du bist ein toxischer kleiner Scheißer.
Marys Sohn war in den Schulferien bei seinem Dad, und Mary hatte sich erkennbar bemüht, das Zimmer hübsch herzurichten: Sie hatte Kayla einen Stapel frischer Handtücher herausgelegt, ein kleines Stück noch verpackter Hotelseife und auf dem Nachttischchen Die besten amerikanischen Essays 1993. Trotzdem roch es nach Teenager, Dünste von Old Spice, billiger Wichs-Creme, ungewaschenen, im Schrank herumliegenden Sportsachen. Kayla lag auf dem ordentlich gemachten Bett. Die Surfposter an sämtlichen Wänden zeigten Männer, mit rosa Nippeln und braungebrannt, auf Brettern inmitten riesiger, fast durchscheinender Wellen. Die Poster waren wie Pornos über die Farbe Blau.
Immer noch nichts von Rafe. Was blieb ihr übrig, als weiter zu existieren? Unter jeder Sekunde pochte ein Gefühl von Unwirklichkeit, eine nicht durchweg negative Panik. Sie ertappte sich dabei, dass sie die Formulierung austestete, sich vorstellte, wie sie das Gefühl Rafe gegenüber beschreiben würde, wenn er anriefe. Sie war stolz auf den Satz: Ich komme mir vor, als wäre ich aus meinem eigenen Leben herausgepflückt worden. Sie sagte ihn stumm vor sich hin, und ihr Herz schlug schneller. Dramatisch. Solange sie schlafen konnte, ging es ihr gut, solange die Möglichkeit bestand, alles auszublenden — sie hatte immer noch ein paar von Rafes Schlaftabletten, die ihm unter anderem Namen verschrieben worden waren. Sie zog einen Frischhaltebeutel aus ihrem Rucksack, schüttelte eine Sonata heraus, knabberte ein bitteres Stück davon ab. Am besten, man teilte sie, hob sich etwas für später auf. Sie drückte einen angefeuchteten Finger gegen den Beutel, um etwaige Krümel aufzunehmen, dann gab sie auf und schluckte die zweite Hälfte der Tablette mit dem letzten Schluck Bier.
In den Schubladen von Marys Sohn gab es nichts Interessantes zu sehen — eng gefaltete Boxershorts, T-Shirts von verschiedenen Sommercamps mit zunehmend irreren Angeboten — Rockstar-Camp, Modedesign-Camp. Eine Zigarrenkiste voller Münzen und ein Paar Manschettenknöpfe aus Schreibmaschinentasten, ein Jahrbuch mit Beiträgen ausschließlich von Mädchen. Sie durchblätterte das Jahrbuch: Der Junge schien auf die Art von Schule zu gehen, wo alle stricken lernten, anstatt rezeptpflichtige Amphetamine zu schlucken. Ein wohlmeinender Schrieb von einer Lehrerin nahm eine ganze Seite im hinteren Teil ein. Kayla bezweifelte, dass der Junge ihn überhaupt je gelesen hatte. Sie allerdings tat es, auf der Kante des Einzelbetts sitzend — es war merkwürdig bewegend, obwohl es vielleicht bloß an der einsetzenden Wirkung der Sonata lag, ihre Gedanken nahmen etwas Verschwommenes an, die Verschlusszeit verlangsamte sich allmählich.
Max: Ich bin so stolz auf dich und auf alles, was du dieses Jahr geleistet hast. Kann es gar nicht erwarten, mitzuerleben, wozu du es auf dieser Welt bringen wirst! Du bist ein ganz besonderer Mensch — vergiss das nie!
Aus dem Wohnzimmer konnte sie den Ton des Dokumentarfilms hören, das Anschwellen mongolischer Musik, die an Eindringlichkeit gewann. Jede Wette, dass Mary gerade feuchte Augen kriegte, überwältigt vom Anblick eines sich in die Höhe schwingenden Falken oder der Nahaufnahme der Hände eines alten Mannes, vom Wind, der über eine mongolische Steppe peitschte. Auf dem College hatte Kayla ein Mädchen gekannt, das aus der Mongolei adoptiert worden war. Sie hieß Dee Dee, und Kayla hatte von ihr nur in Erinnerung, dass sie die Neigung hatte, bei offenen Vorhängen zu duschen, und dass sie sich am Waschbecken Pickel ausdrückte, sodass winzige Eiterklümpchen auf dem Spiegel zurückblieben. Wo war Dee Dee jetzt?
Kayla wurde allmählich müde. Sie wusste, sie sollte aufstehen und das Licht ausmachen, ihre Kontaktlinsen herausnehmen, ihren BH ausziehen. Sie rührte sich nicht.
Erinnerte sich Dee Dee an sie? Hatte sie die Nachricht gehört?
Du bist ein ganz besonderer Mensch, dachte Kayla bei sich. Ein ganz. Besonderer. Mensch.
Dennis war derjenige gewesen, der sie abgeholt hatte. Kayla hatte nicht einmal ein eigenes Auto, hatte eins von Rafe und Jessica benutzt. Das hatte zu den reizvollen Dingen an dem Job gehört, das Auto, obwohl es ihr inzwischen vollkommen dämlich vorkam, bloß ein weiterer Umstand, der ihr Leben an das dieser Leute gekettet hatte. Kayla sah zu, wie Dennis sich im Volvo näherte — er würde sich zwischen den Fotografen am Haupteingang hindurchschieben müssen. Am Tor hielt er an und wartete darauf, dass der Summer betätigt wurde. Er trug eine Schirmmütze, an deren Rand das Alter genagt hatte, und eine Fleeceweste mit dem aufgestickten Logo eines Vitaminherstellers. Er sah aus wie ein trauriges, müdes Tier, als er durch das Sicherheitstor fuhr, und Kayla hatte ganz kurz das Gefühl, dass sie etwas Schreckliches getan hatte. Jemanden wie Dennis an einen solchen Ort kommen zu lassen. Aus solchen Gründen. Aber eigentlich stimmte das doch gar nicht, dass sie schrecklich war, oder? Das Leben ist lang, sagte sie sich, als sie die Wagentür öffnete. Die Leute sagten ständig solche Sachen, das Leben ist lang.
»Mehr Zeug hast du nicht?«, sagte Dennis.
»Nein.«
Bloß einen Koffer und ihren Rucksack. Sie hatte alles mitgenommen, sogar die Ohrringe, die Jessica ihr geschenkt hatte, das Kleid, an dem noch das Preisschildchen hing. Den Inhalt der unzähligen Geschenktüten, Parfüm und Make-up, so viele Lotionen, ein Microcurrent-Gerät, Artikel, die Kayla online ausfindig machte, um den genauen Einzelhandelspreis zu ermitteln und die Zahlen dann zusammenzuzählen, bis sie leicht beschwipst war. Schuldgefühle hatte sie nicht, noch nicht. Würde sie je welche haben? Die Überwachungskameras zeichneten auf, wie sie in Dennis’ Wagen stieg. Würde Jessica sich dieses Bildmaterial ansehen? Oder Rafe? Sie versuchte, ein mildes Lächeln beizubehalten, nur für alle Fälle.
Zum ersten Mal begegnete sie Jessica bei dem Vorstellungsgespräch, nachdem die Agentur sie schon für gut befunden hatte. Jessica kam mit Verspätung und setzte sich an den Tisch. Sie war abgelenkt: Ihre Halskette hatte sich in ihrem Pullover verhakt.
»Können Sie vielleicht —«, sagte Jessica mit entsprechender Geste, und Kayla übernahm, nestelte vorsichtig an dem Verschluss, bemüht, nicht zu ziehen, damit der Pullover nicht gedehnt wurde. Sie hatte sich hinuntergebeugt, ihr Gesicht dicht an dem von Jessica: die Haut leicht gebräunt, das Haar von fast der gleichen Farbe, alle ihre Züge so zierlich und symmetrisch, dass Kayla, von der Nahtlosigkeit dieser Schönheit gefangengenommen, kaum den Blick davon abwenden konnte. Sie verspürte ein merkwürdiges Hochgefühl — wie viel Zeit hatte sie mit dem Versuch verschwendet, schön zu sein, wo doch hier und jetzt klar zutage lag, wie unmöglich das war. Die Erkenntnis war fast eine Erleichterung.
»Bitte schön.« Kayla ließ die Halskette in die richtige Lage zurückgleiten und strich den Pullover glatt. Er war aus Kaschmir und hatte die Farbe von Rootbeer.
Jessica berührte die Kette geistesabwesend, lächelte Kayla an. »Lieb von Ihnen.«
Die neueste Meldung war, dass Rafes Textnachrichten irgendwie auf dem iPad des Jungen gelandet seien, dass Jessica auf diese Weise dahintergekommen sei, und es war erstaunlich, sich vorzustellen, woher diese Information stammte, wie diese Fakten ans Licht kamen. Denn dieser Teil der Geschichte stimmte immerhin; gegen Ende war Kayla unvorsichtig geworden, was Textnachrichten an Rafe anging, und auch wenn er kaum je zurückgeschrieben hatte, dürfte Jessica sofort erkannt haben, was da vor sich ging.
Schauplatz von Henrys Lieblingsspiel auf dem iPad war ein virtueller Imbiss, wo man Hotdogs und Hamburger zubereitete und eine Uhr auf null heruntertickte. Kayla hatte einmal versucht, es zu spielen, und ihr Hemd durchgeschwitzt, so sehr war sie in Stress geraten. Ständig brannten ihr die Burger an, ständig ging der Getränkeautomat kaputt. Die Gäste schäumten und gingen.
Henry nahm ihr mit übertriebener Geduld das iPad aus der Hand.
»Es ist ganz leicht«, sagte er. »Du darfst bloß die Münzen nicht sofort aufheben. Dann hast du mehr Zeit.«
»Aber«, hatte sie gefragt, »geht es nicht darum, viel Geld zu kriegen?«
»Dann geht es zu schnell«, sagte Henry. Sie schien ihm leidzutun. »Es trickst dich aus.«
Zu seinem achten Geburtstag schenkte sie Henry ein Gerät, das Wasser mit Kohlensäure versetzte, und ein Buch, das sie als Kind geliebt hatte. Sie las es vor, während Henry an die Decke starrte. Das Buch schien ihm zu gefallen, obwohl das Ende sie überraschte; dass der alte Mann so gewaltsam starb, dass das Waisenkind groß wurde und nicht sonderlich glücklich war, hatte sie nicht in Erinnerung gehabt. Nachmittags, wenn die Haushälterin gegangen und Henry in der Schule war, schien die Luft zu erschlaffen. Es war seltsam, durch die Zimmer zu gehen, die Schränke zu öffnen. Die aufgehängten Kleider zu berühren, Rafes Hosen, mit Seidenpapier zusammengelegte Pullover.
Die Sache war die, sie war ein kluges Mädchen. Sie hatte Kunstgeschichte studiert. Ihr erstes Seminar, als Professor Hunnison die Lichter ausgeschaltet hatte und sie alle im Dunkeln saßen — sie waren achtzehn, die meisten jedenfalls, immer noch Kinder, immer noch Jugendliche, die ihr Leben lang zu Hause geschlafen hatten. Dann das Surren des Projektors, und auf der Leinwand erschienen schwebende Portale aus Licht und Farbe, Vierecke voller Schönheit. Es war wie eine Art von Magie, hatte sie damals gedacht, als sie solche Gedanken noch nicht als peinlich empfunden hatte.
Wie rätselhaft ihr das manchmal vorkam — dass sie einmal interessiert oder befähigt genug gewesen war, Hausarbeiten zu verfassen. Giotto und seine Neuinterpretation von de Voragines Text in seinen Fresken. Rodins Infragestellung klassischer Vorstellungen starrer ikonographischer Ziele, Michelangelos Leiber als Gefäße für Gottes Willen. Es war, als hätte sie einmal eine andere, inzwischen vergessene Sprache fließend beherrscht.
Bevor Henry zu Mittag aß, bekam er Fischölgummis in Sternform. Kayla mochte sie auch — einen für ihn, zwei für sie. Sie waren mit Zucker überzogen, aber diesen Umstand sollte man ignorieren und sich stattdessen auf das fischige Fett konzentrieren, das einem das Gehirn mästete und es rosiger und klüger machte. Zum Lunch machte Kayla überbackene Käse-Sandwiches auf dunklem Brot und Apfelschnitze. Sie aßen draußen, von Papiertüchern. Nach dem Essen lagen sie schweigend in der Sonne, Henry noch in der Badehose, Kayla in ihrem betont unerotischen Einteiler.
Einmal hatte Rafe den Schritt dieses Badeanzugs zur Seite gezogen und ganz unverblümt einen Finger in sie gesteckt. War das das zweite oder das dritte Mal? Kayla stellte sich vor, sie wäre die Sorte Mensch, die solche Details in einem Journal festhielt. Davon hatte sie viele: Rafe döste gern mit über den Kopf geworfenem Arm. Rafe hatte Narben von Pubertätsakne auf dem Rücken, erzählte ihr jedoch, sie stammten von einem Kletterunfall. Seltsam, dass das Fakten waren, die auch anderen Menschen etwas bedeuteten, Fremden, die ihn gar nicht kannten. Wenn man im Internet nach ihm suchte, war alles da — seine Allergien, seine ungefähre Größe, Fotos von ihm als jungem Mann. Sie tat so, als hatte sie das alles nie gesehen. Das stand immer zwischen ihnen, das vorgebliche Nichtwissen.
Es musste das dritte Mal gewesen sein, das mit dem Badeanzug. Die Laken auf dem Poolhausbett rochen nach Sonnenschutz. Rafe hatte unter dem Laken die Hand auf sie gelegt, die Augen geschlossen. Kayla betrachtete sein nichtssagendes, gutaussehendes Gesicht — es war jedes Mal seltsam, es zu berühren, als berührte man die Erinnerung an jemanden.
»Wie hat das bei dir angefangen mit der Schauspielerei?«, fragte sie. Ihre Stimme war verwaschen und leise, keiner von beiden war vollständig wach.
»Da war ich noch ziemlich jung«, sagte Rafe. Ein Gastschauspieler von Arts in Schools sei dagewesen, um vor seiner Klasse aufzutreten, erzählte er ihr.
»Du musst dir vor Augen halten«, sagte er, »dass das in Iowa war, im Januar.« Das war, bevor sie all die Artikel gelesen hatte — Rafe hatte die Geschichte so stockend erzählt, dass sie angenommen hatte, es handele sich um so etwas wie ein Geheimnis, etwas Kostbares, das er aus seinen seelischen Tiefen zutage förderte.
Offenbar hatte der Gastschauspieler, vielleicht um einen angemessenen Grad von Dramatik zu erzeugen, sämtliche Fenster des Klassenzimmers aufgerissen, sodass eiskalte Luft umherwirbelte, während er vor den Bänken auf und ab ging und Hamlet rezitierte.
»Das hat mich umgehauen«, sagte Rafe. »Und zwar so richtig.«
»Süß«, hatte sie gesagt und sich Rafe als kleinen Jungen vorgestellt, von Erwachsenendingen bewegt.
Eines Abends hatte er beim Essen einen Speiserest an den Zähnen — der Anblick rief ein beinahe erotisches Unbehagen bei ihr hervor, bis Jessica schließlich hinüberlangte und den Speiserest wegschnickte. Was Kayla nicht erklären konnte, war, dass sie ihn gleichzeitig hasste und liebte, und vielleicht hatte das auch damit zu tun, dass er dumm war.
Später las sie die Geschichte über Hamlet fast wortwörtlich in vielen verschiedenen Interviews.
Rafe war fast einen Monat fort, acht Zeitzonen entfernt zu Dreharbeiten, doch sobald Henry Winterferien hatte, flogen er und Jessica hin, und Kayla kam mit, bei verdoppelter Bezahlung. Sie hatte ihr eigenes Hotelzimmer dicht am Set. Vor dem Fenster, jenseits der weißen Mauern des Hotels, fuhren Tanklaster über die ungeteerten Straßen.
Nachdem sie angekommen waren, sah Rafe sie kaum an. Aber, sagte sie sich, das war durchaus verständlich. Jessica war ständig in der Nähe, oder es erschien irgendein persönlicher Assistent mit einem Walkie-Talkie, der Rafe auf den Set »einlud«. Rafe wurde immer nur »eingeladen«, das zu tun, was er tun sollte. Bei einem Essen für die Schauspieler hatte er sie in der Gasse hinter dem Restaurant kräftig in die Nippel gekniffen, sein Atem rauchig vom lokalen Bier, mit einem Beigeschmack nach Kolanüssen und Wermut. Damals lachte sie, obwohl Kellner es offenbar bemerkt hatten, außerdem mindestens einer der Produzenten, nach seinem Grinsen zu urteilen. Tatsächlich waren sie nur einmal allein. Jessica hatte Kayla nach oben in ihr Zimmer geschickt, um Sonnencreme für Henry zu holen. Sie öffnete mit Jessicas Schlüsselkarte die Tür, und da saß Rafe und sah sich bei zugezogenen Vorhängen im Fernsehen einen Boxkampf an.
»Hi«, sagte sie, ging zu ihm hin und küsste ihn, und er sträubte sich leicht, erwiderte ihren Kuss mit geschlossenen Lippen. Errötete er etwa? Es war seltsam. Trotzdem hatten sie Sex, rasch, ihr Kleid hochgeschoben, die Bettdecke nur leicht durcheinandergebracht. Sie ging ins Bad, um sich abzuwischen, achtete darauf, das Toilettenpapier hinunterzuspülen. Damals war sie noch vorsichtig. Da auf der Ablage stand die Sonnencreme. Als sie mit der Tube in der Hand ins Zimmer zurückkam, war Rafe ganz vom Fernseher in Anspruch genommen, sein Gesicht ausdruckslos, die Bettdecke glattgestrichen, als wäre überhaupt nichts passiert.
Es war Kaylas freier Tag; Jessica war mit Henry für den Nachmittag in eines der Bergstädtchen gefahren. Kayla döste in dem kühlen Zimmer unter dem Moskitonetz, das alles wie hinter einem Rauchschleier wirken ließ. Die ersten paar Tage hatte sie sich wohlgefühlt, doch dann setzte eine verzögerte Reaktion auf die erforderlichen Impfungen ein, das Weiße ihrer Augen trübte sich, Träume sickerten in ihr Wachleben ein. Sie trank den ganzen Tag Wasser aus der Flasche, trotzdem war ihr Urin von unnatürlichem Braun, milchig und nach Schwefel riechend.
Als sie aus dem Nickerchen erwachte, fühlte sie sich groggy und ihr war heiß, ihr Sonnenbrand pochte. Der Arzt auf dem Set hatte gesagt, sie solle weiter viel Wasser trinken und auf Gedankenverwirrung achten. War das Gedankenverwirrung, das schimmernde Gespenst von Bugs Bunny im Hotelzimmer?
Du bist ein wunderschönes Mädchen, sagte er.
Bugs sagte diese Sachen, ohne dass sich sein Mund bewegte. Es waren Gedanken, die aus seinem Gehirn direkt in das von Kayla gebeamt wurden, ein kurzes Wabern in der Luft zwischen ihnen. Manchmal vollführte er eine Art schlingernden Shuffle, einen Soft Shoe in Zeitlupe. Alles, was er tat, war langsam. Bugs Bunny. Sie lächelte vom Bett aus. Es gab sonst keinen Ort, wo Bugs sein konnte. Das sagte er zwar nicht ausdrücklich, aber sie verstand es auch so, die Empfindung lag dort in seinen großen, schwimmenden Augen — er würde den ganzen Tag bei ihr in diesem Hotelzimmer bleiben. Wenn sie es wollte.
Ich sollte Rafe besuchen gehen, meinst du nicht?
Sie sagte das oder dachte es.
Ich weiß nicht. Bugs blinzelte. Willst du das denn?
Bugs war so klug.
Ich sollte gehen. Sie versuchte, ihrem entzündeten Gehirn einen weiteren Gedanken abzuringen. Ich gehe jetzt. Ich muss Rafe sehen.
Bugs verbeugte sich leicht — eine gedehnte, langsame Verbeugung. Wenn es dir ein Bedürfnis ist.
Kayla zog sich ein Kleid an und trank an der Hotelbar einen Ananassaft mit Wodka. Sie filmten an diesem Tag bei den Klippen, so nah, dass Kayla die zehn Minuten durch die Dünen, die voller Sandflöhe und Pferdescheiße waren, zu Fuß ging. Bis sie am Set ankam, hatte sie ihr Kleid durchgeschwitzt. Alle standen bloß herum. Rafe nickte ihr zu, kam aber nicht herüber, um Hi zu sagen. Er wirkte grimmig. Sie hatten ihm die Augenbrauen zu dunkel geschminkt; das sah aus wie bei einem Clown. Vielleicht würde es ja auf der Leinwand gut aussehen. Sie merkte ihm an, dass er gereizt war, hungrig, hippelig, eine Dusche wollte, einen Drink brauchte. Sie spürte es, bevor Rafe nieste, bevor er sich an der Nase kratzte. Würde er dieses Gefühl je kennen? Diesen Grad von präziser, fast schon psychotischer Eingestimmtheit auf einen anderen Menschen?
»Warum haben sie aufgehört?«, fragte sie einen der Beleuchter.
Er beachtete sie kaum. »Die haben was im Bildfenster gefunden.«
»Ach. Im Bildfenster?«
Der Typ schaute mit zusammengekniffenen Augen ins Leere, zuckte die Achseln. Bildete sie sich seine kurz angebundene Art nur ein? Nein. Die Leute am Set redeten nicht mehr gern mit ihr. Das hätte das erste Anzeichen sein müssen. Die Leute hatten einen animalischen Instinkt für Macht, konnten spüren, dass Kaylas Nutzen sich erschöpft hatte.
Sie ließ sich auf einem der Stühle unter einem provisorischen Sonnensegel vor einem Wohnwagen nieder. Die Sonne laugte alles aus, so dass es wie skizziert, unfertig wirkte. Vom Sonnenbrand spannte ihre Haut. Sie kratzte sich leicht am Knöchel. Wenn sie bloß Sonnenbrand hätte, wäre alles gut, aber sie hatte auch wunde Stellen, diese geschwollenen roten Stiche. Sie rieb einen Knöchel am anderen. Sanft, ganz sanft. Es schien sich nichts zu tun, aber alle waren angespannt. Der Script Supervisor löste auf seinem Smartphone ein Kreuzworträtsel. Sie sah zu, wie die Frau von der Maske angerannt kam und Rafe ein Papiertuch auf die Stirn drückte. Er unterwarf sich ihr mit großer Geduld. Er war schließlich ein guter Schauspieler. Kayla zupfte sich das Kleid von den Achselhöhlen, aber das war sinnlos — der Stoff würde Flecken bekommen, natürlich würde er das.
Die eigentlichen Dreharbeiten fanden zu weit vom Sonnendach entfernt statt, als dass Kayla etwas hören konnte. Sie sah zu, wie Rafe etwas sagte, wie er das Gesicht himmelwärts richtete. Sie drehten die Szene noch einmal. Welche Szene war das? Sie wartete darauf, dass sie die Anfangsszene drehten. Bei jenem Essen, als alle noch nett zu ihr gewesen waren, als deutlich gewesen war, dass sie mit Rafe schlief, hatte der Regisseur ihr gesagt, sie solle darauf achten.
»Manche Regisseure drehen sie sofort«, hatte er gesagt. »Gleich als Erstes. Aber da sind die Schauspieler noch nicht in ihrer Rolle drin, verstehen Sie. Wenn man zu lange wartet, gehen sich alle bloß noch auf die Nerven und hudeln sich durch. Wie am Ende des letzten Schuljahrs. Man stimmt es zeitlich so ab, dass sie ihre Rolle verinnerlicht haben und immer noch gute Arbeit leisten.«
Es war erst der zweite Film des Regisseurs. Das Studio hatte ihm wahnsinnig viel Geld gegeben. Er sah aus wie zwanzig. Er machte ständig Witze darüber, dass er keine Ahnung hatte, wie irgendetwas ging.
Die Dreharbeiten waren schon wieder unterbrochen. Rafe kam auf sie zu. Sie straffte sich und stand auf.
Er schwitzte, sein Gesicht war rot.
»Du sitzt in meinem Blickfeld«, sagte Rafe. »Ich kann die Szene nicht spielen, wenn ich aufblicke und dich ständig da sitzen sehe.«
»Ich sitze nicht in deinem Blickfeld«, sagte sie. Sie spürte, dass die Frau von der Maske zu ihnen hersah.
»Das denkst du vielleicht, aber es ist mein Blickfeld, und nur darauf kommt es an«, sagte Rafe. »Es ist das, was ich sehe. Nicht, was du siehst. Was ich sehe. Und ich sehe dich.«
»Okay.«
Er machte große Augen, war kurz davor, etwas zu sagen, schien sich dann zu beruhigen.
»Warum gehst du nicht im Hotelpool schwimmen? Besorgst dir was zu essen?«
»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme war schwach. »Das ist eine gute Idee.«
Sie wusste, Rafe wollte nicht, dass sie eine Szene machte. Und das würde sie auch nicht. Sie lächelte das Nichts da draußen an, den leeren Horizont. Die Landschaft war kümmerlich und nicht schön, ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Tatsächlich war es ihr erstes Mal im Ausland.
Kayla hatte Marys Haus seit drei Tagen nicht verlassen. Das eine Mal, als sie mit Marys Wagen zum Supermarkt gefahren war, hatte auf dem Rückweg jemand Fotos von ihr gemacht, wie sie tankte. Auf den Bildern trug Kayla eine Pilotenbrille und sah unglücklich aus, die Lippen dünn, das Haar messingfarben und wie zu oft gewaschen. Sie war nicht so hübsch wie Jessica. Das war das Naheliegende, was die Leute sagten — nicht, dass Kayla nicht auch wusste, dass es stimmte, sie wusste nur nicht, warum die Leute deshalb so wütend auf sie waren, so persönlich gekränkt. Man hatte Kayla ein Fernsehinterview angeboten. Eine Vergütung dafür, dass sie ein Vitamingetränk einer bestimmten Marke trank, wenn sie das nächste Mal in die Öffentlichkeit ging. Außerdem ein Interview im Playboy, obwohl sie dort offenbar keine Nacktfotos mehr machten.
Mary klopfte leicht an den Türsturz.
»Alles gut?«
Kayla setzte sich auf. »Alles bestens.« Sie legte ihr Handy mit dem Display nach unten aufs Bett.
»Dennis und ich gehen heute Abend zu Freunden zum Essen«, sagte Mary. »Du solltest mitkommen.«
»Ach, das ist schon okay«, sagte Kayla. »Wirklich. Ich kann hierbleiben.«
»Du solltest nicht allein sein«, sagte Mary. »Mir ist das nicht recht. Als wärst du eingesperrt.«
»Das geht schon.«
Mary runzelte die Stirn, schürzte die Lippen.
»Es würde dir guttun«, sagte sie. »Das sind nette Leute. Sie testet Rezepte für Kochbücher, er lehrt am Occidental College. Das wird eine gute Runde.«
Dass sie Ja sagte, freute Mary, und auch Dennis strahlte, als sie in den Wagen stiegen, selbst diese kleinen Unternehmungen animierten ihn. Er war rosig blankgeschrubbt, seine Ellbogen verschwanden in den kurzen Ärmeln seines Golfhemds. Mary fuhr die schmalen Canyonstraßen hinunter, auf dem Beifahrersitz Dennis, einen Arm um Mary gelegt. War er schon einmal verheiratet gewesen — hatte er Kinder? Kayla wusste es nicht. Er schien nur in Marys Orbit zu existieren, der Freund, der im Garten Limonen als Mitbringsel erntete. Im Rückspiegel warfen sie immer wieder Blicke auf Kayla. Sie saß auf dem Rücksitz neben der Einkaufstüte voller Limonen, einer Flasche Rotwein. Sie trug das Kleid, das Jessica ihr geschenkt hatte, und das Sweatshirt von Marys Sohn, das Haar zu einem wenig schmeichelhaften Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Kleid war aus einem hübschen Stoff, einer Art Mischgewebe aus Leinen und Seide, in der Farbe von Asphalt — träge befühlte sie den Stoff an der Stelle, wo er ihr über die Knie fiel. Jessica war freundlich zu ihr gewesen.
Auf der Party schenkte ihr niemand groß Beachtung. Alle waren älter, mit ihrem eigenen Leben und mit ihren Kindern beschäftigt, die ständig angeflitzt kamen, eines schwang eine Plastikukulele, eines kreischte auf Französisch einen Abzählvers. Es war das erste Mal, dass es Kayla klarwurde — natürlich gab es auf der Welt Menschen, die nichts von Rafe oder Jessica wussten oder sich nichts aus ihnen machten. Das Essen war auf einem Tisch angerichtet, die Gäste standen mit ihren Tellern herum. Sie aß mit einer Plastikgabel etwas Linsensalat, goss sich aus einem Krug eine wässrige Margarita ein, trank ein Glas Weißwein.
Im Flur kam sie an jemandem vorbei, der den Rest seines Drinks in eine Topfpflanze goss. Sie kannte diese Leute nicht.
Draußen war es schöner. Der Pool war unbewegt, strahlte einen Flutlichtschimmer aus. Niemand war da. Die Hügel waren eine dunkle, ab und zu von Häusern durchsetzte Masse. Kayla konnte die abkühlende Erde riechen, den klumpigen Kreosot, mit dem der Pool umrandet war, hörte das Geräusch eines Springbrunnens, den sie nicht sehen konnte. Sie ging in die Hocke, um die Hand einzutauchen: Das Wasser hatte die gleiche Temperatur wie die Luft. Sie setzte sich im Schneidersitz hin, das Glas zwischen den Beinen.
Sie öffnete ihre Textnachrichten. Die letzten von Jessica waren zwei Wochen alt, betrafen durchweg Organisatorisches. Sie betrachtete ihre gespeicherten Fotos, Paparazzi-Bilder von Rafe mit verschränkten Armen. Vorher hatte sie nicht gesehen, wie verärgert er wirkte, belagert, umgeben von Jessica und Kayla, Henry, Menschen, die etwas von ihm brauchten. Armer Henry. Seine schmalen Schultern, sein makelloses Haar. Sein offenes, williges Gesicht.
Sie trank ihren Wein aus.
Jemand öffnete die Tür. Es war die Tochter der Gastgeber. Sophie oder Sophia.
»Hey«, sagte Kayla. Sophie ging in die Hocke, setzte sich aber nicht hin. Kayla konnte ihren herben Kinderatem riechen.
»Ist dir kalt?«, fragte Sophie.
»Nein«, sagte Kayla. »Noch nicht.«
Sie schwiegen eine Zeitlang. Das Schweigen war in Ordnung. Sophie wirkte jünger als Henry. Ihre Nasenlöcher hatten kindliche Rotzränder.
»In welcher Klasse bist du?«, fragte Kayla schließlich.
»In der zweiten.«
»Cool.«
Sophie zuckte die Achseln, ein erwachsenes Achselzucken, und machte Anstalten aufzustehen.
»Wo gehst du hin?« Kayla berührte eins von Sophies Knien. Das Mädchen verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, obwohl der Körperkontakt ihr nicht unangenehm zu sein schien.
»In mein Zimmer.«
»Kann ich mitkommen?«
Sophie zuckte erneut die Achseln.
Sophies Zimmer war ein einziges Durcheinander, überm Bett hing eine Papierlaterne in Form eines Sterns. Sophie deutete auf zwei Barbiepuppen, die nackt unter einem Papiertuch lagen, die Finger wie miteinander verschweißt und nur durch Rillen angedeutet.
»Ich habe das Haus da für sie gebaut«, sagte Sophie und zeigte auf ein leeres Bücherregal. Auf einem Bord stand eine Wundpflaster-Schachtel neben einer auf der Seite liegenden Barbiepuppe in einem enganliegenden, schimmernden Kleid.
»Das ist das Partyzimmer«, sagte Sophie, »schau mal.« Sie betätigte einen Schalter an einem Schlüsselanhänger in Form einer Plastikblume, die anfing, zwischen verschiedenfarbigen Lichtern zu wechseln. »Warte«, sagte sie und beeilte sich, die Deckenlampe auszuschalten. Die Geräusche der Party ausgesperrt, standen Sophie und Kayla schweigend da, während Sophies Zimmer von Rot zu Gelb zu Türkis überging.
»Das ist hübsch«, sagte Kayla.
Sophie blieb ganz sachlich. »Ich weiß.«
Sie schaltete die Plastikblume aus und das Deckenlicht wieder an. Als Kayla nichts sagte, machte sich das Mädchen an einer Kiste in der Ecke zu schaffen. Sie zog eine Papiermaske heraus und hielt sie sich vors Gesicht, die Art von chirurgischer Maske, die man zur Vorbeugung gegen SARS tragen sollte. Kayla wusste, Sophie würde sich die Maske so lange vors Gesicht halten, bis sie etwas sagte.
»Was ist das?«, fragte Kayla.
»Das brauche ich«, sagte Sophie. »Weil ich sonst Platzangst bekomme.«
»Das stimmt nicht«, sagte Kayla.
»Doch«, beharrte Sophie. »Ich muss sie sogar in der Schule tragen.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
Sophie ließ die Maske fallen und lächelte.
»Es ist allerdings ein guter Witz«, sagte Kayla.
Sie setzte sich auf den Rand von Sophies Bett. Die Bettwäsche schien frisch zu sein, von der guten Baumwolle ging eine leichte Kühle aus. Sophie bewegte die Barbiepuppen von Regalbord zu Regalbord und flüsterte vor sich hin. Die Sandalen abzustreifen fiel Kayla leicht. Sie schob die nackten Beine unter die Bettdecke und deckte sich damit zu.
»Willst du schlafen?«, fragte Sophie.
»Nein. Mir ist nur kalt.«
»Du bist krank, und ich bin die Krankenschwester«, sagte Sophie, und ihre Miene hellte sich auf. »In Wirklichkeit bin ich eine Prinzessin, aber man hat mich gezwungen, Krankenschwester zu werden.«
»Mm.«
»Du bist meine Tochter. Du bist schwer krank.«
»Ich könnte sterben.« Kayla schloss die Augen.
»Außer, ich gebe dir die Medizin.« Kayla hörte, wie sich Sophie im Zimmer zu schaffen machte, hörte das Geräusch von Schubladen und Kisten. Sie öffnete die Augen, als sie spürte, wie sich ein weicher Gegenstand an ihren Mund drückte. Es war ein Filz-Donut, getüpfelt mit Filz-Zuckerstreuseln.
»Das habe ich im Wald gefunden«, sagte Sophie. Ihre Stimme hatte etwas Leises, Geheimnisvolles. »Das musst du essen.«
»Danke«, sagte Kayla. Sie öffnete den Mund und schmeckte den faden Filz.
»Ich glaube, es wirkt«, sagte Sophie.
»Ich weiß nicht«, sagte Kayla. »Ich glaube, ich sollte eine Zeitlang ausruhen.«
»Okay, Schätzchen«, sagte Sophie und tätschelte ihr sanft die Wange. Das war schön. Mit geschlossenen Augen spürte Kayla, wie das Mädchen ihr eine Papierserviette aufs Gesicht legte, die von ihrem Atem heiß wurde. Es war tröstlich zu hören, wie Sophie sich im Zimmer bewegte, den Geruch des eigenen Mundes zu riechen.
»Kayla.«
Bevor sie die Augen aufmachte, bildete sie sich ein, die Männerstimme wäre die von Professor Hunnison. Warum beruhigte sie das? Er wusste, sie war hier. Sie blinzelte kräftig und lächelte. Er kam sie besuchen. Er war ihr wohlgesinnt.
»Kayla!«
Kayla öffnete die Augen. Es war Dennis. Dennis mit seinem blusigen Hemd, den behaarten Unterarmen.
»Du solltest jetzt aufstehen«, sagte Dennis. »Mary hat nach dir gesucht, sie hat sich Sorgen gemacht. Wir fahren nach Hause.«
Kayla schaute an Dennis vorbei, aber Sophie war fort. Das Zimmer war leer.
»Auf geht’s«, sagte Dennis. Er schaute immer wieder in Richtung Tür. Er wollte los.
Kayla war seltsam zumute. Sie hatte geträumt. »Wo ist Sophie?«
»Zeit zu gehen, okay, komm jetzt, mach schon.«
Sie blinzelte ihn vom Kissen aus an.
»Komm endlich, Kayla«, sagte Dennis und schlug die Decke zurück. Kaylas Kleid war hochgerutscht, und ihre Unterwäsche war zu sehen.
»Du lieber Gott«, sagte er und warf die Decke wieder über sie. Sein Gesicht war rot.
»Tut mir leid«, sagte Kayla und stand auf. Sie zog ihr Kleid herunter, machte ihre Sandalen ausfindig.
»Ach tatsächlich?«
Sein Ton überraschte sie — als sie aufblickte, schaute er verbissen auf den Boden.
Kayla spürte das Zimmer um sie herum, die billige Sandale in ihrer Hand. »Ich schäme mich nicht, falls du das denkst.«
Dennis fing an zu lachen, aber er wirkte einfach nur müde. »Mein Gott«, sagte er und rieb sich die Augen. »Du bist ein nettes Mädchen«, sagte er. »Ich weiß, du bist ein guter Mensch.«
Die an Hass heranreichende Wut, die sie in diesem Augenblick empfand — »Vielleicht auch nicht.«
Dennis’ Augen waren feucht, gequält. »Natürlich bist du das. Man kann dich nicht nur auf diese eine Sache reduzieren.«
Dennis suchte ihr Gesicht ab, ihre Augen, ihren Mund, und sie wusste, er sah, was er sehen wollte, fand Bestätigung für gleich welche erlösende Geschichte, die er sich darüber, wer sie war, eingeredet hatte. Dennis wirkte traurig. Er wirkte müde und traurig und alt. Und die Sache war die, dass eines Tages auch sie alt sein würde. Ihr Körper würde abbauen. Ihr Gesicht. Und was dann? Sie wusste schon jetzt, dass sie damit nicht gut zurechtkommen würde. Sie war ein eitles, dummes Mädchen. Sie konnte nichts gut. Worüber sie einmal Bescheid gewusst hatte — Rodin! Chartres! —, das war alles weg. Gab es eine Welt, in der sie zu alldem zurückkehrte? Im Grunde war sie nicht klug genug gewesen. Schon damals nicht. Faul, immer auf den bequemen Weg bedacht. Ihre Abschlussarbeit, die in ihrer College-Bibliothek vor sich hin schimmelte, hundert bemühte Seiten über Die Vertreibung Joachims aus dem Tempel. Sie hatte mit den Rändern und Schriftgrößen herumprobiert, bis sie mit Ach und Krach auf den verlangten Umfang gekommen war. Professor Hunnison, dachte sie kläglich, denken Sie jemals an mich?
Dennis lotste Kayla durch die in den letzten Zügen liegende Party in Richtung Haustür. Wo hatte er unterwegs einen Brownie gefunden? Er hielt ihn ihr hin, in eine Serviette eingeschlagen. Vielleicht hatte er Gewissensbisse. Kayla schüttelte den Kopf.
Dennis schickte sich an, etwas zu sagen, dann bremste er sich. Er zuckte die Achseln, biss von dem Brownie ab und kaute gierig. Er sah auf sein Handy.
»Mary holt den Wagen«, sagte er. »Also können wir einfach hier warten.« Er hatte den Mund voll, und er ignorierte die Krümel, die ihm herunterfielen oder zwischen den Zähnen hängenblieben. Als er bemerkte, dass Kayla ihn beobachtete, schien er verlegen zu werden. Er aß den Brownie in einem einzigen Bissen auf und wischte sich mit der Serviette den Mund. Wenigstens hatte er den Gedanken aufgegeben, ihr einen Vortrag zu halten. Sie davon zu überzeugen, dass man aus alldem etwas lernen könne. So funktionierte die Welt nämlich nicht, und war es nicht ein wenig tragisch, dass Dennis das noch nicht wusste? Kayla lächelte und zog den Bauch ein, bloß für alle Fälle — denn wer weiß? Vielleicht versteckte sich ja draußen in der Dunkelheit ein Fotograf, jemand, der sie beobachtet hatte, jemand, der ihr hierher gefolgt war, jemand, der geduldig darauf gewartet hatte, dass sie erschien.