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4. Februar 1920
Es ist längst dunkel. Bald wird Heinrichs Freund Hans Weingarten läuten, um uns abzuholen – zum Kabarett und nach Gohlis. Ich bin nicht in Stimmung für einen Kabarettabend. Und was soll ich in Gohlis in einer fremden Villa?
Nebenan im Wohnzimmer singt Willy meinem Berliner Liebhaber die Internationale vor. Heinrich, am Klavier, hält mit Matthias Claudius dagegen – Der Mond ist aufgegangen  – und ich schreibe mir meinen Kummer von der Seele.
Ich habe eine Entscheidung getroffen, Albert: Morgen werde ich Heinrich auffordern, wieder auszuziehen. Ein Albtraum ist schuld, und der ging so: Heinrich und ich haben uns geliebt. Danach hat er seinen amerikanischen Revolver unter dem Jackett hervorgeholt und ist in den Keller gegangen. Gleich darauf höre ich Schüsse. Ich stürze in den Keller. Auf der Treppe kommt mir ein Uniformierter mit geschultertem Gewehr entgegen. Er blutet aus vielen Kopfwunden, aus seinem Gewehrlauf ragen rote Rosen. Erst, als er an mir vorbei läuft, erkenne ich, dass du es bist, Albert. Doch ich drehe mich nicht nach dir um, ich tue so, als würde ich dich nicht erkennen.
Das ist im ganzen Traum die schlimmste Szene gewesen.
Unten krachen noch immer Schüsse. Ich laufe in den Kartoffelkeller. Unter dem Fenster steht Heinrich und feuert auf die Kartoffelkiste. Auf ihr oder genauer: auf Heinrichs Aktenmappe und zwischen Kartoffeln, sitzt Willy und beschimpft ihn – ein «dämliches Nationalistenarschloch» nennt er Heinrich. Willy scheint unverwundbar, denn keine einzige Kugel trifft ihn. Mit klopfendem Herzen bin ich aus dem Schlaf hochgeschreckt.
Diesen Traum vermag ich auch ohne Dr. Polanskis Hilfe zu deuten: Willy, den keine Kugel trifft, verkörpert meinen vergeblichen Wunsch, du mögest unverwundbar sein. Das Bild deines zerschossenen Körpers und meine Weigerung, dich zu erkennen, bringen mein schlechtes Gewissen zum Ausdruck: Ich fühle mich schuldig, weil ich aufgehört habe, auf dich, meinen einzig Geliebten, zu warten. Nicht nur, dass ich jeden Tag mit Heinrich schlafe – gestern war ich auch noch beim Juwelier Heine und habe ihm gesagt, dass du auf dem Feld der Ehre geblieben bist und er die Ringe einem anderen Paar verkaufen soll.
Und schließlich Angst und Tagesreste. Vorgestern nämlich bat Heinrich mich, mit ihm in die Burgaue hinauszufahren. In seinem Wagen haben wir uns geliebt; seine Art, mich zu nehmen, hatte etwas Drängendes, ja Verzweifeltes. Das war nicht schön und hat mich erst erschreckt und dann wütend gemacht.
Wir sind deswegen in Streit geraten und ich habe ihm Vorwürfe gemacht. Er hat sich entschuldigt und gesagt, dass er nervlich am Ende sei. Und dann hat er mir erzählt, dass zwei Männer, mit denen er in Leipzig verabredet gewesen ist, sich nicht mehr bei ihm melden. Und er hat mir gestanden, dass er um ihr Leben fürchte und dass er selbst in großer Angst sei.
Vor wem denn bloß, wollte ich wissen. Vor Männern, die er wahrscheinlich gar nicht persönlich kenne, hat er geantwortet, und vor ihrer Mission.
Was für eine Mission, wollte ich wissen.
Sie nennen sie «Operation Judas», hat er geantwortet.
Danach sind wir ein Stück gelaufen. Ich bin aufgewühlt gewesen, und der Schreck steckte mir in den Gliedern. Operation Judas  – das klingt so nach Krieg, findest du nicht, Albert?
Mitten im Wald dann, irgendwo zwischen Luppe und Auensee, hat Heinrich plötzlich seinen Revolver unter dem Jackett herausgezogen. «Ich bin kein Judas», hat er geschrien und auf zwei Elstern geschossen. Und gleich darauf auf eine Birke – er hat geschossen, bis die Trommel leer war. Die Elstern sind tot gewesen, und in dem Birkenstamm stecken nun vier Kugeln.
Das alles hat mich ganz fassungslos gemacht.
Gestern, als ich aus dem Juwelierladen gekommen bin, hörte ich Orgelklänge in der Thomaskirche. Die haben mich magisch angezogen, und ich bin in die Kirche hineingegangen. Dort hat der Thomaskantor für ein Konzert geprobt und Bachs Passacaglia gespielt. Entsinnst du dich an das Stück? Wir haben es am Abend des 31. Dezembers 1913 zusammen in der Nikolaikirche gehört, an unserem letzten gemeinsamen Silvester.
Das Gesicht in den Händen vergraben, habe ich in der Kirchenbank gekauert und geheult wie eine verlassene Hündin. Und beschlossen, Heinrich hinauszuwerfen. Ich will nichts zu tun haben mit verschwundenen Männern, mit einer Operation Judas , mit Leuten, die im Wald herumschießen und Aktentaschen unter Kartoffeln verstecken.
Morgen sage ich es ihm, heute noch nicht. Weil ich ihm versprochen habe, ihn nach dem Kabarettabend nach Gohlis in diese Fabrikantenvilla zu begleiten. Ich will mein Versprechen halten. Immerhin hat Heinrich mir einige schöne Tage geschenkt. Und ein paar glückliche Stunden.
Ich höre auf zu schreiben, denn es läutet an der Haustür. Heinrichs Freund holt uns ab.