Prolog
M anchmal, wenn er besonders heftig in die Tasten hieb, klang das Tackern der Schreibmaschine wie das Gehämmer eines Maschinengewehrs. Dann bebte der Tisch, dann zitterte das Weinglas, und von der qualmenden Zigarette im Ascher brach der Aschenkegel ab. Und ganz nah bei ihm war dann das, was er sich von der Seele zu schreiben versuchte, so nahe, dass er zu zittern begann. Stürz jetzt bloß nicht ab, Heinrich, dachte er in solchen Momenten, verwechsle bloß nicht wieder damals mit heute.
Er schrieb weiter, immer weiter, denn Erinnerungen bedrängten ihn – Stimmen, Gesichter und Gesten. Böse alte Bilder huschten vor seinem inneren Auge vorbei, so böse manchmal, dass er den Atem anhielt und seine gespreizten Finger sekundenlang über der Maschine verharrten. Er lauschte Schreien und Schüssen, sah Grimassen und Blut – und musste seine Finger in die Tasten zwingen, damit sie das Böse weiter in die Maschine hämmerten und auf Papier bannten.
So ging das seit Stunden.
Dicht über dem Tisch flackerte die Glühbirne, neben der Schreibmaschine brannten die Kerzen herunter, der Aschenbecher quoll über, die Weinflasche leerte sich, und vor den Fenstern graute der neue Morgen über den Dächern Berlins.
Schließlich stiegen ihm Bilder ins Bewusstsein, die seinem Willen widerstanden, sie in Worte und Sätze zu verwandeln. Diese Bilder wollten sich nicht aufs Papier bannen lassen, sie machten seine Finger steif und seine Brust so eng, dass er kaum atmen konnte. Während ihm die Hände auf den Tisch fielen und sein Oberkörper zurück gegen die Stuhllehne sank, schloss er die Augen.
Er sah Mordlust und Gier im Gesicht eines Mannes, Verzweiflung und Hass im Gesicht einer Frau, Flehen und Todesangst im Gesicht eines Mädchens. Doch er sah nicht nur, er hörte auch: Männergebrüll, Schüsse, eine zufallende Tür und dahinter die Schreie des Mädchens. Verschiedene Gerüche krochen ihm in die Nase: Mündungsfeuer, Harn, Schweiß und Blut.
Er öffnete die Augen und atmete so schwer wie jemand, der eine große Last zu stemmen hatte. Seufzend und mit erschöpfter Geste schlug er erst nach dem Walzenhebel und tastete dann nach der Zigarettenschachtel. An der Glut der heruntergebrannten Kippe entzündete er die nächste Zigarette.
Tief inhalierte er den Rauch und blies ihn gegen die Glühbirne. Vor seinen Fenstern sickerte die erste, noch fahle Morgenröte in den Nachthimmel. Er trank einen Schluck Wein, rauchte und wartete, bis seine Erregung sich ein wenig legte.
«Weiter», flüsterte er, «du wirst es niederschreiben, du musst. Du hörst erst auf, wenn du alles erzählt hast, alles. Los, Heinrich, weiter!» Und dann beugte er sich so tief über die Schreibmaschine, als wollte er die Stirn hineinhauen, und seine Finger hieben, stachen und hämmerten weiter in die Tasten, und alles, was er sah, hörte und roch, verwandelte sich in Sätze und Absätze und füllte Seite um Seite.
Irgendwann war das Kapitel vollbracht. Erschöpft sank er gegen die Stuhllehne und blinzelte in das helle Morgenlicht, das die Wintersonne in sein Zimmer goss. Eine Zeitlang saß er so – zusammengesunken, blinzelnd und bleich – und tat weiter nichts, als zu Atem zu kommen. Bis er sein Weinglas leer trank, die Blätter zu den anderen in seine schwarze Aktenmappe steckte – in sein Hauptarchiv , wie er sie nannte – und sich eine Zigarette anzündete. Rauchend ging er zum Fenster und schaute auf die morgendliche Straße seines Kiezes hinunter. Ein Strom von Fahrrädern, Kraftwagen, Fuhrwerken und Passanten wälzte sich unter ihm vorüber.
Später, während er in der Küche den Gasherd aufdrehte und Kaffeewasser aufsetzte, verfluchte er laut die Mörder, deren Taten er geschildert hatte, und beschimpfte den Verleger, der es abgelehnt hatte, seine Erinnerungen zu veröffentlichen.
Mit der Kaffeetasse in der Linken und einer Zigarette im Mundwinkel setzte er sich schließlich auf die Chaiselongue, griff zum Hörer des Fernsprechers und wählte die Nummer der Berliner Fernsprechzentrale. «Ein Ferngespräch nach Leipzig bitte!»
«Reichsgericht», meldete sich nach kurzem Warten eine Männerstimme. «Assessor Weingarten.»
«Heinrich Baumann hier. Stell dir vor, Hans – ich bin fast fertig.»
«Gratuliere. Ich habe schon Kontakte zu zwei Verlegern geknüpft.»
«Großartig, Hans, danke! Ich muss nur noch ein paar Sätze zu Murrmann und das Kapitel über Jagoda schreiben, und dann geht es an die Überarbeitung.» Er fühlte sich ganz leicht auf einmal, nahezu euphorisch, sodass ihm die verbleibende Arbeit und die Suche nach einem Verlag wie ein Kinderspiel erschienen. «Ich komme nach Leipzig», sagte er, «muss unbedingt mit Jagoda persönlich sprechen. Murrmann stellt den Kontakt zu ihm her. Morgen fahre ich los.»
«Sei auf der Hut, Heinrich.» Die Stimme des anderen klang jetzt ernst und besorgt. «Sie haben ihre Augen und Ohren überall. Vielleicht wissen sie längst, dass du aussagen willst, vielleicht haben sie sogar schon von deinem Manuskript gehört.»
«Gut möglich. Gestern sind mir zwei üble Burschen auf Krafträdern ins Büro gefolgt. Aber keine Sorge, Hans – ohne Revolver gehe ich nicht mehr aus dem Haus. Und in Leipzig bin ich erst einmal sicher.»
Im Bahnhof Charlottenburg löste Heinrich Baumann am nächsten Tag einen Fahrschein in die sächsische Hauptstadt. Als ahnte er, dass er nicht zurückkehren würde, verzichtete er darauf, einen Fahrschein für die Rückfahrt zu kaufen.