10
G egen zehn schlenderte Stainer die Wächterstraße hinunter. Weil er noch Zeit hatte, war er eine Station früher ausgestiegen. Ihm war seltsam feierlich zumute und eine freudige Erregung hatte ihn ergriffen. Er ging ganz langsam, wollte sich seiner ehemaligen und künftigen Dienststelle ganz langsam nähern, Schritt für Schritt, obwohl es wieder zu nieseln angefangen hatte.
Den linken Arm hielt er angewinkelt gegen den Bauch gedrückt, sodass die kleine Katze sich unter dem Mantel in seine Ellenbeuge kauern konnte. Manchmal streckte sie das Köpfchen aus der Knopfleiste heraus und lugte ängstlich und mit großen Augen in die Welt. Wie eine junge Eule sah sie dann aus. Die Wärme ihres kleinen Körpers kroch ihm durch Anzugjacke, Weste und Hemd in Rippen und Herz. Das tat gut.
An der Auffahrt zum hohen Säulenportal des Reichsgerichts stand plötzlich ein Schäferhund vor ihm und beschnüffelte ihn. Stainer betrachtete ihn. «Du bist mir ja ein schöner Bursche.» Der Hund trottete zur Auffahrt, wo drei kriegsbeschädigte Soldaten unter zwei Regenschirmen hockten. Der älteste auf einem Rollbrett, die andern beiden in Rollstühlen. Alle drei waren mit Orden geschmückt.
Die Männer bettelten, und Stainer machte sich klar, dass die beiden im Rollstuhl jünger waren als er selbst – höchstens dreißig, schätzte er. Der eine reichte dem anderen eine Schnapsflasche.
Der Anblick der Männer dämpfte seine feierliche Stimmung: Viel hätte nicht gefehlt, und er müsste jetzt hier bei diesen Bettlern sitzen, seine Stümpfe oder sein entstelltes Gesicht herzeigen und hoffen, dass bis zum Dienstschluss im Reichsgericht genug für ein Abendbrot und ein Bier in seiner Mütze lag.
Er dachte an den Granatsplitter in seiner Taschenbibel, und die ausgestreckte Hand des Hauptmanns blitzte ihm durch den Kopf. «Lieber Gott, ich danke dir», flüsterte er.
Renkewiz hatte der Hauptmann geheißen. So übel der Krieg Stainers Gedächtnis mitgespielt haben mochte, den Namen des Hauptmanns würde er sein Leben lang nicht vergessen. Renkewiz – was mochte wohl aus ihm geworden sein?
Der Schäferhund streckte sich neben dem Bettler mit dem Rollbrett aus, einem Blinden ohne Beine, der auf einer Mundharmonika spielte. Eine schwarze Brille saß auf seiner großen Nase, ein buschiger Schnurrbart bedeckte seine untere Gesichtshälfte. Unter den Orden auf seinem Uniformmantel entdeckte Stainer ein filigranes blaues Kreuz – Pour le Mérite . Einer der höchsten Orden, mit denen das Reich seine Kriegshelden ehrte. Und nun bettelte der arme Kerl vor dem Reichsgericht. Stainer wandte sich schaudernd ab.
Im Weitergehen hörte er, wie der Blinde das Lied der Deutschen auf seiner Mundharmonika blies, und Stainer wurde das Herz schwer. Einer der Freiwilligen seines Stoßtrupps, ein fanatischer Feldwebel, hatte es in der Dämmerung jenes Abends angestimmt, an dem Major Paul Stainer mehr als dreißig Männer über den Fluss und zu den englischen Linien geführt hatte. Den Rückweg hatte er dann allein mit seinem Hauptmann angetreten, mit Renkewiz. In tausend Albträumen versuchte er seitdem, über den Fluss und zurück zu den deutschen Linien zu schwimmen.
Stainer verscheuchte die ungebetenen Erinnerungen und sah zu, dass er weiterkam. Der Klang der Mundharmonika hinter ihm ebbte ab, eine feuchte Windböe drohte, ihm die Melone vom Kopf zu blasen. Er hielt sie fest.
Die Katze steckte das Köpfchen aus dem Mantel und maunzte zu ihm herauf. Wie winzig wirkte das Tier doch gegen das hohe Säulenportal, den martialischen Giebel darüber und die lange Fassade des Reichsgerichts! Und wie klein und ohnmächtig fühlte er selbst sich angesichts des gewaltigen Palastes mit dem wuchtigen Turm im Zentrum!
Bald erreichte Stainer das Polizeiamt, ein klotziges Gebäude im Stil der italienischen Renaissance mit einem Eckturm und vier Flügeln. Unter dem großen Torbogen des Haupteingangs blieb er stehen und blickte zu dem einschüchternden Löwenschädel hinauf, der dort überlebensgroß aus dem Scheitelstein ragte. In Frankreich hatte er manchmal von ihm geträumt. «Da bin ich wieder», murmelte er und trat unter dem steinernen Bogen hindurch in die Einfahrt.
In der Mitte der Durchfahrt führten auf beiden Seiten Treppen ins Gebäude, eine zur Pförtnerloge, hinter deren Fensterfront ein älterer Polizist saß. Von der Wächterstraße her brummte Motorenlärm heran, Stainer schaute zum Torbogen zurück – ein großer Benztransporter schaukelte in die Einfahrt und an ihm vorüber. Im offenen Fahrerhaus saßen ein Uniformierter und ein jüngerer Beamter in Zivil, im Kasten dahinter erkannte Steiner nur Schatten hinter Milchglasscheiben. Der Gefangenentransporter rollte in den großen Hof.
Stainer stieg die kurze Treppe hinauf und verriet dem Beamten hinter dem Pfortenfenster, was der wissen wollte: seinen Namen und den Zweck seines Besuches. Weil er ihn nicht kannte, griff der Mann daraufhin zum Fernsprecher. Während er telefonierte, zerrten zwei Wachtmeister einen schimpfenden Gefangenen in Handschellen die Stufen herauf, der junge Zivilist ging dicht hinter ihnen. «Fingerabdrücke, Fotos, das Übliche!», rief er im Befehlston.
Die Wachtmeister schoben den Verhafteten an Stainer vorbei und durch die Flügeltür in die Eingangshalle. «Jawoll, Herr Kommissar Heinze», sagte einer. «Und danach ins Arresthaus?»
«Korrekt.»
Der junge Kommissar nannte dem Pförtner den Namen des Verhafteten – Ernst Hummels – und die Adresse. Dabei taxierte er Stainer mit flüchtigem Blick. Er war nicht besonders groß, jedoch von kräftiger Statur. Sein breiter Schädel saß auf kurzem Hals mit ausgeprägtem Stiernacken. Ein Mittelscheitel teilte seine dichten, blonden Locken, sein Oberlippenbart lief in gezwirbelten Spitzen aus. Stainer, der ihn nicht kannte, nickte ihm zu, doch der Jüngere reagierte nicht und lehnte sich neben ihm in die Pförtnerloge hinein.
«Ihre Wette, Mayer», sagte er zu dem Polizisten, der gerade den Hörer in die Gabel legte. «Und Ihren Einsatz.»
«Eins zu null für die Berliner, Herr Kommissar», sagte der Pförtner und drückte dem Kommissar drei Groschen in die Hand, und Stainer dämmerte es, dass es um Fußball ging.
«Na, Sie sind mir ja ein Schwarzmaler!» Der Kommissar steckte das Geld ein und stieß einen Flügel der Eingangstür auf. «Selbstverständlich wird der VfB Leipzig wieder gewinnen!», tönte er und verschwand hinter der Tür.
Der Uniformierte in der Pforte grinste säuerlich und wandte sich an Stainer. «Herr Dr. Kubitz erwartet Sie, Herr Kommissar Stainer.»
Stainer trat in die Eingangshalle, blieb einen Moment stehen und sog den vertrauten Anblick der breiten, dreigliedrigen Treppe, des gusseisernen Geländers, der Säulen und des Deckenstucks in sich auf. «Kommissar Stainer ist wieder da», murmelte er. Fast wären ihm die Tränen gekommen.
Von links, aus der Kriminalabteilung, hörte er laute Stimmen. Der Gefangene beschwerte sich, und aus der gebrüllten Antwort des jungen Kommissars hörte Stainer seinen Namen heraus: Hummels.
Er stieg ins erste Obergeschoss hinauf. Langsam und tief atmend schritt er durch die breite Zimmerflucht. Vor der Tür zum Vorzimmer des Direktors ruhte sein Blick auf einem blank gewienerten Messingschild: Dr. jur. Friedrich Kubitz, Polizeidirektor.
Sein Vater hatte ihm über den neuen Polizeichef erzählt, was er wusste – Pfarrerssohn, Hauptmann der Reserve, Frankreichfeldzug, zweimal verwundet, seit August letzten Jahres im Amt. Und das Wichtigste: Stainer und Kubitz waren sich nie zuvor begegnet.
Er klopfte und wartete, bis eine Frauenstimme ihn hineinrief, ehe er ins Vorzimmer trat. Elektrisches Licht brannte an der Decke. Zwischen Schreibtisch und Aktenschrank stand eine Frau mittleren Alters. Sie war recht groß, hatte feine Gesichtszüge, brünettes Haar und einen üppigen Busen – und sie schaute ihn stumm und aus großen Augen an. Stainer wusste sofort, dass er sie kannte. Doch woher?
Plötzlich stürmte sie auf ihn zu und umarmte ihn. «Paul! Gott sei Dank.» Er spürte das Kätzchen unter seinem Mantel zappeln. Fieberhaft versuchte er, sich zu erinnern: Wer um alles in der Welt war diese Frau?
Sie trat einen Schritt zurück, hielt ihn jedoch an den Armen fest und sah ihm ins Gesicht. Ihre Augen waren feucht. «Gott sei Dank», wiederholte sie flüsternd und dann lauter: «Wie geht’s dir denn, Paul?» Ständig flog ihr Blick zu seinem weißen Haar herauf.
«Ging schon schlechter.» Er versuchte zu grinsen. «Immerhin lebe ich noch, wie du siehst.»
«Gott sei Dank!» Sie schaute ihm ins Gesicht, wirkte ganz ergriffen. Endlich ließ sie ihn los und wischte sich die Augen aus. «Die Herren warten bereits.» Vor ihm her ging sie zur Tür ins Chefzimmer.
Im Vorübergehen streifte Stainers Blick einen Schreibtisch und die Fotos darauf: ein verwüstetes Zimmer, ein zerknüllter Brief, Fotos einer Leiche. Unter allen Fotografien stand der gleiche Name: Friedrich Jagoda .
Als die Frau zur Klinke griff und sich dabei noch einmal nach ihm umdrehte, fiel es ihm wie eine schwarze Binde von den Augen: Lena Falke. Vor dem Krieg hatte sie ein paar Monate lang für seine Wachtmeister und ihn als Sekretärin gearbeitet. «Herr Kommissar Stainer ist da», hörte er sie sagen. Und dann stand er auch schon im weiträumigen Dienstzimmer des Polizeidirektors.
Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass die Falke von Herren , gesprochen hatte – drei Männer erhoben sich von den Sesseln am Konferenztisch. Stainer schluckte. Er war nur auf einen vorbereitet. Da musst du jetzt durch, Stainer, sagte er sich, als der Polizeidirektor auch schon auf ihn zukam und ihn freundlich begrüßte.
Kubitz war ein eher kleiner Mann, schmächtig und mit hoher Stirn. Auf den ersten Blick wirkte er trotz seines buschigen, schwarzen Schnurrbarts noch unscheinbarer als auf dem Zeitungsfoto, das Stainer bei seinem Vater gesehen hatte. Auf den zweiten allerdings beeindruckten seine dunklen, forschenden Augen und sein energisches Kinn. Stainer erfasste intuitiv den zähen Kämpfer hinter der unauffälligen Erscheinung.
«Die Herren kennen sich?» Kubitz wies auf die anderen beiden und stellte sie vor: einen Regierungsrat namens August Kasimir und den leitenden Inspektor der politischen Abteilung, Gustav Weber. Erleichtert registrierte Stainer, dass er sich an ihn erinnerte. Wie er, war auch Weber vor dem Krieg Kommissar gewesen. Ein guter Mann und Sozialdemokrat, auch das wusste er noch.
Auf einmal maunzte die Katze und streckte den Kopf aus Stainers Mantel heraus. Kubitz hob verblüfft die Brauen und Weber schmunzelte, während sich die Miene des Regierungsrates Kasimir verdüsterte.
«Oh.» Stainer wäre am liebsten im Parkett versunken, doch er fing sich rasch, hielt es mit Weber und grinste verlegen. «Dich hatte ich ja fast schon vergessen.» Er reichte das Tierchen der Sekretärin. «Hast du vielleicht etwas Milch für meine Begleiterin, Lena?»
Auch seinen feuchten Offiziersmantel und die regennasse Glocke – so nannten die Sachsen eine Melone – reichte er ihr, bevor er sich wieder an seinen künftigen Vorgesetzten wandte: «Das Tierchen ist mir gewissermaßen zugelaufen auf dem Weg zu Ihnen.»
Er berichtete von dem Vorfall auf der Linie 10. Danach lächelte auch Kubitz und bot ihm einen Sessel am Konferenztisch an. Dort spendete eine Stehlampe elektrisches Licht.
«Schwere Zeiten liegen hinter Ihnen, Herr Stainer», eröffnete Kubitz das Gespräch. «Hinter uns allen. Wie ist es Ihnen ergangen?»
In einer Geste der Resignation hob Stainer die Hände. «Wie hunderttausend anderen.» Er erzählte das Nötigste, wählte seine Worte sorgfältig und versuchte, seine innere Anspannung zu ignorieren.
Der Regierungsrat Dr. Kasimir, ein dünner Mann mit schmaler Brust, hängenden Schultern und bleichem, länglichem Gesicht, wollte wissen, wo und unter wem er gekämpft hatte, wann er verwundet und wo und wann er in Gefangenschaft geraten war. Stainers Anspannung wuchs noch, denn er begriff schnell, dass er einem Gegner gegenübersaß: Kasimir schaute ihn nicht an – Kasimir belauerte ihn.
«Zum ersten Mal verwundet an der Marne, gleich im September 14, zum zweiten Mal an der Somme, Juli 16.»
Von der Hölle des Lazaretts, den Fesselgurten, Beschimpfungen und Elektroschocks, erzählte Stainer nicht. Und die dritte Verwundung verschwieg er auch. Niemand, dem er nicht persönlich davon erzählte, würde sie jemals erfahren – weder sah man sie ihm an, noch war sie aktenkundig, denn nur ein paar französische Ärzte wussten von seiner Amnesie.
«Gefangenschaft im September 16. Englische Infanterie hat unsere Linien auf breiter Front und im Schutz ihrer neuartigen Landschiffe angegriffen, ihrer sogenannten Panzer. In einer Division der Gruppe Kirchbach …»
«Zwölftes sächsisches Reservekorps unter Generaloberst von Kirchbach», unterbrach Kasimir in einem scharfen Tonfall, den er in früheren Zeiten vermutlich auf dem Kasernenhof gepflegt hatte. «Alter sächsischer Kriegeradel.»
«Genau, Herr Dr. Kasimir.» Der Regierungsrat war zu alt, um selbst an der Front gewesen zu sein, schien sich aber dennoch bestens auszukennen. «Die Gruppe Kirchbach ist zum Gegenangriff vorgestoßen. An der Ancre-Mündung habe ich einen Stoßtrupp mit vierunddreißig Freiwilligen über die Somme geführt …»
«Als Major?» Kasimir runzelte die Stirn.
«Feindliche Granaten sind tags zuvor in den Kommandoständen eingeschlagen, es gab kaum noch Offiziere und Unteroffiziere in unserem Frontabschnitt, und jemand musste die Maschinengewehrnester am anderen Ufer ausschalten.»
Kubitz und Weber hingen an Stainers Lippen, und Kasimir heftete seinen Blick auf Stainers Brust. Er vermisste einen Orden, keine Frage. «Und warum sind Sie schon mit dem Krankentransport letzte Woche gekommen?»
Weil ich so kerngesund bin, du Idiot, dachte Stainer und sagte: «Ich hatte den Lagerkommandanten gebeten, mich schon mit diesem Zug fahren zu lassen. Dringende persönliche Angelegenheiten.»
«Hatten wir alle», blaffte Kasimir. «Und der Franzose hat Ihrer Bitte entsprochen?» Das Misstrauen sprang dem Polizeirat nun aus jeder Pore. «Wie denn das?»
«Er war mir etwas schuldig.»
Stainer hatte sich mit dem französischen Offizier angefreundet, hatte ihm zu verdanken, dass er als Vorarbeiter beim Wiederaufbau zerstörter Häuser eingesetzt worden war und nicht hinaus auf die Schlachtfelder musste, um Leichen zu bergen und Granaten zu entschärfen. Doch er hütete sich, das auch nur anzudeuten.
«Ich habe ihm geholfen, einen Mord im Lager aufzuklären», sagte er, und Kubitz und Weber nickten verständnisvoll. «Als Geste des Dankes hat er mich den Kranken und Verwundeten als Begleiter zugeordnet.» Stainer hatte nicht gelogen, jedes Wort stimmte.
«So, so.» Mit Daumen und Zeigefinger rieb Kasimir sich sein schmales Oberlippenbärtchen, während er Stainer musterte. «Sie sind Mitglied bei den Sozialdemokraten, wie man hört?»
«Jawohl, Herr Regierungsrat, das bin ich.» Stainer nickte. «Genau wie unser Kanzler und unser Reichspräsident.» Kasimirs Oberkörper straffte sich, das Gespräch – oder besser: das Verhör – stockte, einen Moment herrschte Schweigen. Vermutlich brütete Kasimir über einer ganz besonders perfiden Frage. Stainer verfluchte ihn, während er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
«Vor allem aber sind Sie gesund in die Heimat zurückgekehrt.» Zum ersten Mal ergriff Gustav Weber das Wort, und Stainer dachte nicht daran, ihm zu widersprechen. Webers Lächeln hatte etwas Wehmütiges. «Und das ausgerechnet am letzten Montag, an Ihrem Geburtstag.» Überrascht schaute Stainer ihn an. «Ich habe Ihre Akte gelesen, wissen Sie? Was für ein Geburtstagsgeschenk! Ich gratuliere Ihnen, Herr Stainer.»
«Danke, Herr Inspektor Weber», sagte Stainer. «Ist ein schöner Zufall gewesen.» Es rührte ihn, dass dieser Mann den Zusammenfall seiner Heimkehr mit seinem Geburtstag bemerkt hatte. Edith hatte ihm nicht einmal gratuliert.
«Viele vermissen wir leider noch», fuhr Weber fort. «Und viel zu viele werden wir leider nie wieder in der Heimat willkommen heißen können!»
«So ist es nun einmal.» Kubitz räusperte sich. «Wir jedenfalls sind froh, einen erfahrenen Kriminalisten wie Sie wieder in unseren Reihen zu wissen, Herr Stainer. Leipzigs Straße kocht, die Kommunisten sorgen für Unruhen und Anarchie, und viel zu viele kriminelle Elemente nutzen das für ihre Zwecke aus. Nichts brauchen wir jetzt dringender als kampferprobte Offiziere wie Sie. Willkommen also bei der Leipziger Kriminalabteilung, Herr Kriminalinspektor Stainer.» Er stand auf und streckte Stainer die Rechte hin.
Stainer glaubte, sich verhört zu haben. Wie betäubt erhob auch er sich. «Verzeihen Sie, Herr Polizeidirektor, doch ich bin Kommissar.» Er war sich kaum bewusst, dass er Kubitz’ Hand ergriff.
«Sie waren Kommissar, Stainer. Ab sofort leiten Sie als Inspektor unsere Kriminalabteilung. Bitte treten Sie gleich morgen Ihren Dienst an.»
«Ich danke Ihnen, Herr Dr. Kubitz.» Stainer wusste nicht, wie ihm geschah, ließ sich von Kubitz die Hand schütteln, erwiderte den kräftigen Händedruck des freundlich lächelnden Webers und nach diesem den schlaffen des lauernden Regierungsrates Kasimir. Danach führte Kubitz ihn zur Tür.
«Ich bestehe aber auf einer amtsärztlichen Untersuchung vor Dienstantritt!», rief Kasimir ihnen hinterher.
«Selbstverständlich, Herr Kollege», sagte Kubitz. «Das werde ich noch heute in die Wege leiten.» Und an Stainer gewandt: «Regierungsrat Kasimir ist zugleich Polizeirat und als solcher führt er stellvertretend für mich die Dienstaufsicht über die Kriminalabteilung.» Stainer nickte steif in Kasimirs Richtung. Dieser Mann würde künftig also sein direkter Vorgesetzter sein. Herzlichen Glückwunsch! Doch nicht einmal diese trübe Aussicht konnte Stainers Hochstimmung dämpfen.
«Holen Sie sich noch heute einen Vorschuss an der Polizeikasse», sagte Kubitz leise, während er ihm die Tür öffnete. «Ich rufe gleich unten an.» Er deutete auf Stainers Brust. «Sie brauchen nämlich einen neuen Anzug.» Dann stand Stainer im Vorzimmer, und die Tür fiel hinter ihm zu.
Seine Knie waren weich, sein Hemd durchgeschwitzt. Er schaute an sich hinunter – Fäden hingen aus der Weste, Flecken bedeckten das Revers seines Anzugs. Die Katze.
«Du bist die Erste, die mir gratulieren darf.» Er ergriff Lena Falkes Hand. War sie damals nicht in ihn verliebt gewesen? «Dein Chef hat mich soeben zum Kriminalinspektor befördert. Morgen fang ich an.» Sie drückte ihm die Hand und strahlte übers ganze Gesicht.
Hatte er etwa ein Verhältnis mit ihr gehabt? Siedend heiß schoss ihm der Gedanke plötzlich durch den Kopf. Doch sofort beruhigte er sich wieder: nein, niemals. Er war ein Treuer, schon immer gewesen. Den ganzen Krieg über hatte er Edith die Treue gehalten, und er würde ihr treu bleiben, solange er auch nur einen Schimmer Hoffnung hegen konnte, sie zurückzugewinnen.
Stainer entdeckte die Katze neben einer Schüssel mit Milchresten, die sie blank leckte. Er ging vor ihr in die Hocke.
«Du hast mir Glück gebracht, kleine Eule», sagte er und streichelte ihr das Köpfchen. «Du darfst mich jetzt Kriminalinspektor nennen.»