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27. Januar, 1920
Weißt du noch, wie wir im Sommer vor Kriegsausbruch in Connewitz deinen Dreißigsten gefeiert haben? Alle waren gekommen, sogar mein großer Bruder Hagen. Und alle waren betrunken.
Wir beide hatten unseren ganz eigenen Rausch. Erinnerst du dich an die schlaflose Nacht? Zwischen tausend Küssen hast du mir erklärt, wir sollten uns mehr davon gönnen und möglichst ein Leben lang. Und ich habe «ja» gesagt.
Doch dann musstest du erst einmal für Kaiser und Vaterland den Helden geben. Manchmal hasse ich dich dafür.
Gestern ist ein Zug angekommen, der sächsische Soldaten aus Frankreich gebracht hat, entlassene Kriegsgefangene, Kranke und Verwundete zumeist. Obwohl ich wusste, dass du aus keinem der Waggons steigen wirst, war ich am Hauptbahnhof. «Realitätsarbeit» würde Dr. Polanski das nennen.
Ich habe sie aussteigen sehen, die zerlumpten Jammergestalten. Viele mussten aus dem Zug getragen und in Rollstühle gesetzt werden. Ob ich dich überhaupt erkannt hätte, wenn du unter ihnen gewesen wärst? Du warst nicht unter ihnen. Sonst könntest du jetzt den Brief lesen, der vom Juwelier Heine gekommen ist. Wann denn der künftige Herr Gemahl die Ringe abzuholen und zu
bezahlen gedenke. Ich schlage schon lange einen Bogen um Heines Laden.
Der Morgen graut bereits, Willy fängt schon an zu erzählen. Eine Nacht wie viele zuvor liegt hinter mir: tanzen, singen, hübsch sein, am Sektkelch nippen, freundliches Gesicht machen. Ein Mann hat mich an seinen Tisch gebeten. Ich mag ihn, nur die Pistole unter seinem Jackett mag ich nicht. Ich habe den Kolben gesehen, als er nach seiner Brieftasche gegriffen hat. Und die ganze Zeit hat er seine Aktentasche nicht aus den Augen gelassen. Ein Agent? Ein Polizist?
Er heißt Heinrich. Ein Berliner wie du, schön wie du, charmant wie du, Soldat gewesen wie du. Ein bisschen zurückhaltender als du, weniger heiter. Und der wichtigste Unterschied: Er hat überlebt.
Was glaubst du, Albert – bin ich mit ihm gegangen? In dem Augenblick, als er mich gefragt hat, habe ich an dich gedacht. «Genieße das Leben, Rosa», hast du beim Abschied gesagt. «Selbst wenn ich nicht zurückkomme: Versprich mir, glücklich zu sein. Für mich.» Du hast gelacht, ich habe geweint, und die Kapelle hat Heil dir im Siegeskranz
geblasen.
Auch heute warst du anwesend: In Willys Geschwätz, im Brief vom Juwelier, im Blick des schönen Mannes, als ich «nein» gesagt habe, als ich gesungen, als ich getanzt habe. Du bist auch jetzt anwesend, während ich wieder eine leere Seite meines Tagebuches fülle.
Vergangenheit vergeht nicht, das lerne ich durch dich. Das Wort schon täuscht: Vergangenheit. Ganz und gar falsch! Sie durchtränkt die Gegenwart, schleicht sich in die Zukunft, bleibt für immer.
Den Kaiser gibt es nicht mehr, dennoch verwüstet er dieses Land. Dich gibt es nicht mehr, dennoch verdunkelst du dieses Herz.
Vor drei Jahren, nach deinem letzten Urlaub, in deinem letzten Brief, hast du es noch einmal geschrieben: Ob ich nun zurück zu dir ins schöne Leipzig komme, oder ob ich hier in der verbrannten Erde der Champagne liegen bleiben werde – du musst mir versprechen, eine glückliche Rosa zu sein.
Also gut. Wenn der Pistolenmann mit seiner lächerlichen Aktentasche mich morgen in der Bar wieder an seinen Tisch bittet, werde ich ihn mit nach Hause nehmen.