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A
m Augustus-Platz wartete Stainer auf die Elektrische. Die Gaslaternen brannten längst und in Leipzigs Straßen begann das Nachtleben. Vor der Universität standen kleine Gruppen von Studenten, die über ihr Abendprogramm beratschlagten, und vor dem Neuen Theater stiegen Männer und Frauen in Abendgarderobe aus Kraftdroschken und Privatautomobilen.
Seinen zweiten Tag in der Wächterburg hatte Stainer mit Formalitäten und Konferenzen zugebracht. Nach dem Termin beim Amtsarzt war er am späten Nachmittag in die Innenstadt gegangen, um einzukaufen. Er fühlte sich aufgeräumt wie lange nicht mehr. Sein Neuanfang und seine Beförderung bei der Polizei setzten Kräfte in ihm frei, von denen er vergessen hatte, dass er sie besaß. Die Scheinwerfer der Linie 10 schoben sich heran.
Der Tag hatte schon gut angefangen. «Du gibst Edith noch lange nicht auf», hatte er beim Rasieren seinem Spiegelbild erklärt. «Du wirst um sie kämpfen.» Statt in die Wächterburg war er erst einmal nach Connewitz hinuntergefahren, um bei seiner Frau zu läuten. Wie erwartet, war Edith noch in der Klinik gewesen – oder bei Brand? –, doch er hatte ihr eine Nachricht in ihren Briefkasten gesteckt: seine Fernsprechnummer auf dem Polizeiamt, seine neue Adresse und die Bitte, ihn anzurufen. Er wolle am Wochenende einige seiner Sachen bei ihr abholen, schrieb er. Natürlich wollte er vor allem eines: mit ihr sprechen.
Eine rote Elektrische hielt, vor Stainer drängte die Menge der Wartenden zur Plattform; jeder wollte als Erster einsteigen,
denn die Bahn war gut gefüllt. Stainer hatte es nicht eilig, zurück in die Wächterburg zu kommen, also wartete er geduldig.
«Durchgehen!», herrschte die Fahrerin die Leute an. «Geht gefälligst bis zur Mitte durch! Und rückt mir nicht so auf die Pelle!»
Stainer erkannte die Stimme sofort – die Frau namens König. Als die Leute der zierlichen Frau gehorchten und ins Bahninnere drängten, konnte er vom Trittbrett unters Dach des Führerstandes steigen. Aus dem Augenwinkel erkannte auch die Fahrerin ihn jetzt wieder. Mit einer Kopfbewegung winkte sie ihn links neben sich, wo noch keiner stand. «Wie geht’s?», fragte sie.
«Kann mich nicht beklagen.» Stainer hielt sich an der vorderen Dachstange fest. «Ich habe Arbeit und eine Wohnung gefunden.»
«Danken Sie Gott.» Die Frau war bleich, hatte Schatten unter den Augen und wirkte schlecht gelaunt.
«Bei Ihnen scheint’s nicht ganz so gut zu laufen.» Stainer entdeckte silbrige Fäden in ihrem schwarzen Haar.
«Sieht man’s mir etwa an?» Sie bremste den Triebwagen ab, schlug auf die Glocke und rief die nächste Haltestelle aus. Stainer wusste, dass die Glocke bei den roten Triebwagen auf der Handbremse saß und bei den blauen mit einem Fußpedal ausgelöst wurde. Ein Schwung Fahrgäste stieg aus, nur wenige ein. Die Elektrische fuhr wieder an.
«Ich habe vier Kinder, wissen Sie?» Die Fahrerin sprach leise und ohne Stainer anzuschauen. «Aus dem Führerstand geht’s am Abend direkt in die Waschküche und an den Herd. Und das tagaus, tagein. Von nichts kommt nichts.»
«Sind die Kinder tagsüber allein?»
«Die Große kümmert sich nach der Schule.»
«Und Ihr Mann? Hat er keine Arbeit?»
«Da fragen Sie mich was …» Sie seufzte bitter. «Ich hatte gehofft, der Verwundetentransport Ende Januar oder der Zug nach Basel am Wochenende würde auch ihn zurückbringen.» Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte traurig den Kopf.
«War er an der Westfront?»
«In Verdun.» Sie nickte. «Man hofft und hofft, das kennen Sie bestimmt. Sie waren doch auch im Feld, oder?»
«Ja, war ich. An der Somme.» Er wollte sie fragen, ob sie eine Vermisstenmeldung von der Reichswehr erhalten hatte, doch eine Frau sprach die Fahrerin an, nannte sie «Fine» und hatte allerhand zu erzählen. «Alles Gute», sagte Stainer zum Abschied und stieg aus.
Im Treppenhaus der Wächterburg traf er Bruno Schilling. Der sah noch struppiger aus als vorgestern und schleppte das Kaiser-Wilhelm-Porträt nach unten. «Danke, Bruno!», sagte Stainer im Vorübergehen; er hatte Schilling gebeten, das Bild aus seinem Büro zu entfernen.
«Keine Ursache, Herr Kriminalinspektor. Der Direktor hat’s mir geschenkt, kann solchen Plunder immer gut gebrauchen.» Und ein paar Schritte später, Stainer hatte schon das Obergeschoss erreicht, rief er: «Komm doch mal bei uns vorbei, Paul! Helga wird sich freuen.»
Stainer stand wie festgewachsen, hielt sich an der Balustrade fest und blickte zu Schilling hinunter. Ein einziger Name, und drei Jahre Leben tauchten wieder aus der verschütteten Erinnerung auf: Helga Hildebrandt – mit ihr war er verlobt gewesen, bevor Edith ihm in die Arme stolperte.
«Gern, Bruno», sagte er. «Grüße deine Frau von mir.»
«Wie ich sie kenne, wird sie einen altsächsischen Wildschweinbraten machen, wenn du uns besuchen kommst. Da bin ich fast sicher. Schönen Feierabend.»
«Wir sollten uns verabreden, die Woche noch.» Stainer nahm die nächste Treppe.
Ein halbes Jahr nach der Trennung hatte Helga den Mann geheiratet. Und ihn, Stainer, zum Hochzeitsfest eingeladen – seitdem kannte er ihn. Damals war Schilling noch Medizinstudent gewesen … Ja, die Erinnerungen kehrten zurück, wie Stainer erleichtert feststellte. Er war also doch kein hoffnungsloser Fall.
Altsächsischer Wildschweinbraten, dachte er, während er zu seinem Büro eilte, deine Leibspeise. Du solltest dir noch diese Woche Zeit dafür nehmen.
Er verharrte einen Augenblick vor seinem Türschild, bevor er eintrat, und grinste es so triumphierend an, als er hätte er es persönlich gestohlen. Darunter hing inzwischen ein zweites, schmaleres Schild. Oberleutnant Rudolph Heinze, Kriminalkommissar
, stand darauf.
Während die Tür hinter ihm zufiel, stand der Kollege auch schon vor ihm. Ein paar Sekunden lang musterten sie einander. Bis Heinze ihm die Hand reichte. «Heinze, Kommissar.» Seine Augäpfel zuckten merkwürdig unruhig hin und her, und dunkelblonde Locken hingen ihm tief in die breite Stirn.
«Paul Stainer. Freut mich.» Heinzes Händedruck war hart und kräftig, eine Spur zu hart und kräftig. «Auf gute Zusammenarbeit.»
«Ja.» Heinze zog seine schwitzende Hand zurück. «Ich muss ins Arresthaus. Vernehmung. Ernst Hummels.»
«Sie haben ihn vorgestern erst festgenommen, nicht wahr?»
«Korrekt.»
«Und damit Ihren ersten Fall gelöst, wie ich höre.» Stainer schätzte den Mann auf höchstens dreißig Jahre.
«Korrekt.»
«Gratuliere.»
«Danke. Man sieht sich.» Heinze schlug einen Bogen um Stainer und verließ das Büro.
Stainer blickte zu Heinzes Schreibtisch – der sah genauso ordentlich aus wie gestern. «Korrekt», murmelte er, ging zu Heinzes Schreibtischstuhl und betrachtete die in dunkelblauem Leder gerahmten Fotos am hinteren Tischrand.
Das rechte zeigte eine ältere Dame mit breitem Gesicht und gestrengem Lächeln, das linke eine junge Frau mit wehmütigen Augen und drei kleinen Kindern. Vom mittleren Foto, dem größten, grinste Heinze in weißem Turnerdress und mit protzigem Pokal. Er hatte ungewöhnlich muskulöse Arme und wirklich breite Schultern.
Stainer schaute sich um, während er zu seinem eigenen Schreibtisch schlenderte. Er war heute noch nicht dazu gekommen, sein schönes Büro zu genießen. An der Wand blies sich kein Verehrung heischender Kaiser mehr auf, und der kranke Gummibaum stand jetzt mitten im Raum, sodass er von allen drei Fenstern Licht bekam. Außerdem hatte Stainer ihm Magnesiumpulver ins Blumenwasser gestreut, ein Tipp von Lena Falke.
An seinem Schreibtisch strich er mit beinahe zärtlicher Geste über die ins Holz eingelassene Schreibunterlage. Sie war aus dem gleichen grünen Leder wie einzelne Elemente seines hölzernen, halbrunden Bürostuhls: die Sitzfläche, die obere Kante der Rückenlehne und die Armlehnen. Jede Einzelheit nahm Stainer auf, nach jeder Einzelheit tasteten seine Sinne, wie nach Ankern, die ihn tiefer und sicherer in seinem neuen Leben befestigten.
Ganz rechts auf dem Schreibtisch stand nun ein kurbelloser Fernsprecher mit rundem Holzsockel, auf dessen angeschrägter Vorderseite eine Wählscheibe aus Messing saß. Stainer nahm
den Hörer ab, wog ihn in der Rechten, hielt ihn probehalber ans Ohr und betrachtete den modernen Apparat.
Die leicht gekrümmte Gabel, ebenfalls aus Messing, sah ein bisschen aus wie ein doppelarmiger Kerzenleuchter, und der Griff des gebogenen Telefonhörers war aus dem gleichen rötlichen Holz wie der Sockel. Der schicke Apparat machte einen fabrikneuen Eindruck und schien Stainer einem Kriminalinspektor durchaus angemessen zu sein.
Zur Feier des Tages schlüpfte er in den Anzug, den er sich gekauft hatte, und band sich eine seiner neuen Krawatten um. Sogar den neuen Hut setzte er auf, bevor er sich an die Arbeit machte, einen modernen Fedora. Erst hatte er ihn nicht kaufen wollen, weil er sich erinnerte, dass Ediths Liebhaber Brand ein ganz ähnliches Modell trug. Doch der Hut hatte ihm einfach zu gut gestanden.
Als er endlich an seinem Schreibtisch saß und sich noch einmal lange genug und sehr zufrieden an seiner neuen Wirkungsstätte umgeschaut hatte, knipste er die Tischlampe an und schlug die erste Akte auf.
Nach einer Stunde kehrte Heinze zurück, warf einen ebenso erstaunten wie befremdeten Blick auf Stainers Hut und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Ohne einmal aufzublicken, vertiefte er sich in Akten, öffnete und schloss sie mit zackigen Bewegungen, holte mit zackigen Bewegungen eine Schreibmaschine aus seinem Schreibtisch und hämmerte mit verbissener Miene in die Tasten.
Irgendwann schoss er aus seinem Stuhl hoch, um im Stehen zu telefonieren. Mit Weber von der Sittenabteilung, wie Stainer heraushörte, es ging um diesen Hummels, den Verdächtigen im Mordfall Jagoda. Heinze duzte den ihm vorgesetzten Inspektor, lachte manchmal wiehernd und schwärmte von einem
Fußballspiel, das er am Sonntag gesehen hatte. Nach dem Telefonat räumte er seinen Schreibtisch auf, sagte «Auf Wiedersehen, Herr Kriminalinspektor» und ging.
Um Viertel nach sieben, Stainer spielte schon mit dem Gedanken, Feierabend zu machen, läutete zum ersten Mal der neue Fernsprecher auf seinem Schreibtisch. Statt gleich abzunehmen, schaute Stainer ein paar Sekunden lang den klingelnden Apparat und die vibrierende Gabel an – der erste Anruf in seinem neuen Leben als Zivilist und Kriminalinspektor. Endlich griff er zum Hörer. «Polizeiamt Leipzig, Kriminalabteilung, Inspektor Stainer.»
Ein Oberwachtmeister seiner Abteilung war in der Leitung, der Beamte namens Kupfer, der mit zwei Untergebenen im kleinen Nebenzimmer residierte; Kubitz hatte sie am Vormittag miteinander bekanntgemacht. «Selbstmord in der Albertstraße drei», sagte er, «können Sie gleich kommen, Herr Kriminalinspektor?»
Stainer runzelte die Stirn. «Selbstmord? Lassen Sie den Toten in die Gerichtsmedizin bringen und Punkt.» Er zögerte. «So haben wir das jedenfalls früher gehandhabt. Hat sich das Procedere inzwischen denn geändert?»
«Eigentlich nicht, Herr Kriminalinspektor.» Kupfer senkte die Stimme. «Genauso wollte ich vorgehen. Doch die Angehörigen des Toten bestehen auf einer polizeilichen Spurensicherung.»
Stainer saß plötzlich kerzengerade auf der Sesselkante, seine Neugier war geweckt. «Wer genau?»
«Sein Bruder. Er hat den Selbstmörder gefunden.»
«Und der glaubt nicht an Selbstmord?» Der Oberwachtmeister verneinte. «Rühren Sie nichts an, Kupfer, sehen Sie zu, dass niemand die Wohnung betritt. Ich lass unseren Fotografen und den diensthabenden Polizeiarzt benachrichtigen.»
«Dr. Doppelmann ist per Fernsprecher nicht zu erreichen», sagte Kupfer, «ich habe einen Wachtmeister nach ihm geschickt.»
Stainer stutzte – ein diensthabender Gerichtsmediziner, der nicht zu erreichen war? «Wir geben ihm noch eine Viertelstunde, Kupfer. Wenn er bis dahin nicht in der Albertstraße ist, lassen wir einen anderen rufen. Ich bin sofort bei Ihnen.»