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Ü ber Reudnitz brausten Heiland und Krüger nach Volkmarsdorf hinauf. Dort, in einem der Gärten an der Bahnstrecke nach Dresden, besaßen Heilands Großeltern eine eingezäunte Wiese mit einem alten Pferdestall. An einem parkenden Automobil vorbei steuerte Krüger das Motorradgespann in einen breiten Feldweg, der ins dunkle Gartengelände hineinführte.
«Das war ein Hansa!», rief Heiland. «Das ist dieser Joseph!» Der ehemalige Unteroffizier hatte angekündigt, in einem grauen Hansa D auf sie zu warten, einem alten Armeewagen. Heiland schaute zurück: Scheinwerfer flammten auf, das Automobil rollte an. «Er fährt hinter uns her.»
Vor dem großelterlichen Grundstück würgte Krüger den Motor seines Gespanns ab, der Hansa hielt neben ihnen und der Fahrer stieg aus. Der ehemalige Unteroffizier namens Joseph begrüßte sie wortlos mit flüchtigem Nicken, zog wortlos die Fondtür auf, half ihnen wortlos, ihre Werkzeuge auf der Rückbank zu verstauen. Er trug braune Lederhandschuhe.
Nach dem Umladen schoben sie das Motorradgespann in den alten Pferdestall. «Auf in den Kampf, Kamerad», sagte Krüger auf dem Rückweg zum Automobil, rannte voraus und setzte sich zum Rucksack mit seinem Schweißgerät auf die Rückbank des alten Hansas.
Heiland bedauerte, nicht schneller als sein Freund zurück am Wagen gewesen zu sein, denn es widerstrebte ihm, neben dem untersetzten Schweiger auf die Vorderbank zu rutschen. Auf dem Platz des Beifahrers lag ein Blatt Papier – irgendein Werbeprospekt – er nahm es hoch, bevor er es sich bequem machte.
«Baujahr?», fragte Krüger aus dem Fond, als sie aus dem Gartengelände rollten; vermutlich, um das Schweigen zu brechen.
«Elf», gab der Fahrer zurück. Entlang der Bahntrasse steuerte er den Wagen nach Westen. Krüger erkundigte sich nach den Pferdestärken, nach dem Preis und dem genauen Typennamen des Fahrzeugs und wollte wissen, ob Joseph zufrieden sei mit der Motorleistung.
Es befremdete Heiland, dass sein Freund den Fremden ständig mit Joseph anredete und dabei so vertraut tat, als würde er ihn schon jahrelang kennen. Der ehemalige Unteroffizier blieb einsilbig, antwortete mit Zahlen, einzelnen Worten oder flüchtigem Nicken und sagte kein Wort zu viel. In Schönefeld bog er in die Lindenallee ab und fuhr nach Norden.
Heiland betrachtete den Werbeprospekt zwischen seinen Fingern. Im vorbeihuschenden Lichtschein der Gaslaternen konnte er einzelne Worte lesen: Kabarett, Barthels Hof, Otto Reutter aus Berlin und eine Uhrzeit.
In Barthels Hof hatte er während der letzten Messe ein paar Tage lang gearbeitet, das Wort Kabarett sagte ihm ein bisschen was, von Otto Reutter hatte er noch nie gehört. Und um die Uhrzeit – 19.30 Uhr – hatte jemand einen Kringel gekritzelt. Weil er nicht wusste, wohin mit dem Blatt, stopfte er es in seine Jackentasche.
Sie fuhren unter einer Eisenbahnbrücke durch in die Theresienstraße und auf ihr am Nordfriedhof vorbei und nach Eutritzsch hinein. Einige Radfahrer waren noch unterwegs, wenige Automobile. Einmal mussten sie eine Kolonne uniformierter Reiter überholen, von denen drei an der Spitze und drei in der Nachhut Fackeln trugen.
«Sachsens Ulanen», wusste Karl Krüger. «Mit denen war ich in den Ardennen unterwegs. War kein Spaß.» Joseph reagierte nicht.
Das neue Villenviertel lag in der Nähe der Kasernen, viele Straßennamen dort klangen nach Militär. Je näher sie ihm kamen, desto weniger Fußgänger und Fahrzeuge sah Heiland auf den dunklen Straßen. Im Frühjahr letzten Jahres hatten sie schon einmal einen Bruch in der Gegend gemacht. Hatte sich gelohnt, denn wer es sich leisten konnte, hier zu wohnen, war in der Regel gut betucht.
Krüger, hinter ihm, schwärmte von seinem NSU -Gespann und erzählte, dass er sich vom Beutegeld einen Lastkraftwagen kaufen und als Spediteur selbständig machen wolle. Bis in die Einzelheiten ihrer technischen Daten schilderte er die Fahrzeuge, die er in Betracht zog und teilweise sogar schon angeschaut hatte. «Gestern habe ich eine Fahrerlaubnis für Lastkraftwagen beantragt», sagte er.
Krüger redete wie ein Wasserfall und Heiland fragte sich, ob sein Freund womöglich das Schweigen nicht aushielt. Hatte er etwa Angst? Gewundert hätte Heiland sich nicht darüber – auch ihm machte der Schweiger neben ihm auf dem Fahrersitz nicht gerade gute Laune. Genauer gesagt: Er ertrug ihn nur widerwillig. Manchmal nahm er aus dem Augenwinkel wahr, wie Joseph den Kopf bewegte, und jedes Mal glaubte er dann, von der Seite seinen lauernden Blick zu spüren.
In warmen Gaslaternenschein getauchte Hecken, Gartenmauern und Villenfassaden glitten rechts und links vorüber; Joseph schaltete einen Gang herunter. Krüger erzählte immer noch und war inzwischen bei einem Fußballspiel angelangt, das er am Sonntag gesehen hatte. Der VfB Leipzig hatte vier zu null gegen Olympia Leipzig gewonnen. «An die Wand gespielt haben sie die Jungs von Olympia», schwärmte er, «die haben beinahe geheult …»
«Kannst du nicht endlich mal’s Maul halten!?», fuhr Joseph ihn an. Er drosselte das Tempo und steuerte seinen Hansa über eine dunkle Straße, die neben einem kleinen Park verlief.
«Nanu?» Heiland hob die Brauen und musterte ihn von der Seite. «Nervös?»
Joseph antwortete nicht, doch seine Kaumuskeln arbeiteten. Stur richtete er den Blick durch die Windschutzscheibe auf die abendliche Straße. Er fuhr über eine große begrünte Kreuzung, bog nach links ab und parkte in Fahrtrichtung an der Schmalseite des Parks. Der Motor brodelte noch ein wenig, bevor er schließlich verstummte. Vor dem Kühler erloschen die Scheinwerferkegel. Weil nur auf der anderen Straßenseite Laternen standen, saßen sie nun weitgehend im Dunkeln.
Eine Zeitlang sprach keiner ein Wort. Irgendwann kramte Joseph eine Uhr und eine Taschenlampe aus seinem Mantel. Für einen Moment leuchtete ein weißes Ziffernblatt im Lampenschein auf. «Wie spät ist es?», fragte Krüger aus dem Fond.
«Gleich acht», sagte Heiland, und an den Fahrer gewandt: «Ist das die Villa?» Er deutete zu einem neuen Haus auf der anderen Straßenseite hinüber.
«Würdest du vor dem Haus halten, in das du einbrechen willst?» Das war der erste zusammenhängende Satz, den Joseph sagte. Mit der Zigarette, die er plötzlich in der Hand hielt, zeigte er in den Rückspiegel. Heiland drehte sich um und sah ein Automobil, das fünfzig Schritt hinter ihnen aus einer Querstraße abbog. «Dahin müssen wir, in die Artilleriestraße.» Ein Feuerzeug ratschte, ein Flämmchen sprang hoch, Rauch verbreitete sich im Wagen.
«Zu Fuß?», fragte Krüger mit heiserer Stimme.
Joseph nickte. «Durch den Park.»
«Na, dann gehen wir mal.» Krüger machte Anstalten, die Hintertür zu öffnen.
«Wir gehen, wenn ich’s sage!» Josephs Stimme peitschte durch das Halbdunkel. «Ich gebe hier die Befehle.»
«Und worauf warten wir noch?», wollte Heiland wissen.
«Auf den richtigen Zeitpunkt.» Wieder kramte Joseph Uhr und Lampe aus der Tasche, wieder leuchtete das Ziffernblatt auf. «Noch ist jemand im Haus.»
Heiland hasste es, Befehle entgegenzunehmen. Das hatte er viel zu lange getan. Er presste die Lippen zusammen, lehnte sich gegen das Seitenfenster und schloss die Augen. Die Sache gefiel ihm immer weniger. Doch konnte er jetzt noch einen Rückzieher machen? Er dachte an die letzte Runde seines Kampfes gegen Stecher. Aufgeben is nich, sagte er sich, das ziehst du jetzt durch.
In seiner Brust regte sich wieder das flaue Gefühl, das ihn schon beim Abschied von Christel und der Kleinen beschlichen hatte. Er versuchte, es zu ignorieren. Im Fond flammte ein Streichholz auf. Von hinten reichte Krüger ihm eine brennende Zigarette.
Irgendwann rückte das rhythmische Stampfen und Schnaufen einer Lokomotive näher. Ein Zug ratterte etwa zweihundert Meter vor ihnen über eine Brücke. Angestrahlt von Straßenlaternen zu beiden Seiten der Brücke, leuchteten die Unterseiten der Dampfwolken auf, bevor sie über der Lokomotive mit dem Abendhimmel verschwammen. Die Neun-Uhr-Bahn nach Halle? Heiland versuchte, sich den Fahrplan ins Gedächtnis zu rufen.
Sie rauchten schweigend. Bis Joseph sich seine Zigarette zwischen die Lippen klemmte und wieder Taschenlampe und Uhr aus der Tasche zog. «Es ist Zeit», sagte er, steckte die Uhr weg, ließ die Taschenlampe aber brennen. Er griff in seinen Mantel und holte eine Pistole heraus. «Für dich.» Er reichte Heiland die Waffe und richtete den Lichtkegel auf sie.
Heiland erkannte das Modell sofort: eine Mauser C 96. Sein letzter Feldwebel hatte mit so einer Pistole geschossen.
«Sie ist geladen», sagte Joseph. «Du weißt, wie man sie entsichert?» Heiland nickte und betrachtete die Waffe von allen Seiten. Sie sah alt aus, doch das war ihm gleichgültig – er würde sie sowieso nicht benutzen. Er steckte das Ding hinten in den Hosenbund, der Lampenschein erlosch.
Joseph stieß die Fahrertür auf und warf seine Kippe zwischen die Büsche am Parkrand. «Gehen wir.»