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F lammen erleuchteten die Nacht, Flammen loderten, wohin er sich wandte. Die nasse Uniform zog ihn tiefer ins Wasser, der Fluss brannte, es stank nach Schweröl. Das Wummern, Donnern und Brodeln einschlagender Artilleriegeschosse schwoll noch an. Gewehrschüsse heulten von einem Ufer zum anderen, Handgranaten explodierten, Männer schrien, Motoren brüllten, Umrisse monströser Maschinen bohrten sich durch schwarzen Qualm. Er schwamm von ihnen weg und auf ein Boot zu, das Schlagseite hatte, weil es längst überfüllt war. Er schwamm schneller, kam kaum vom Fleck. Jemand streckte ihm die Hand entgegen. Das Rauschen einer heranfliegenden Granate löste sich aus dem höllischen Chor des allgegenwärtigen und niemals schweigenden Kanonendonners, übertönte ihn sekundenlang und röhrte durch den Nachthimmel heran. Er sah die rettende Hand, streckte sich nach ihr aus, versuchte, nach ihr zu greifen. Die Detonation stülpte ihm die Trommelfelle ins Hirn, erstickte jedes andere Geräusch. Totenstille trat ein.
Stainer fuhr aus dem Schlaf hoch – sein Herz raste, er schnappte nach Luft. Hatte er geschrien? Gehetzt blickte er sich um: kariertes Bettzeug, eine brennende Nachttischlampe, eine Kommode aus dunklem Holz, ein runder Tisch, eine offene Tür.
Alles gut, Stainer, du bist durch.
Eine Frau im Nachthemd stand im Zimmer. «Was ist denn mit dir, Paul?»
«Was soll denn sein?» Er rieb sich die Augen und blinzelte zu der kleinen Frauengestalt: Sie hatte langes graues Haar und ein rundes, weiches Gesicht, in dem sich Sorgenfalten türmten. Seine Mutter.
«Du hast wieder laut geredet im Schlaf, hast sogar geschrien. Dein Vater ist davon aufgewacht.» Sie kam näher, beugte sich zu ihm, betrachtete seine Stirn. «Du schwitzt ja. Bei der Kälte?» Sie ging zur Kommode, holte ein Handtuch heraus und kam zurück zu seinem Bett. «Was ist nur mit dir, Paul? Du wirst doch nicht krank werden?» Behutsam wischte sie ihm den Schweiß von der Stirn.
«Gar nichts ist, Mutter.» Er fühlte sich ertappt, spürte Scham und Ärger zugleich in sich aufsteigen. Unwillig nahm er ihr das Tuch aus der Hand, trocknete sich Nacken und Hals. Zitterte seine Hand? «Ich habe schlecht geträumt, sonst ist gar nichts. Geh ruhig wieder schlafen.»
Sie neigte den Kopf auf die Schulter und schaute ihn an. Einen Augenblick stutzte er: Wann hatte er zuletzt so viel Erbarmen in einem Blick gesehen? Scham und Ärger verflogen – er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus und berührte zärtlich ihre Wange. «Nun geh schon, Mutter, es ist alles in Ordnung. Gute Nacht.»
«Gute Nacht, Paul.» Im Weggehen warf sie einen Blick auf den Tisch – auf den Marmorkuchen und die halb leere Branntweinflasche darauf. Kurz schien es ihm, als stockte ihr Schritt, doch ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
Wenigstens hatte sie nicht nach Edith gefragt. Stainer seufzte. Ausgeschlossen, die Eltern auch nur einen Tag länger mit seinen … – er schluckte, legte sich das Schweißtuch um den Hals, suchte nach Worten – … mit seinen Zuständen zu belasten. Er musste sich ein Zimmer suchen, so schnell wie möglich.
Umständlich kroch er aus dem Bett und schlurfte zum Tisch; Himmel, wie butterweich seine Knie sich anfühlten! Bebte der Fußboden, oder täuschte er sich? Er ließ sich auf den Stuhl davor fallen, atmete tief ein und aus, schaute sich aufs Neue um. Kaum zu glauben, doch er hockte in einem ganz normalen Zimmer. Er war tatsächlich durch und lebte wieder in menschenwürdigen Verhältnissen. Dennoch kam ihm das Zimmer unwirklicher vor als das Traumbild, das ihm noch immer vor Augen stand: der Panzer, das überfüllte Boot, die ausgestreckte Hand des Hauptmanns.
Er betrachtete den Marmorkuchen, mit dem seine Mutter ihn gestern überrascht hatte. Wie hatte er nur vergessen können, dass er Geburtstag hatte? Mutter hatte es nicht vergessen. Sein Gewissen regte sich, weil er ihn noch nicht angeschnitten hatte. Wann hatte ihm jemand zuletzt einen Geburtstagskuchen gebacken? Stainer konnte sich nicht erinnern.
Sein Blick glitt über das Durcheinander auf dem Tisch und blieb an der kleinen Taschenbibel hängen, die zwischen dem Kuchen und ein paar Abendzeitungen neben der Branntweinflasche lag: abgegriffen, fleckig, in der Mitte ein Loch mit schwarzen Rändern. Stainer hatte den Granatsplitter stecken lassen. Und seitdem nicht mehr in ihr gelesen.
Die kleine Taschenbibel und die ausgestreckte Hand seines Hauptmanns – ihnen hatte er zu verdanken, dass er Edith wiedergesehen hatte, dass er jetzt hier in einem ganz normalen Zimmer sitzen konnte; der Bibel und dem Hauptmann.
Traurig stützte er den schmerzenden Kopf auf, dachte an seine Frau und betrachtete die Branntweinflasche.
Teufelszeug!, schimpfte er stumm.
Es ersetzte den Schmerz lediglich durch anderen Schmerz, und als Betäubungsmittel hielt es nicht lange vor. Er musste aufhören damit, unbedingt. Denn wenn er getrunken hatte, suchte der Albtraum ihn so zuverlässig heim, wie dem Geschützlärm der Einschlag folgte. Hatte er das nicht schon im Gefangenenlager gelernt?
«Nein, nicht gelernt.» Murmelnd betrachtete er die verdammte Branntweinflasche. «Nur gemerkt.»
Stainer langte eine Zigarette aus seinem aufgeklappten Etui und zündete sie an. Rauchend lauschte er zum Fenster hin. Der neue Morgen graute schon. Schneeregen klatschte gegen die Scheiben. Nicht nur in Frankreich, auch hier in Leipzig wollte es nicht recht Winter werden in diesem Jahr. Ob die Eisblumen im Treppenhaus in der Gustav-Freytag-Straße wieder geschmolzen waren?
Gustav-Freytag-Straße zwölf – da hatte er einmal gewohnt. Mit ihr. In einem anderen Leben.
«Edith», murmelte er. Ihr Gesicht stand ihm vor Augen – kühl, verschlossen, bleich. «Meine Güte, Edith …»
Er stand auf, ging zur Tür, wo sein Offiziersmantel hing, und zog die Briefe aus der Tasche, die sie ihm gegeben hatte. Ein ganzer Reigen von Bildern tanzten ihm jetzt durch den schmerzenden Schädel: Edith, wie sie ihre Finger küsst, die Hand zum Waggonfenster heraufstreckt und seine Lippen berührt; Edith mit rotem Gesicht und feuchten Augen neben ihm vorm Altar; Edith, wie sie aus der Elektrischen in seine Arme stolpert. So hatten sie sich kennengelernt. Im April 1906, vierzehn Jahre her.
Diese Bilder wirkten wie Brandbeschleuniger – sie entzündeten ihm die vom Alkohol betäubten Gefühle erneut: Schmerz, Hass, Bitterkeit, Eifersucht – alles war wieder wach.
Er blieb stehen, schloss die Augen und ballte die Fäuste. Was fand sie an einem Mann, der gut zwanzig Jahre älter war als sie? Wahrscheinlich ein Arzt aus der Universitätsklinik. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis. Wahrscheinlich hatte sie ihn auf der Wöchnerinnenstation kennengelernt, wo sie als Hebamme arbeitete. Von Mann zu Mann. Was für ein Idiot!
Er riss die Augen auf, denn das Parkett unter seinen Fußsohlen schien plötzlich zu schwanken. «Mach kein Drama daraus, Stainer!», wies er sich selbst zurecht, während er zum Stuhl wankte. «Mach bloß kein Drama daraus, hörst du?»
Zurück am Tisch sah er die Kuverts durch; Briefe vom Polizeisportverein, von der Reichswehr, von seiner Partei, der SPD , vom lutherischen Pfarramt der Paul-Gerhardt-Kirche, vom Polizeiamt.
Vom Polizeiamt?
Er schluckte und blinzelte, bis der Absender nicht mehr vor seinen Augen verschwamm: Polizeiamt, Polizeidirektor, Wächterstraße 3–5.
«Gratuliere, Stainer», flüsterte er, «Glückwunsch zum nächsten Absturz. Ein Stockwerk tiefer geht immer noch.» Er sog den Rauch ein, blies die Backen auf, stieß Luft und Rauch durch vibrierende Lippen aus. Bring es hinter dich, Stainer, viel schlimmer kann es nicht mehr kommen.
Seufzend legte er die Zigarette in den Aschenbecher, riss das Kuvert auf und überflog das Schreiben. Er traute seinen Augen kaum und las sorgfältiger: Glückwunsch zur Rückkehr aus dem Feld der Ehre stand da, Dank für den heldenhaften Einsatz für Volk und Vaterland , Segenswünsche für die Zukunft und so weiter, und er möge sich dann und dann in Zimmer so und so beim Polizeidirektor persönlich einfinden. Und man freue sich auf eine weitere erfolgreiche Zusammenarbeit.
Stainer konnte es nicht glauben. Wieso weitere Zusammenarbeit? Hatte die Reichswehr denn seine Dienststelle nicht informiert? Wusste man in der Wächterburg nichts von seinem Zusammenbruch? Von seiner sogenannten «Kriegsneurose»?
Er griff wieder zur Zigarette, las noch einmal und murmelte den Namen des Unterzeichners. «Dr. Friedrich Kubitz, Polizeidirektor.» Kopfschüttelnd hob er den Blick. «Kubitz?» Er konnte sich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben.
Er las zum dritten Mal. Und wieder und wieder den letzten Satz: Ich freue mich auf weitere erfolgreiche Zusammenarbeit.
Fassungslos ließ er den Brief sinken. «Es geht weiter, Stainer», murmelte er ungläubig. «Du hast ausnahmsweise mal wieder Glück.» Beinahe hätte er laut gelacht. «Du bist schon fast wieder Polizist.»