13
M ax Heiland stellte die Kaffeetasse in den leeren Frühstücksteller, lehnte sich zurück und betastete die Schwellung rund um sein linkes Auge. Ein letztes Mal legte er sich die Worte zurecht. «Es gibt Neuigkeiten, Liebling», begann er, «ziemlich gute Neuigkeiten», und dann hielt er die kurze Rede, die er sich beim Rasieren ausgedacht hatte.
Sein Trainer, Hans Jänig, habe da einen Kampf gegen einen Berliner Boxer in Aussicht, erklärte er seiner Frau. Eine richtig große Nummer, dieser Berliner, und weil sein K.-o.-Sieg über Stecher, dieses Ungeheuer, sich bis in die Hauptstadt herumgesprochen habe, sei Jänig gefragt worden, ob sein Schützling sich auch den Kampf gegen einen Berliner Stadtmeister zutraue.
«Klar traue ich mir das zu.» Heiland schenkte sich Kaffee nach. «Ich trau mir eigentlich alles zu, aber erst mal muss ich die Sache heute Abend mit Hans besprechen, verstehst du? Kann spät werden, Liebling.»
In der Schlafstube wachte die Kleine auf und begann zu quäken. Heilands Frau Christel stellte die Kaffeetasse ab, stand auf und beugte sich über ihn. «Mach nur, Schatz.» Sie küsste ihn behutsam auf sein noch immer grünblau geschwollenes Auge. «Ich trau dir auch alles zu.» Sprach’s und lief hinüber in die Schlafstube, um die Kleine zu füttern und zu wickeln.
«Wenn ich diesen Kerl schaffe, kann ich bald regelmäßig in Berlin kämpfen, sagt Hans!», rief Heiland seiner Frau hinterher. «Vielleicht noch diesen Sommer!»
Seine eigene Stimme klang selbst für ihn, der es doch besser wusste, so überzeugend, dass er geneigt war, sich selbst zu glauben. Er übersetzte diesen Kerl einfach mit diesen Einbruch , und in Berlin mit zehntausend Mark . Und schon war es die Wahrheit, zumindest die halbe.
Zehn Stunden später, am frühen Abend, drückte er die Kleine an seine Brust. «Mein Mäuschen», gurrte er, küsste das Kind aufs Näschen und nahm seine Frau in den Arm. Ihm war plötzlich komisch zumute. «Es kann spät werden, wie gesagt.» Er küsste seine Frau so leidenschaftlich wie lange nicht mehr. Ihren verliebten Blick danach quittierte er mit einem siegesgewissen Lächeln und einem Klaps auf den Hintern – und schon war die rührselige Aufwallung verflogen.
Er drückte ihr die Kleine in die Arme, schlüpfte in seine Jacke, wickelte sich den Schal um und zog sich die Schirmmütze über den Kopf. Das Kind begann zu plärren und streckte die Ärmchen nach ihm aus. Heiland zerschmolz geradezu – seufzend sprang er zurück zu Frau und Tochter und kitzelte sie abwechselnd, bis die eine kicherte und die andere vergnügt krähte. Wieder an der Wohnungstür drehte er sich noch einmal um: Eine flüchtige Kusshand noch, ein letztes Winken, dann verließ er die Wohnung.
Seit ihrer Hochzeit im dritten Kriegsjahr lebten sie in der Naunhofer Straße in Heilands Elternhaus, von dessen Dachfenster aus man das Völkerschlachtdenkmal sehen konnte. Nicht die schlechteste Aussicht. Heiland lief bis zur Ecke Schönbuchstraße, stieg dort in die Linie 2 und fuhr nach Norden in Richtung Stadt.
Doch nur bis zur Papiermühlstraße – dort stieg er in die Linie 6 um und fuhr in die entgegengesetzte Richtung bis zur Endstation am äußersten Ostrand von Stötteritz. So machte er das jedes Mal, wenn Krüger wieder etwas an Land gezogen hatte, wie er das nannte, wenn also ein Bruch ins Haus stand.
Der Fahrer kurbelte am Bremsrad und rief die Endhaltestelle aus, da stand Heiland schon auf der Plattform und hielt sich an der Dachstange fest. Aus irgendeinem Grund befiel ihn plötzlich das sichere Gefühl, beobachtet zu werden, also wandte er sich um. Der Fahrer war noch mit dem Bremsrad beschäftigt, die Schaffnerin wühlte in ihrer Geldtasche und die wenigen Fahrgäste, die noch im Triebwagen mitfuhren, drängten sich am Ausstieg der hinteren Plattform.
Kein Mensch beobachtete ihn, niemand.
Die Elektrische stand still, und Heiland sprang von der Plattform auf die Straße. Mit federndem Schritt lief er zum Bürgersteig – und stolperte glatt über den Bordstein. «Mensch, Junge!», rief der Fahrer ihm hinterher. «Pass uff, wo de hintrittst!» Heiland grinste verlegen und winkte ab.
«Was denn, was denn», murmelte er im Weitergehen. «Nervös, oder wie?» Das übliche Lampenfieber, weiter nichts, beruhigte er sich selbst, immerhin stand heute Abend kein Skatabend auf dem Programm, sondern ein Einbruch. Und zehntausend Mark, ergänzte er in Gedanken.
Es dämmerte bereits, als Max Heiland von der Endstation aus die Straße ein Stück zurückging. Ein Vorkriegsaudi tuckerte an ihm vorüber, ein aufgeregt gackerndes Huhn wetzte über die Straße, und ein Fuhrwerk, das mit einem Gespann aus vier Ochsen in einen Innenhof rollte, zwang ihn, stehen zu bleiben.
Während das Fuhrwerk sich durch die Toreinfahrt schob, sprang eine Katze von der Hofmauer, reckte den Schwanz in den Abendhimmel und strich schnurrend um seine Beine. Heiland beugte sich zu ihr hinunter, sprach ein paar Worte mit ihr und streichelte sie. Das beruhigte ihn irgendwie.
Die Katze fiel ihm ein, die Krüger und ihm letztes Jahr bei einem Bruch oben in Leutzsch schon an der Kellertür mit aufgerichtetem Schwanz entgegengekommen war und weiter nichts gewollt hatte als schmusen. Schnurrend war sie ihnen in jedes Zimmer gefolgt und hatte sich an ihren Waden gerieben, während sie Schrankfächer und Schubladen ausräumten.
Auf einmal war ihm die Katze unsympathisch, und er richtete sich auf und ging weiter. Menschen lehnten aus Fenstern oder in offenen Türen oder hockten zusammen auf Bänken vor den Häusern. Sie grüßten ihn, als er vorüberging; das hätten sie auch getan, wenn sie nicht gewusst hätten, dass er ein Freund von Karl Krüger war, denn anders als in der Stadt grüßten die Leute in Stötteritz einander.
Die Stadt begann für einen Leipziger, sobald man den inneren Promenadenring überquert hatte, den Rathausring etwa, den Rossplatz oder den Georgiring. In der Stadt grüßte auch Heiland nur Leute, die er kannte.
Heiland fragte sich, ob die Leute einander auch dort grüßten, wo er heute Abend einbrechen wollte. In Gohlis wohnten viele reiche Leute, soviel wusste er, doch er kannte keinen einzigen Menschen aus diesem Stadtteil. Sein geschwollenes Auge zuckte plötzlich.
Er lief zurück bis zur Ecke Zuckelhäuserstraße. Dort, neben einer Zigarrenhandlung, betrat er einen Hof. Das Hinterhaus, in dem sein Freund Krüger wohnte, glich mehr einer Baracke als einem Haus. Doch zu ihr gehörte eine große Werkstatt, in deren Wandregalen, ordentlich sortiert, Krügers Werkzeuge und Ersatzteile lagen oder hingen. Und das waren nicht wenige.
Vor allem aber stand in dieser Baracke, meist unter einer Lederdecke, Krügers «Eisengöttin», wie der seine Maschine manchmal nannte: ein Motorradgespann aus den berühmten Motorenwerken in Neckarsulm.
«Na endlich!» Krüger hatte seine Eisengöttin schon aufgedeckt und betankte sie gerade. «Hast dich mal wieder nicht losreißen können, was?» Er schraubte den Tankdeckel zu. «Wenn ich dich so beobachte, vergeht mir die Lust, eine Familie zu gründen.» Im Wandregal stellte er den Benzinkanister zu zwei anderen in eine Blechkiste.
«Die Natur fackelt da nicht lange.» Heiland ging zum Regal, um seinen Rucksack und sein Werkzeug zusammenzusuchen. «Und die Lust sowieso nicht.»
«Hab schon alles gepackt!», rief Krüger ihm zu. «Auch deinen Affen. Wir können losfahren.» Er ging vor seiner Werkbank in die Hocke, löste eine Bohle aus dem Boden und holte ein Stoffbündel heraus. Auf der Werkbank packte er es aus – eine Pistole und eine Schachtel Munition kamen zum Vorschein. Heiland biss sich auf die Unterlippe und atmete scharf durch die Nase ein.
Krüger hatte die Waffe – eine Luger – im letzten Kriegsmonat seinem toten Leutnant gestohlen. Der Diebstahl war nicht besonders riskant gewesen, weil bis auf drei Mann Krügers gesamte Kompanie am selben Tag wie ihr Leutnant gefallen war und Dutzende Artilleriegeschosse den Boden samt Leichen und Waffen umgepflügt hatten. Da ging leicht mal etwas verloren.
Unbehagen beschlich Heiland, als er zuschaute, wie sein Freund nacheinander acht Patronen in das Magazin der Waffe drückte. Alles, was ihn an den Krieg erinnerte, erfüllte ihn mit Abscheu.
Er wandte sich ab, öffnete die hinter dem Motorradsattel festgeschweißte Blechkiste und holte seinen mit braunem Fell bespannten Soldatenrucksack heraus, seinen Affen. Sorgfältig kontrollierte er sein Werkzeug: Hämmer, Blechscheren, Dietriche, ein Stethoskop, eine Metallsäge, Schraubenzieher, Brechstangen, Zangen – alles da.
Gründlich wie er war, warf er auch einen Blick in den Beiwagen – darin hatte Krüger tatsächlich schon alles verstaut, was er gewöhnlich brauchte: Schweißgerät, Gasflasche, Lötkolben, Lötlampe, Schutzbrille und so weiter.
«Du traust mir nicht, he?» Krüger boxte ihn gegen die Schulter. «Es geht um zehntausend Mark, Mann! Komm, hilf mir.»
Gemeinsam schoben sie das Motorradgespann durch das Hoftor auf die Holzhäuser Straße hinaus. Die Leute an den Fenstern und auf den Bänken reckten die Hälse, und die Halbwüchsigen auf der Straße unterbrachen ihr Fußballspiel, kamen näher und bewunderten Krügers Eisengöttin.
Die NSU hatte das Fahrzeug ab 1915 für die Flandernfront gebaut. Im Beiwagen war ursprünglich ein Maschinengewehr montiert gewesen. Karl Krüger hatte das Gespann erst im letzten Frühling aus gestohlenen Reichswehrbeständen gekauft – für einen Apfel und ein Ei; und ohne Maschinengewehr natürlich.
Er zog sich Lederkappe und Brille über und stieg auf den Sattel, Max Heiland zwängte sich in den Beiwagen. Der elektrische Starter ließ den Motor schon beim ersten Versuch anspringen, und los ging die Fahrt. Heiland nahm die Schildkappe ab und wickelte sich den Schal um Hals und Kopf. Krüger schaltete das Licht ein, denn es wurde bereits dunkel.
Wenig später, als Krüger am Bahnhof Stötteritz in einer scharfen Rechtskurve zu schnell nach Norden abbog, fiel Heiland gegen ihn und spürte an seinem Oberarm die harten Konturen der Pistole in der Jackentasche des Freundes. Zugleich stieß er mit dem Knie gegen die Halterung, an der bis Kriegsende noch das Maschinengewehr im Beiwagen befestigt gewesen war. Er rieb sich das schmerzende Gelenk und verfluchte Krieg und Maschinengewehr.
Auf einmal, wie aus dem Nichts, befiel ihn die Vorstellung, sie würden in eine Schlacht fahren. Blödsinn, sagte er sich, vollkommener Blödsinn! Wir fahren nach Gohlis! Wir fahren zu einem ganz normalen Bruch, zu weiter gar nichts!