17
U nten in der Eingangshalle zog Stainer sein Zigarettenetui aus dem Mantel und zündete sich eine Salem an. An seinem plötzlich trockenen Mund und seinen schwitzenden Händen merkte er, dass er ziemlich nervös war. Dein erster Fall als Kriminalinspektor, dachte er, als der schwere Portalflügel des Polizeiamtes hinter ihm zufiel und er die Treppe zur Durchfahrt hinunterstieg. Nach so vielen Jahren dein erster Fall und ausgerechnet ein zweifelhafter Selbstmord.
Der Mord, den er im Gefangenenlager aufgeklärt hatte, war als Selbstmord getarnt gewesen. Zwei Soldaten hatten ihren ehemaligen Leutnant an einem Birnbaum aufgehängt, weil sie ihn für die Vernichtung ihrer Kompanie verantwortlich machten.
Auf der Straße schob er sich seinen Fedora aus der Stirn und knöpfte den Mantel wieder auf. Es war trocken heute Abend und erstaunlich mild für die Jahreszeit. Da die Albertstraße nur ein paar Wegminuten entfernt lag, verzichtete er auf ein Polizeifahrrad und ging zu Fuß. Seine Knie kamen ihm ein wenig weich vor. Nein – wirklich entspannt war er nicht.
Immerhin fühlte er sich wohl in seinem neuen Anzug, hellgrau mit dezentem Karomuster und dazu eine moderne dunkelblaue Krawatte. Passt gut zu deinem weißen Haar , hätte Edith gesagt, bekäme sie ihn darin zu sehen. Und sie würde ihn in seinem neuen Anzug zu sehen bekommen – schon am Wochenende, wenn er zu ihr gehen würde, um seine Sachen zu holen. Um mit ihr zu sprechen. Um sie zurückzuerobern.
Ob sie versuchen würde, ihm auszuweichen? Fast fürchtete er es. Angerufen hatte sie jedenfalls noch nicht.
Bald bog er in die Albertstraße ein. An der Adresse, die der Oberwachtmeister genannt hatte, einem alten Stadthaus, brannte im obersten Stockwerk elektrisches Licht. Dort musste es sein. Seine innere Unruhe nahm zu, während er vor einer heranrasselnden Elektrischen die Albertstraße überquerte.
Neben der Vortreppe lehnte ein Polizeifahrrad gegen die Hauswand. Eine Kraftdroschke stand mit laufendem Motor vor dem Haus. Der Chauffeur hielt die Fondtür auf und machte eine Miene wie ein Sargträger kurz vor der Bestattung.
Eine elegant gekleidete Frau mit zwei kleinen Kindern stieg gerade die Stufen herab, als Stainer bei der Treppe ankam. Eines, ein Mädchen von etwa sechs Jahren, hielt einen mit Tüchern verhüllten Korb in der Hand. Stainer stutzte, denn unter dem Tuch tirilierte und pfiff es. Die Frau schob ihre Kinder an ihm vorbei zur Kraftdroschke.
«Was trägst du denn da für einen Piepmatz durch die Nacht?», fragte Stainer.
«Schanti», sagte das Mädchen schluchzend. «Unseren Kanarienvogel.» Mit wundem Blick schaute es zu ihm herauf, und augenblicklich packte Stainer das Mitleid. «Seinen Käfig hat der Polizist mir nicht geben wollen.»
Die Mutter schob sich zwischen ihre Tochter und Stainer. Sie war aschfahl und hatte nasse Augen. «Lassen Sie uns in Ruhe!», fauchte sie ihn mit heiserer Stimme an. Hinter ihren Kindern stieg sie in die Kraftdroschke, der Chauffeur schlug die Tür zu und kletterte hinter das Steuer.
«Ich besorge dir euren Käfig!» Stainer winkte. Das konnten eigentlich nur Angehörige des vermeintlichen Selbstmörders sein. «Versprochen!»
Die Droschke fuhr an und eine stinkende Abgaswolke quoll aus ihrem Auspuff und hüllte ihn ein. Mit seinem neuen Hut wedelte er sich den Weg frei, trat die Zigarette aus und stieg hustend ins Treppenhaus hinauf.
Im zweiten Stockwerk lehnte ein blonder Mann über dem Treppengeländer, aschfahl und mit leerem Blick. Stainer grüßte ihn, doch der Mann reagierte überhaupt nicht, stierte nur in die Tiefe des Treppenhauses und schien auf irgendetwas herumzukauen. Seine Rechte umklammerte den Griff eines Stocks.
Stainer ging an ihm vorbei. Zwei Treppen weiter, im dritten Stockwerk, verharrte er einen Moment vor einer nur angelehnten Wohnungstür und schöpfte Atem – Dr. Johannes Murrmann stand auf dem Namensschild. Ein unangenehmer Geruch drang aus der Wohnung. Er hob die Rechte, um die Tür aufzudrücken und verharrte wieder: Hand und Finger zitterten ein wenig.
Die vielen Stufen, beschwichtigte er sich selbst, das gibt sich mit der Zeit.
Weil jemand die Tür aufzog, steckte er die Hand schnell in die Manteltasche. «Endlich, Herr Kriminalinspektor!» Kupfer trat beiseite, um ihn hereinzulassen. «Nicht schön, so ganz allein mit einem Toten.» Er trug Pickelhaube, einen langen Uniformmantel und Ledergamaschen über schmutzigen Winterschuhen.
Im Vorbeigehen schaute Stainer ihm ins Gesicht und versuchte vergeblich, sich seines Vornamens zu erinnern. Der Oberwachtmeister, mittelgroß, hager und mit buschigem Schnurrbart, war Anfang fünfzig, also nicht an der Front gewesen. Ein schütterer rotbrauner Haarkranz rahmte seine Glatze ein, und seine Miene sah gelblich und ein wenig leidend aus. Hier in Leipzig hatte er in den letzten Jahren vermutlich nicht ganz so viel Gelegenheit gehabt, sich an die Gegenwart von Toten zu gewöhnen, wie es Stainers Generation in Frankreich, Russland oder auf dem Balkan vergönnt gewesen war.
«Laufen Sie nicht in der Mitte des Flurs», ermahnte er den Beamten, der ihm ins Innere der Wohnung folgte. Er selbst ging ganz rechts, und der erstaunte Kupfer wich gehorsam an die linke Wand. Im selben Moment fiel Stainer sein Vorname wieder ein – Heribert; mit kleinen Grübeleien wie diesen versuchte er, sein Gedächtnis in Schuss zu bringen.
Zu allen Zimmern der weitläufigen Wohnung standen die Türen offen. Sollten die Angehörigen sie geöffnet haben, würde Stainer die Fingerabdrücke vergessen können.
Auf der Schwelle zu einem großen Raum blieb er stehen. Ein übler Geruch wogte ihm entgegen, derselbe, den er schon an der Wohnungstür wahrgenommen hatte. Der Tote hing neben einem Vogelkäfig an einem Seil, das am gedrechselten Holm eines Treppengeländers befestigt war.
Stainers Blick wanderte von dem blaugrauen Gesicht des Toten über seine schlaffen Hände und den dunklen Fleck im Schritt seiner Hose bis zu seinen Socken hinunter. Und wieder zurück zum Gesicht. Ein kleines, schwarzweißes Etwas hing an der Schläfe, verkrustetes Blut klebte unter der violetten Nase auf der Oberlippe, die bläuliche Zungenspitze steckte zwischen den Zähnen und die geschrumpften und zurückgezogenen Lippen sahen aus wie vertrocknete graue Lederstreifen. Die Treppe, an der die Schlinge des Toten befestigt war, führte zum Dachgeschoss hinauf.
Das Gesicht kam Stainer merkwürdig bekannt vor, ganz so, als hätte er es heute schon gesehen.
Er begann, sich die Schuhe auszuziehen und drehte sich dabei nach dem Oberwachtmeister um. «Haben Sie eine Taschenlampe dabei?» Kupfer nickte und zog eine Klapplampe aus der Manteltasche. «Leuchten Sie bitte das Parkett nach Fußspuren ab.» Mit dem Schuh deutete er in den Flur hinein. «Fangen Sie hier an und hören Sie erst auf der Treppe zum Dachgeschoss auf.»
«Fußspuren?» Kupfer machte eine begriffsstutzige Miene.
«Ja, Sohlenabdrücke.» Stainer deutete auf die Leiche. «Der Bruder des Toten hat recht: Dieser Mann ist tatsächlich ermordet worden, folglich muss der Mörder in der Wohnung gewesen sein. Falls er nicht in einem Anflug von Höflichkeit die Schuhe vor der Wohnungstür ausgezogen hat, könnte er also die eine oder andere Spur hinterlassen haben, oder wie sehen Sie das, Kupfer?»
Der runzelte die Stirn. «Verzeihen Sie die Frage, Herr Inspektor, aber wie kommen Sie darauf, dass der Mann ermordet wurde?»
«Haben Sie ihn sich genau angeguckt?» Kupfer nickte. «Denken Sie über das nach, was Sie gesehen haben, während Sie die Fußspuren sichern, dann werden Sie selbst draufkommen.» Stainer klopfte ihm auf die Schulter. «Ich werde Sie nachher fragen, was bei Ihren Untersuchungen herausgekommen ist.»
Kupfer, nur mäßig begeistert, knipste seine Klapplampe an und leuchtete die Mitte des Flurganges ab. «Ich fürchte, ich werde viele Spuren finden, denn die Familie des Toten ist vorhin in die Wohnung gekommen», sagte er. «Sein Bruder, seine Schwägerin, die beiden Kinder.»
«Und dazu noch wir beide.» Stainer dachte an den bleichen Mann im Treppenhaus, und plötzlich wusste er, wo er das Gesicht des Toten schon gesehen hatte. «Haben die Angehörigen das Arbeitszimmer betreten?»
«Nur der Zwillingsbruder des Toten.»
«Na, sehen Sie. Außerdem kann man eventuelle Spuren mit unseren Sohlenprofilen und denen der Leute abgleichen. Machen Sie schon, und kennzeichnen Sie jede Spur, die Sie finden.»
«Aber womit denn, Herr Inspektor?»
Stainer zog die Brauen hoch und schaute Kupfer ins ratlose Gesicht. Dabei erinnerte er sich, dass es ihm schon vor dem Krieg Mühe gemacht hatte, die Beamten an die Regeln moderner Spurensicherung zu gewöhnen.
Er öffnete die Augen wieder. «Keine Kreide dabei?» Kupfer schüttelte den Kopf. Stainer durchwühlte seine Taschen und musste selbst passen: alles, was er schon vor dem Krieg bei Ermittlungen mitzunehmen pflegte, hatte er mit dem alten Anzug im Polizeiamt gelassen; sogar die Dienstwaffe hatte er vergessen.
Er wandte sich ab, schaute sich im Arbeitszimmer um und entdeckte eine Marmorschale mit Stiften auf einem Sekretär. Nach einem großen Schritt stand er vor dem Möbelstück, langte einen Bleistift aus der Schale und reichte ihn dem Oberwachtmeister. Der nickte eilfertig und machte sich an die Arbeit.
Ein Fernsprecher stand am rechten Rand des Sekretärs, ein ziemlich neuer mit Wählscheibe. Verkleidung und Hörergriff waren aus rot und blau verziertem Porzellan; der ganze Apparat sah teuer aus. Stainer zog ein Taschentuch aus der Anzughose und breitete es über den Griff, bevor er ihn hochnahm und die Nummer des Polizeiamtes wählte.
Während er auf die Stimme am anderen Ende der Leitung wartete, wanderte sein Blick über den Sekretär: Ein französisches Wörterbuch lag aufgeschlagen neben einem Briefblock. Davor die Marmorschale mit den Stiften, eine Dose mit Vogelfutter, ein aufgeschraubtes Tintenfass und ein Füllfederhalter. Ein beschriebenes Blatt sah er nirgends.
Eine Frauenstimme meldete sich in der Telefonzentrale. «Stainer hier. Wir brauchen jemanden, der Fingerabdrücke sichert. Im Obergeschoss der Alberstraße drei bei Dr. Murrmann. Und finden Sie heraus, welchen Arzt man anrufen kann, wenn der diensthabende nicht erreichbar ist.» Als er auflegte, machte er sich klar, wie wenig Sinn das Taschentuch auf dem Griff machte – Kupfer hatte ihn schon mindestens zweimal in der Hand gehabt.
Er schaute sich in dem großen Arbeitszimmer um: Die Wandregale steckten voller Bücher, ein rundes Tischchen und zwei Ledersessel standen zwischen den Fenstern, auf einem schwarz gerahmten, großflächigen Gemälde an der Treppenwand konnte Stainer mit viel Phantasie eine Frauengestalt vor einer Flusslandschaft erkennen. Über den Stufen zum Dachgeschoss hingen Porträtfotos von berühmten Leipziger Musikern und Politikern.
Sein Blick suchte das Parkett ab und blieb an zwei dunklen Flecken hängen. Seine neue Lupe hatte er nach dem Kauf zum Glück in die Manteltasche gesteckt. Er zog sie heraus, ging in die Hocke und betrachtete die Flecken. Auf dem vorderen kleineren entdeckte er geronnenes Blut.
Er stand auf, schaute wieder zum Toten unter der Treppe, zur blutverkrusteten Nase, zum dunklen Schritt seiner Hose, zum Vogelkot auf seinem Kopf. Am Vogelkäfig neben ihm stand das Gittertürchen offen. «Dort bist du nicht gestorben, habe ich recht?», murmelte er. Sein Blick richtete sich wieder auf die dunklen Flecken im Parkett. Er beugte sich noch einmal mit der Lupe hinunter. «Hier bist du gestorben.» Stainer legte sich fest, das geronnene Blut ließ keinen anderen Schluss zu.
Stimmen näherten sich aus dem Treppenhaus, die Wohnungstür knarrte. «Guten Abend, Herr Dr. Prollmann», hörte er Kupfer sagen. «Gut, dass Sie endlich kommen …»
«Was soll das heißen – ‹endlich›?!», knurrte eine griesgrämige Stimme.
«Schuhe ausziehen!» Stainer sprang auf die Schwelle des Arbeitszimmers. «Bitte ziehen Sie die Schuhe aus, meine Herren!» Drei Männer an der Wohnungstür stutzten kurz, gehorchten dann aber.
Ein vierter dachte gar nicht daran: Seine Arzttasche schwenkend schaukelte er auf Stainer zu. Er trug einen Zylinder und einen pelzbesetzten Mantel über Frack und Fliege, und er war so unglaublich dick, dass seine Gestalt beinahe die gesamte Breite des Flurs ausfüllte. Kupfer musste sich an die Wand drücken, um nicht von seiner schwingenden Tasche getroffen zu werden.
«Stainer, Kriminalinspektor», stellte Stainer sich vor und versperrte dem massigen Mann den Weg ins Mordzimmer.
«Prollmann.» Dicht vor ihm blieb der Arzt stehen und warf über Stainers Schulter hinweg einen Blick auf den Toten. Er war glatt rasiert und roch nach Schnaps, Pfefferminz und Veilchen. Schwarze Locken quollen ihm unter der Zylinderkrempe hervor. Eine schlecht verheilte Narbe zog sich von seiner linken Schläfe bis zu seinem Mund herunter, das Doppelkinn hing ihm über dem steifen Hemdkragen.
«Unverschämtheit!», rief er. «Wegen eines Selbstmörders holt ihr mich aus der ‹Katze›?!» Feindselig und aus wässrigen, leicht rötlichen Augen stierte er Stainer an. «Die Polizeidirektion hat mich bestimmt nicht als Honorarkraft verpflichtet, damit ich Totenscheine ausstelle!»
Es irritierte Stainer, dass Kupfer einen Dr. Doppelmann angekündigt und dieser fette Arzt hier sich als Dr. Prollmann vorgestellt hatte. Hatte der Oberwachtmeister ihn nicht auch so angesprochen? Mehr noch allerdings irritierte ihn die Stimme des Dicken – nicht weil sie so tief und rau war, sondern weil sie etwas in ihm aufwühlte, auf das er nicht gefasst war: Angst, Wut und das Bedürfnis wegzulaufen.
Wie konnte das sein? Er verstand sich selbst nicht.
«Der Mann da drin ist ermordet worden», sagte er leise und deutete mit den Daumen über die Schulter.
«Woher wollen Sie das wissen?»
«Ziehen Sie sich bitte die Schuhe aus und kommen Sie herein, dann erkläre ich es Ihnen.» Stainer wandte sich an den Blonden, den er schon im Treppenhaus gesehen und der nun etwas verloren und mit Stock und Schuhen in den Händen an der Wohnungstür wartete; Kupfer hatte ihn mit Murrmann angesprochen. «Entschuldigen Sie den Gefühlsausbruch, Herr Dr. Murrmann, unsere Ärzte sind zur Zeit ein wenig überarbeitet. Bitte gedulden Sie sich noch einen Augenblick, ich bin sofort für Sie da.»
Er winkte den Fotografen heran und befahl dem zweiten Wachtmeister, der den Arzt geholt hatte, vor der Wohnungstür Wache zu schieben und nur noch den Kollegen hereinzulassen, der die Fingerabdrücke sichern sollte.
«Für mich braucht sich keiner zu entschuldigen», zischte der Gerichtsmediziner und drückte Stainer seine Arzttasche in die Hand, damit er sich nach seinen Schuhen bücken konnte.
«Das sehe ich entschieden anders, Herr Doktor», entgegnete Stainer kühl und ließ den Fotografen vorbei. «Nichts berühren», schärfte er ihm ein. «Ich will Fotos vom gesamten Arbeitszimmer, vor allem natürlich von Herrn Murrmann, den Flecken auf dem Parkett und dem Sekretär.»
«‹Schuhe ausziehen›», ächzte der Arzt verächtlich, «was sind das denn für neumodische Faxen?»
«Es geht mir darum, mögliche Spuren nicht zu zerstören», erklärte Stainer in sachlich-kühlem Tonfall. In Wirklichkeit fiel es ihm schwer, seine Wut auf diesen unflätigen Fettsack zu zähmen. Der richtete sich ächzend auf, riss ihm die Tasche aus der Hand und drängte sich an ihm vorbei ins Mordzimmer. Stainer nickte dem Bruder des Mordopfers zu und schloss die Tür.
Der Arzt knallte seine Tasche auf den Sekretär und warf den Zylinder daneben. «Wie war Ihr Name gleich?», blaffte er.
«Ich bin Kriminalinspektor Paul Stainer», antwortete Stainer, woraufhin der Arzt ihn aus plötzlich sehr schmalen Augen musterte. Sein Atem roch tatsächlich nach pfefferminzhaltigem Schnaps. «Ihren Namen habe ich auch nicht genau verstanden, Herr Doktor.»
«Prollmann. Dr. Kurt Prollmann.» Der Dicke wandte sich ab und dem Toten zu, und Stainer glaubte auf einmal, ihn zu kennen. Aus Frankreich? Eher nicht, denn von der Front kehrte man nicht mit derartiger Leibesfülle zurück und aus der Kriegsgefangenschaft zweimal nicht.
Verfluchtes Gedächtnis, schimpfte er im Stillen.
«Und nun erklären Sie mir gefälligst, was Sie veranlasst, diesen lebensmüden Narren für ein Mordopfer zu halten, Herr –» Prollmann unterbrach sich einen Atemzug lang, und als er fortfuhr, betonte er jede Silbe: «Kriminalinspektor.»
Blitzlichter zuckten durch den Raum, der Fotograf lichtete den Sekretär ab. Stainer trat neben den Toten und zeigte auf das von Körnern übersäte Parkett. «Sehen Sie das Vogelfutter?» Er deutete auf die offene Käfigtür und den Vogelkot an der Schläfe des Erhängten. «Die Familie seines Bruders hat den Kanarienvogel schon abgeholt. Vor seinem Tod hat der vermeintliche Selbstmörder ihn wohl gefüttert.»
Mit einer Kopfbewegung wies er zum Sekretär, wo die Dose mit dem Vogelfutter stand. «Er füttert den Vogel, verstreut dabei die Hälfte des Doseninhalts, lässt den Käfig offen stehen und steigt dann die Treppe hoch, um sich aufzuhängen – klingt das für Sie etwa plausibel?»
«Gütiger Gott!» Der Arzt verdrehte die Augen. «Tun Sie so naiv oder wissen Sie wirklich nicht, wozu Verrückte und Betrunkene imstande sind?» Er ging zum Sekretär und kramte ein paar Latexhandschuhe aus seiner Tasche.
«Und was sagen Sie dann zu den blutigen Fingernägeln?» Stainer hob die Rechte der Leiche ein wenig an. Brechreiz würgte ihn, denn der Tote stank entsetzlich.
«Er wird in der Nase gebohrt haben», sagte Prollmann und zog sich die Handschuhe über. «Sehen Sie nicht, dass die geblutet hat?»
«Mit dem Daumen?» Stainer deutete auf den blutigen Daumennagel. «Mit Verlaub, Herr Doktor: Ihr Zynismus grenzt an Menschenverachtung.»
«Was Sie nicht sagen.» Der Arzt zog sich eine Stirnlampe über die Locken. «Wie lange sind Sie eigentlich schon Kriminalinspektor hier in Leipzig, Stainer?»
Stainer antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken. «Seit vorgestern. Vor dem Krieg war ich noch Kommissar. Und seit wann arbeiten Sie für uns, Prollmann?»
Der Arzt schaltete die Stirnlampe ein. «Seit Kriegsende.» Eine Pinzette in der erhobenen Rechten und einen Holzspatel in der erhobenen Linken musterte er Stainer, wie man ein Tier musterte, das man keiner bekannten Art zuordnen konnte.
Der Fotograf winkte sie von der Leiche weg und Stainer wich zum Sekretär aus. Der Arzt jedoch trat mitten ins Bild, spreizte dem Toten mit einer Pinzette die Nasenlöcher und leuchtete mit seiner Stirnlampe hinein. Den Spatel stieß er ein paarmal gegen die Nase und drückte ihn in Hals und Handrücken. Danach hob er die Arme des Toten und ließ sie wieder fallen.
«Die Nase ist gebrochen», sagte er schließlich, «die Leichenstarre löst sich längst. Der Mann ist seit mindestens fünfzig Stunden tot. Dem Gestank nach eher siebzig.»
Als er den fettleibigen Arzt so vor dem kleineren und schmaleren Toten stehen sah, begriff Stainer endlich: Dr. Doppelmann war ein Spitzname. Ob Prollmann wusste, dass man ihn so nannte?
Er deutete zu den dunklen Flecken auf dem Parkett. «Der kleinere stammt vom Blut aus seiner Nase, vermute ich, der größere von seinen nassen Hosen. Er hat sich eingenässt, als er an dieser Stelle starb, und der Mörder hat nicht einmal versucht, Blut und Urin wegzuwischen.» Er streckte Prollmann die Lupe hin.
Der Arzt winkte ab und rümpfte die Nase. «Nicht nur eingenässt.» Er schaukelte zu Stainer an den Sekretär und verstaute Lampe und Pinzette in seiner Arzttasche; den Spatel wickelte er in die Handschuhe. Er holte einen frischen Spatel und eine Art Reagenzglas aus der Tasche und drückte Stainer beides in die Hand. «Tun Sie mir den Gefallen und schaben Sie das geronnene Blut vom Parkett hier hinein.» Ohne Stainers Antwort abzuwarten, ging er zur Leiche zurück, kratzte mit einer Feile getrocknetes Blut unter den Fingernägeln heraus und streifte es am Rand eines verschließbaren Gläschens ab. Währenddessen sicherte Stainer das Blut vom Parkett.
«Also gut», sagte Prollmann, nachdem er Gefäße und Instrumente in seine Tasche gesteckt hatte. «Von mir aus können Sie ihn in die Gerichtsmedizin bringen lassen. Ich gucke ihn mir morgen genauer an.»
Stainer hielt seinem forschenden Blick stand und nickte langsam. «Und Sie kehren in die ‹Katze› zurück?», fragte er mit leicht spöttischem Unterton. «Nie gehört. Eine neue Bar?»
«‹Die verwandelte Katze›, eine Operette von Offenbach.» Der Arzt griff nach seinem Zylinder. «Wird im Neuen Theater aufgeführt. Amüsante Klamotte.» Mit dem Zylinder deutete er zum Toten hin. «Amüsanter jedenfalls als das hier.»
Nur eine Handbreite trennte ihre Stirnen in diesem Moment, und der Geruch seines Atems riss die letzten Schleier von Stainers verschütteter Erinnerung: Anis, Pfefferminz und Alkohol – so roch Absinth. Und so hatte der Atem einer der Ärzte gerochen, die ihn im Sommer 1916 im Lazarett gefesselt und mit Gebrüll und Elektroschocks «behandelt» hatten.
Blitzlicht tauchte Leiche und Vogelkäfig in grellen Schein, und Stainer stand wie festgefroren. Prollmann schloss seine Tasche und machte Anstalten zu gehen, er stülpte sich den Zylinder auf den großen Schädel und riss die Tasche vom Sekretär. «Wenn ich mit ihm fertig bin, werde ich Ihre Mordthese widerlegen, Stainer. Oder bestätigen.» Mit den in die Handschuhe gewickelten Spateln zielte er auf den Papierkorb und warf. Obwohl er direkt davor stand, traf er nur den Rand und sein Abfall fiel aufs Parkett.
Leise fluchend stellte er die Tasche wieder auf dem Sekretär ab, ging ächzend in die Hocke und legte Handschuhe und Spatel in den Papierkorb. Plötzlich stutzte er, schob den Papierkorb beiseite und zupfte umständlich an einer Papierecke, die zwischen Wand und Sekretär herausschaute. «Ein Briefkuvert.» Er hielt sich am Sekretär fest und zog sich stöhnend hoch.
Schnaufend las er Absender und Empfänger auf dem Kuvert. «Aus Dinant in Belgien.» Er reichte dem immer noch erstarrten Stainer das Kuvert. «Dinant», wiederholte er. «War kein Ruhmesblatt für uns, was, Stainer?» Er griff wieder nach seiner Tasche, tippte sich an den Zylinder und ging.