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D er Schäferhund des Kriegsversehrten erhob sich und trottete Jagoda entgegen. Der blieb geistesabwesend stehen, denn seine Gedanken kreisten noch um die dunkle Limousine und den Mann auf der Rückbank. Er hätte wetten können, dass es der Einarmige mit dem Eisernen Kreuz gewesen war.
Konnte es Zufall sein, dass man ein und denselben Fremden innerhalb so kurzer Zeit gleich dreimal hintereinander zu sehen bekam?
Der Hund beschnüffelte seine Schuhe, seine Hosenbeine und seinen Koffer. Danach machte er kehrt und trottete zurück zu dem beinamputierten Bettler. Der trug eine Blindenbinde um den Arm und eine große, schwarze Brille. Ein breites Rollbrett diente ihm als Sitzgelegenheit und Vehikel zugleich. Darauf hockte er ganz in sich selbst versunken und spielte auf einer Mundharmonika.
Jagoda, der sonst einen Bogen um solche Leute machte, beugte sich zu ihm hinunter und warf ein paar Pfennige in seine Soldatenmütze. Der Einarmige wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auf seltsam weichen Knien stieg er die drei Stufen zur Haustür hinauf.
In seinem Briefkasten lag ein unfrankierter Brief. Er las den Absender – Ernst Hummels – und fluchte. Schon wieder ein Brief von diesem Kerl! Sogar in der Klinik hatte er ihn mit seinen beleidigenden Schmierereien belästigt! Woher wusste der überhaupt, dass er entlassen werden sollte?
Hummels hatte als Feldwebel zu seinen Kompanien gehört. Seit Kriegsende schickte der Mann Drohbriefe und beschimpfte ihn wegen irgendwelcher Befehle, die Jagoda irgendwann in Frankreich gegeben hatte. Schwachkopf!
Die Abschiedsworte des Chefarztes gingen ihm durch den Kopf, während er zu seiner Wohnung hinaufstieg. Vergessen Sie, was hinter Ihnen liegt, schauen Sie nach vorn. Kluger Mann, dachte er und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.
Kaum hatte er sie hinter sich zugedrückt und den Koffer abgestellt, verharrte er wie gelähmt – erst vor Schreck, dann vor Wut: Der Garderobenschrank stand weit offen, Kleidungsstücke, Hüte und Schuhe lagen davor auf dem Boden, und aus der Kommode daneben hingen die Schubladen halb heraus.
Er schaute sich um: Sämtliche Zimmertüren waren geöffnet, der Dielenteppich verschoben und voller Wellen, der Schlafzimmerteppich übersät mit Kleidung, Wäsche, Büchern und Medikamentenschachteln.
«Das ist nicht wahr!» Jagoda stürzte ins Schlafzimmer: Auch hier waren alle Schranktüren geöffnet, Schubladen herausgerissen, die aufgeschlitzten Matratzen bogen sich über dem Fußende des Bettes, Daunen bedeckten Kleidung, Bücher und Dokumente wie frisch gefallener Schnee. Seine Münzsammlung lag zwischen aufgeschlitzten Bettdecken und Krawatten.
Jemand hatte bei ihm eingebrochen!
«Das darf doch nicht wahr sein!» Wutschnaubend stürzte er in die Küche – das gleiche grässliche Bild. Kein Schrankfach, das nicht ausgeräumt, keine einzige Schublade, die nicht durchwühlt worden war!
Fluchend rannte er ins Wohnzimmer: Ein Tohuwabohu aus Büchern, Fotoalben, Tischwäsche, Kristallgläsern, Sammeltassen, Dokumenten und gerahmten Bildern. Das Schillerporträt lag zerbrochen zwischen den Hochzeitsfotos, Blumenerde aus umgekippten Topfpflanzen bedeckte die am Boden verstreuten Bände seiner geliebten Goethegesamtausgabe.
Dieser Anblick trieb Jagoda die Tränen in die Augen. Er lehnte gegen den Türrahmen, zitterte vor Wut und Fassungslosigkeit. Wie konnte man einem Menschen, der hilflos und leidend im Hospital lag, Derartiges antun?
Er atmete tief, kämpfte gegen das Gefühl grenzenloser Ohnmacht an und schrie endlich seinen Zorn heraus. Natürlich dachte er an Hummels. «Was für eine bodenlose Gemeinheit!», rief er. «Welch niederträchtiges Gesindel!»
Doch was nützte alles Gejammer? Was geschehen war, war geschehen. Gehandelt werden musste jetzt, sofort! Er zog ein großes Taschentuch aus der Anzughose und wischte sich die Tränen aus den Augen. Mit zitternder Hand griff er zum Fernsprecher, um im Polizeiamt anzurufen – und stutzte: Das Spiralkabel, das Hörer und Apparat normalerweise verband, hing lose herab.
Plötzlich roch er Zigarettenrauch und im gleichen Moment war ihm, als würde ein Eiszapfen das Innere seiner Brust durchbohren. Er fuhr herum – ein Mann hockte im Sessel an der hinteren Wand zwischen Stehlampe und Aquarium: schwarzhaarig, untersetzt, in feldgrauem Mantel und mit schwarzer, lederner Schildmütze. Er musterte Jagoda mit vollkommen regloser Miene. Seine Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen und ruhten auf den Armlehnen des Sessels.
Jagoda erinnerte sich sofort – einer der Männer vom Klinikausgang! «Schickt Hummels Sie?!», schrie er mit bebender Stimme. Der Fremde blieb stumm. «Haben Sie etwa meine Wohnung derart verwüstet?!»
Der Fremde erhob sich. «Ich habe Ihnen Ihr Urteil zu überbringen, Herr Oberstleutnant», erklärte er ruhig. «Es lautet: Tod durch den Strang.»
«Was?» Jagoda starrte ihn an wie eine Erscheinung. «Was sagen Sie da?» Sein ungläubiger Blick flog zwischen den in schwarzem Leder steckenden Handschuhen des Eindringlings hin und her, und jetzt erst merkte er es: der Fremde rauchte gar nicht.
Wie? Er rauchte nicht und dennoch roch es nach Zigarettenrauch? Panik durchzuckte Jagoda, und er wirbelte auf den Absätzen herum.
Da hatte der Mann, der hinter ihm stand, schon ausgeholt und schlug zu. Jagoda registrierte noch, dass der zweite Eindringling eine Fliegerjacke trug und dass ihm eine Zigarette im Mundwinkel hing, dann stürzte er in bodenlose Finsternis.