I
Der Heimkehrer
1
E s war Jagodas letzter Tag. Draußen regnete es, der Wind wälzte schwarze Wolkengebirge durch den Winterhimmel, und der Hospitalpark darunter sah aus wie ein alter Friedhof. Im Morgenmantel stand Jagoda am Fenster und schaute auf den Park hinunter, als die Visite das Zimmer stürmte.
Der Chefarzt erinnerte ihn an seinen Vater, schon seit er ihn nach der Einweisung in der Tobsuchtzelle untersucht hatte. Nicht weil er ihm besonders ähnlich sah, sondern weil Jagoda jedes Mal Hoffnung schöpfte, wenn der grauhaarige Aristokrat mit dem kaiserlichen Schnauzbart den Tross aus Assistenzärzten, Schwestern und Medizinstudenten hereinführte.
«Guten Abend, Herr Jagoda.» Der Arzt reichte ihm die Hand. «Ihr letzter Tag bei uns?» Jagoda ergriff sie und nickte. «Wie geht es uns denn?»
«Bestens, Herr Professor.» Der Mann im Nachbarbett grunzte und riss an seinen Gurten, auf der anderen Zimmerseite glotzte der Kerl mit den Zuckungen stumm herüber, und der mit den Krämpfen kicherte blöde.
Der Chefarzt musterte Jagoda prüfend, bevor er seine Hand freigab. «Dann wollen wir doch noch ein letztes Mal schauen.» Er legte sein Stethoskop an und bedeutete Jagoda, sich auf die Bettkante zu setzen. Die Schwester half ihm aus dem Morgenmantel, der Chefarzt hörte ihn ab. «Albträume?», fragte er hinterher, während er sich die Stethoskopbügel wieder um den Hals klemmte.
«Schon lange nicht mehr», log Jagoda.
«Sehr gut. Gucken Sie mich bitte an.» Mit einem Wattestäbchen fuhr der Chefarzt ihm von den Unterlidern aus über die Hornhäute und registrierte befriedigt den Lidreflex. Er sprach ein paar lateinische Worte zu seinem Tross, bevor er mit Finger und Hämmerchen den Mundreflex prüfte. «Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Schule denken, Herr Gymnasialprofessor?»
«Gut. Ich freue mich auf die Arbeit.» Plötzlich krachte der Tisch gegen die Wand. Der Kicherer riss sich die Decke über den Kopf, der Grunzer schrie auf, Jagoda aber blieb ruhig. Kein Zusammenschrecken, kein unterdrückter Schrei, nicht einmal ein Zucken – er sah nur interessiert zu dem Assistenzarzt hin, der gegen das Tischbein getreten hatte. Der beobachtete ihn, alle beobachteten ihn, und der Chefarzt nickte befriedigt.
«Gestern in der Frühe hat die Elektrische direkt vor der Klinik ein Kohlefuhrwerk gerammt.» Der Chefarzt ging vor seinem Bett in die Hocke und prüfte Jagodas Knie- und Fußreflexe. «War gewaltig laut. Sind Sie sehr erschrocken?»
«Ich habe nur die Nachtigall im Klinikgarten singen gehört.»
«Nervtötend, nicht wahr?» Der Chefarzt murmelte ein paar lateinische Brocken in die Richtung seiner Gefolgschaft, erhob sich dann und schaute zu Jagodas Nachttisch, wo ein Gedichtband des Leipziger Inselverlages auf zwei Schillerdramen lag. «Oh! Wenden Sie sich jetzt unseren zeitgenössischen Dichtern zu, Herr Gymnasialprofessor?»
«Ich kann meinen Schülern ja nicht ständig mit Goethe, Klopstock und Hölderlin kommen, Herr Professor.»
Der Chefarzt griff nach dem oberen Buch. «Jetzt also Rilke», murmelte er, blätterte, las und trug schließlich einen Vers vor: «‹Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.›» Er drehte sich nach seinen Assistenten und Studenten um, die bis vor vierzehn Monaten alle noch an der Front gewesen waren. «Haben Sie das gehört, meine Herren?» Die Männer guckten nur, und das ziemlich betreten.
«Bin ich geheilt, Herr Professor?» Jagoda atmete plötzlich schneller und musste sogar schlucken. Er hoffte, der Arzt würde es nicht merken.
«Das will ich meinen.» Der Chefarzt legte das Buch zurück. «Vergessen Sie, was hinter Ihnen liegt, und schauen Sie nach vorn, verstanden?» Lächelnd reichte er ihm die Hand. «Leben Sie wohl, Herr Jagoda. Ich will Sie nicht mehr hier sehen, ist das klar?»
Erleichtert ließ Jagoda später die Abteilung hinter sich, erleichtert trug er seinen kleinen Koffer durch die Eingangshalle auf die Pforte zu. Ein Einarmiger hockte auf einer Bank im Wartebereich und schaute schnell in seine Zeitung, als ihre Blicke sich trafen. Doch nicht deswegen fiel der Mann ihm auf, sondern weil ein Eisernes Kreuz I. Klasse an seinem schwarzen Mantel glänzte.
Jagoda selbst hatte seine Orden zu Hause in der Kommode versteckt, nachdem aufgebrachte Passantinnen sie ihm im Dezember 1918 samt Schulterstücken von der Jacke gerissen hatten. Leipzig, diese Brutstätte von Unruhe und Sozialismus, hatte seine Kriegsheimkehrer – seine Kriegsverlierer – besonders undankbar empfangen.
«Schon Ihr letzter Tag heute, Herr Oberstleutnant Jagoda?» Der Pförtner trat aus seiner Loge und stand stramm; sie kannten sich vom Flandernfeldzug. «Freut mich für Sie, Herr Oberstleutnant!» Der Mann war ihm peinlich, denn nicht nur, dass er stramm stand – er sprach auch noch so laut, dass nun wirklich jeder im Wartebereich seinen ehemaligen militärischen Rang kannte. «Hat Ihre Schwester für Sie abgegeben.» Der Pförtner reichte ihm zwei Kuverts. «Außerhalb der Besuchszeit.» Jagoda steckte die Briefe ein und verabschiedete sich.
Draußen sah er die Elektrische nicht weit vor der Einfahrt zur Nervenklinik halten, die Linie 2 zum Hauptbahnhof. Einen Augenblick zögerte er, dann ging er doch zu den wartenden Kraftdroschken. Der Regen klatschte ihm ins Gesicht, die Friedhofsstimmung sickerte ihm ins Gemüt. «Hauptbahnhof», rief er dem Fahrer zu und stieg in den Fahrgastraum hinauf.
Als sie am Eingang vorbeirollten, sah er den Einarmigen aus der Tür treten. Ein untersetzter Mann in feldgrauem Mantel und mit schwarzer lederner Schildkappe folgte ihm, ein zweiter in Fliegerjacke und mit Wollmütze hielt ihm die Tür auf. Alle drei blickten seinem Wagen hinterher. Jagoda stutzte. Kannten sie ihn?
Noch als die Droschke längst über die Windmühlenstraße in Richtung Innenstadt tuckerte, gingen ihm die drei Männer durch den Kopf – ihre starren, ausdruckslosen Mienen hatten ihm nicht gefallen. Der Anblick der Elektrischen, die sie bald links überholten, gefiel Jagoda auch nicht, verursachte ihm sogar Beklemmungen.
Im Anhänger eines elektrischen Straßenwagens nämlich war es geschehen – im August letzten Jahres. Ein Gewitter aus heiterem Himmel, und schon nach dem ersten Donnerschlag hatte er sich an der Front gewähnt und mitten im feindlichen Artilleriefeuer. Angeblich sei er durchgedreht. Er selbst konnte sich an nichts erinnern, als er, gefesselt an die Gummiwand der Tobsuchtzelle, wieder zur Besinnung gekommen war. Nur an Granateinschläge und Explosionsblitze.
Am Königsplatz hielt die Kraftdroschke, um eine Elektrische vorbeirollen zu lassen. Die Fassade des Neuen Rathauses war dunkel vom Regen. Die Rathausuhr und den Giebel mit dem Grabspruch konnte Jagoda von hier aus nicht sehen, doch aus irgendeinem Grund stand er ihm dennoch vor Augen: Mors certa, hora incerta . Auf den Schlachtfeldern in Flandern und Frankreich hatte er oft an ihn denken müssen – Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss .
Sie erreichten den Hauptbahnhof. «Herrliches Bauwerk!», entfuhr es ihm. Der Fahrer drehte sich nach ihm um und lächelte wie ein glücklicher kleiner Junge. Die Leipziger waren stolz auf ihren neuen Hauptbahnhof, Jagoda war es auch. Der Anblick der prächtigen Fassade, des weitläufigen Vorplatzes und der hohen Laternensäulen gab ihm das Gefühl, nach fünf Monaten Krankenzimmer und Klinikgarten endlich wieder frei durchatmen zu können.
Im Postamt der Bahnhofshalle schickte er ein Telegramm an seine Mutter in Dresden und kündigte seinen Besuch für den nächsten Tag an. Danach kaufte er Zigarren, Zeitungen, einen Fahrschein nach Dresden und Schokolade für seine Mutter.
Ins Menschengetümmel der großen Halle einzutauchen, verursachte ihm buchstäblich Glücksgefühle. Um diese noch eine Weile festzuhalten, ging er in die Bahnhofskneipe, trank nach fünf Monaten sein erstes Bier und schaute dabei durch die großen Fenster hinaus auf das muntere Treiben in der Halle. Niemand ringsum an Tischen und Theke kicherte, grunzte oder krampfte. Herrlich!
Sein Blick fiel auf ein Plakat an der Kneipentür, das für eine Sportveranstaltung warb, einen Boxkampf. Max Heiland gegen Oskar Stecher , las er, Samstag, 31. Januar 1920, Gasthof Windorf . Plötzlich spürte er, wie sehr ihn nach Spektakel und der Gesellschaft normaler Menschen verlangte. Da gehst du hin!, entschied er spontan.
Er trank sein Bier, rauchte Zigarre, zog die Briefe, die ihm der Pförtner gegeben hatte, aus dem Mantel, und las die Absender. Das Reichsgericht teilte ihm endlich einen Termin für eine Anhörung mit. Der zweite Brief war von Robert Murrmann. Überrascht öffnete und las er ihn: Murrmann, ein Kriegskamerad, hielt sich in der Stadt auf und wollte sich mit ihm treffen. Mit ihm und einem Berliner namens Heinrich Baumann, der Jagoda kennenlernen wollte.
Er steckte die Briefe weg und hob den Blick – ein Einarmiger, an dessen schwarzem Mantel ein Orden glänzte, stand vor dem Tabakladen im Eingangsbereich der Halle. Jagoda stutzte, und unwillkürlich suchte sein Blick die Menge in der Bahnhofshalle nach dem untersetzten Feldgrauen mit der schwarzen Lederkappe ab und nach dem dritten Mann, dem in der Fliegerjacke.
Er konnte sie nirgends entdecken, doch irgendetwas veränderte sich plötzlich da draußen in der Halle. Der Lärmpegel? Die Blickrichtung der Leute? Und dann sah er es: Soldaten schlurften und hinkten auf einmal dem Ostausgang entgegen, Heimkehrer, mindestens hundert Mann. Einige schob man in Rollstühlen oder auf fahrbaren Liegen hinterher.
Erinnerungen stiegen in ihm hoch, Erinnerungen, die er hasste. Jagoda wandte sich schnell ab vom Anblick der gebeugten und verkrüppelten Soldaten, bezahlte und ging.
Statt den Heimkehrern zum Ausgang zu folgen, bog er zum Tabakladen ab und spähte durchs Schaufenster nach dem Einarmigen. Er musste wissen, ob es derselbe Mann war, den er in der Klinik gesehen hatte. Doch unter den Kunden drinnen konnte er ihn nicht entdecken.
Seine Zigarre war ausgegangen. Er stellte den Koffer ab, kramte nach Zündhölzern, als ihm jemand ein Feuerzeug entgegenstreckte. Jagoda blickte in eisgraue Augen, während er sich über die Flamme beugte. «Danke», sagte er und saugte an seiner Zigarre.
Das Gesicht des Mannes war bleich, kantig und hohlwangig, seine Lippen schmal und farblos und unter seinen wachen grauen Augen lagen dunkle Ringe. Der Mann war höchstens Ende dreißig, hatte aber schon weißes Haar. Jagodas Blick fiel auf den abgewetzten Tornister in seiner Linken, und er las einen Namen auf dem ausgebleichten Aufnäher: Major Paul Stainer . Wortlos steckte der Mann sein Feuerzeug ein, nickte ihm zu und ging.
Jagoda schaute ihm hinterher. Der Weißhaarige trug einen alten Offiziersmantel ohne Schulterstücke und Tressen und unter dem Arm ein Bündel. Er war groß und hager, beinahe dürr. Einer der Heimkehrer, wahrscheinlich aus Frankreich; dort hielten die Sieger noch Hunderttausende gefangen, wie man hörte.
Hatte Jagoda ihn nicht schon irgendwo gesehen? Er grübelte. Nein – er kannte keinen Paul Stainer, keinen mit einem jungen Gesicht und schlohweißem Haar. Noch während er nachdachte, bog der Mann um die Ecke und verschwand im Eingangsbereich.
Jagoda rauchte eine Zeitlang in Gedanken versunken, bevor er seinen Koffer nahm und ebenfalls die Halle verließ. Auf dem Vorplatz stürzten Frauen, alte Männer und Kinder mit ausgebreiteten Armen unter die Soldaten. Manche schrien ihre Freude laut heraus, andere weinten still an der Brust ihres Heimkehrers.
Etwas abseits entdeckte er eine blonde Frau mit dunkelrot geschminkten Lippen und weißen Perlen an den Ohren. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug rote Stöckelschuhe. Aus nassen Augen betrachtete sie die Heimkehrer und die Glücklichen, die sie umarmten. Sie selbst schien vergeblich gewartet zu haben.
Meine Güte, dachte Jagoda, als er an ihr vorbeiging, so schön und doch so traurig.
Es dämmerte bereits. Am Blücherplatz hielt die Linie 17. Einen Moment zögerte er, dann rannte er los. Hatte der Professor ihn nicht für geheilt erklärt? Also konnte er auch wieder mit der Elektrischen fahren! Wenigstens eine Station! Jagoda atmete tief durch – er wollte es, nein, musste es wissen. Also stieg er ein und bezahlte. Gleich in der ersten Bank fand er einen freien Platz.
Neben ihm hustete ein Kind. «Bitte machen Sie Ihre Zigarre aus, mein Herr!» Im Führerstand drehte eine zierliche schwarzhaarige Frau sich nach ihm um. «Hören Sie nicht den Kleinen husten?» Stimme und Blick duldeten keinen Widerspruch, also drückte Jagoda die Glut an seiner Sohle aus.
«Danke, Frau König!», sagte die Mutter des Kindes. «Danke, Fine!», kam es von der Bank gegenüber.
Jagoda zog den Kopf ein und entschuldigte sich. «Ich war in Gedanken», murmelte er verlegen grinsend. «Hat man in der Leipziger Straßenbahn früher nicht rauchen dürfen?»
«Das ist lange her, mein Herr», beschied ihn die Fahrerin, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Schon am Schulplatz stand Jagoda auf und stieg wieder aus. Er hatte es nicht weit in die Jakobstraße, wo er direkt über dem Elstermühlgraben wohnte. Es tat ihm gut, die vertrauten Fassaden wiederzusehen. Vor seinem Haus hockten ein Hund und ein Bettler, ein Kriegsversehrter, wie es aussah.
Auf der anderen Straßenseite flammten die Scheinwerfer eines parkenden Kraftwagens auf, die große dunkle Limousine rollte an. Jagoda sah eher beiläufig hin, aber als sein Blick den Mann auf dem Rücksitz streifte, stand er still, um ihn genauer ins Auge zu fassen. Doch da beschleunigte das Automobil bereits und fuhr in Richtung Humboldtstraße davon.
Erschrocken blickte er dem Wagen hinterher. War das nicht der Einarmige gewesen? Der Träger des Eisernen Kreuzes, der ihm schon in der Nervenklinik und in der Bahnhofshalle aufgefallen war? Er schüttelte sich. Sah er denn jetzt schon Gespenster? Stockend setzte er den Weg zu seiner Haustür fort. Auf einmal zweifelte er daran, dass er wirklich geheilt war.