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S
tainer überquerte den Rathausring und schlenderte durch die Grünanlage entlang des Neuen Rathauses in Richtung Petersstraße. Er hielt nach einer Kneipe Ausschau, denn zu Hause – da machte er sich nichts vor –, zu Hause in der Moltkestraße würde ihm die Decke auf den Kopf fallen. Um sein Kätzchen musste er sich keine Sorgen machen: Seine Vermieterin hatte die kleine Eule ins Herz geschlossen und würde sich schon um sie kümmern.
Seine Gedanken kreisten unentwegt um den fetten Gerichtsmediziner. Was hatte dieser Prollmann plötzlich bei der Polizei zu schaffen? Stainer erinnerte sich nicht, ihn jemals in Leipzig gesehen zu haben, doch was hieß das schon bei seinem kranken Gedächtnis. Prollmann war damals Psychiater gewesen – seit wann obduzierten Psychiater Leichen?
Zwei Reiter trabten Stainer entgegen, Streifenpolizisten. Obwohl er sie nicht kannte, grüßte er sie. Die Polizisten tippten sich an die Ränder ihrer Pickelhauben, weil sie vermutlich freundliche Menschen waren – wie die meisten Leipziger –, nicht, weil sie wussten, wer er war. Das konnte sich am dritten Tag seines neuen Lebens als Polizist noch nicht herumgesprochen haben.
Er trat aus der Grünanlage, überquerte die Markgrafenstraße und bog in die Petersstraße ein. Unerwartet viele Passanten tummelten sich dort, die meisten kamen aus der Richtung des Marktplatzes. Staunend blickte er nach rechts und links. Was hatten bloß all die Leute an einem Mittwochabend in der Innenstadt zu tun? Vielleicht ein neuer Film im Lichtspielhaus,
vielleicht eine politische Kundgebung. Davon hatte Leipzig viele gesehen seit Kriegsende. Das wusste Stainer von seinen Eltern.
Er bog ins Preußergäßchen ein. Ein junger Mann in feldgrauem Mantel und mit lederner Schildmütze lehnte gegen eine Hauswand und plauderte mit einer Frau, die neben ihm aus dem Fenster schaute und rauchte. Er nickte Stainer zu, wahrscheinlich, weil auch der einen alten Uniformmantel trug. Stainer schaute ihm einen Wimpernschlag zu lange ins Gesicht, und schon nahm es die Züge des toten Murrmanns an. Er ging schneller und sah zu, dass er den Feldgrauen hinter sich ließ.
Wieder kamen ihm Uniformierte entgegen – einer schob einen Leierkasten vor sich her, drei trugen Trompeten und Posaunen, zwei Frauen hatten Gitarren geschultert. Das musste eine Einheit der Heilsarmee auf der Suche nach verlorenen Seelen und hungernden Bettlern sein.
Das Café Rheingold
hatte geschlossen. Stainer ging weiter und blieb zwischen der Lustigen Witwe
und den Bierstuben Zum Zillertal
stehen. Er entschied sich für die Bierstuben, weil die Kneipe größer war als die Lustige Witwe
und lauteres Gelächter und mehr Stimmen hinter den Fenstern lärmten, als hinter denen der kleinen Bar.
Je größer die Menschenmenge war, in die Paul Stainer eintauchen konnte, desto leichter fiel ihm das Nachdenken. Nirgendwo konnte man nach seiner Erfahrung ungestörter allein sein als unter vielen Menschen.
Er trat ein. Den toten Murrmann ließ er auf der Gasse draußen, den dicken Gerichtsmediziner konnte er nicht daran hindern, mit ihm zu gehen. Stainer bildete sich ein, seine Nähe körperlich zu spüren. Das erschreckte ihn – hatte die Begegnung mit Prollmann ihn so sehr erschüttert, dass er seinen Sinnen nicht mehr trauen konnte?
Stickige aber erfreulich warme Luft schlug ihm entgegen, dazu Stimmengewirr und Tabakduft. Rauchschwaden schwebten unter tiefhängenden Lampen aus blau-weißem Porzellan. Kellnerinnen in atemberaubend weit ausgeschnittenen Dirndlkleidern balancierten Bierkrüge auf Tabletts durch den großen Schankraum. Die meisten Tische waren besetzt und der halbe Tresen auch.
Im Vorübergehen fiel Stainers Blick auf ein Plakat an einer der Gewölbesäulen: Die SPD
lud zu einer Versammlung am kommenden Sonntag im Volkshaus ein. Ob er bis dahin Murrmanns Mörder hinter Gitter gebracht haben würde?
Stainer rutschte auf den mittleren von drei unbesetzten Thekenhockern, hängte seinen Hut an einen Haken unter dem Tresen und knöpfte Mantel und Anzugjacke auf. Ein Kellner in Lederhosen und rot kariertem Hemd begrüßte ihn in breitestem Sächsisch und fragte ihn, was er trinken wolle. Ehe Stainer überhaupt zum Nachdenken kam, hatte er schon ein Bier bestellt.
Machte nichts – eines würde schon nicht schaden.
Er holte sein Zigarettenetui aus der Manteltasche, steckte sich eine Salem an und zog den Ascher heran. Der fette Prollmann schien auf dem Hocker links neben ihm zu sitzen, so deutlich sah er ihn vor sich. Als er ihm im Juli 1916 in die Hände fiel, war der Mann noch Psychiater gewesen, Stainer war sich jetzt ganz sicher. An einer Sammelstelle für Leichtverwundete hatte er ihn aus Hunderten Männern geangelt und zu einem Lazarett auf einem Schloss in einem kleinen Ort namens Vélu bringen lassen.
Warum? Weil die Feldärzte im Sammellager keinerlei Verletzungen an ihm gefunden hatten. Stainer hatte aus keiner Wunde geblutet, hatte nur ein bisschen gezittert. Und ein
bisschen gekrampft. Und ein bisschen halluziniert. Und ja – laufen konnte er auch nicht mehr richtig.
Der Lederhosenmann stellte das Bier vor ihn hin und sagte: «Zum Wohl, der Herr.» Stainer dankte und nahm einen kräftigen Schluck. Schloss Vélu, dachte er, eigentlich ein schöner Name.
War er damals nicht auch ein bisschen taub gewesen? Er schüttelte den Kopf, denn das war nun bedeutungslos, und nahm noch einen Schluck. Er konnte wieder hören, konnte auch wieder laufen und vor allem: Er war wieder Polizist. Und dieser Prollmann hatte hoffentlich ein ähnlich miserables Gedächtnis wie er. Wenn sich etwas zum Vergessen eignete, dann doch wohl der Krieg, oder? Der Krieg, eine treulose Frau und einer wie Prollmann. «Prost», murmelte Stainer und trank noch einen Schluck Bier.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass vom linken Ende der Theke jemand zu ihm herüberstarrte. Das machte ihn nervös, er selbst blickte nach rechts und tat, als würde er das Gemälde an der Türwand betrachten, eine Berglandschaft mit Hirsch, zwei Jägern und Bergsee. Bleib bloß auf deinem Thekenhocker sitzen, dachte er, komm bloß nicht auf den Gedanken, mich anzusprechen.
Das Gemälde war ganz hübsch, ein bisschen kitschig vielleicht, doch man konnte sich so richtig hineinsinken lassen. Stainer betrachtete die zahlreichen Einzelheiten – den See, die Hüte der Jäger, ihre Gewehre, die Wolkenformationen, ihre Spiegelungen im See, die Eichen auf der Bergwiese –, er verlor sich in ihnen und stellte sich vor, einer der Jäger zu sein.
Besonders gut gefiel ihm der Hirsch, ein schwarzbrauner Koloss mit einem Geweih lang wie Geschützrohre. Dieser Koloss bewegte sich plötzlich, und zwar auf ihn zu!
Stainer hielt den Atem an. War es eben noch taghell über See, Bergwiese und Hirsch gewesen, verschwanden Sonne und Wolken nun von einem Augenblick auf den anderen, und jäh brach dunkelste Nacht über die idyllische Landschaft herein. Blitze zuckten, Donner grollte, der Thekenhocker schien zu erbeben.
Stainer schloss die Augen. Nein, das war kein Gewitter – Granaten detonierten, explodierende Geschosse verursachten die Blitze, und er, der Jäger, wurde zum Gejagten und stürzte sich in den See.
Stainer schwamm wieder um sein Leben. Flammen erhellten plötzlich die Nacht, und Flammen loderten, wohin er sich wandte. Überall donnerte, rauschte, heulte und krachte es. So schnell er konnte, schwamm er auf die Umrisse eines Bootes zu. Seine Kleider, schwer von Wasser, drohten ihn zum Seegrund hinabzuziehen. Er blickte hinter sich – im Schein der Flammen glitt der Koloss ins Wasser, blökte, röhrte und brüllte. Seine Geschützrohre richteten sich auf Stainer, Schusslärm knatterte jetzt rings um ihn, zerwühlte den See. Kein Hirsch, eine monströse Maschine pflügte durchs Uferwasser, ein englischer Panzer. Handgranaten detonierten, schwarzer, stinkender Qualm hüllte Stainer ein.
Der zweite Jäger beugte sich aus einem überfüllten Boot und streckte die Hand nach ihm aus. «Greif zu, Paul, greif doch zu!» Eine Granate rauschte heran und Stainer griff nach der Hand des Hauptmanns, umklammerte sie, hielt sie fest, war entschlossen, sie nie wieder loszulassen …
«Herr Major?»
Er riss die Augen auf, ließ das fest umklammerte Bierglas los, fuhr herum. Ein Mann stand neben dem Thekenhocker links von ihm, hemdsärmlig und mit Krawatte, Weste und Hut. Eugen Brand.
«Ich hätte nicht gewagt, Sie zu stören, Herr Kommissar, doch sie schwankten plötzlich und ich hatte Sorge, Sie könnten kollabieren und vom Barhocker stürzen.»
«Kriminalinspektor. Ich fall von keinem Hocker.» Verwirrung und Scham überwältigten Stainer, er schaute sich um – der Lederhosenkellner sah schnell weg, bevor ihre Blicke sich treffen konnten. «Mir geht es gut», Stainer wandte sich wieder an Brand. «Lassen Sie mich in Ruhe.»
«Es ist warm hier, nicht wahr?» Brand musterte ihn besorgt. «Sie sollten den Mantel ausziehen, Herr Kriminalinspektor Stainer.»
«Und Sie sollten mich in Ruhe lassen, Herr Doktor.» Stainer wischte sich den Schweiß von der Stirn, der war klebrig und kalt. Irgendwie hatte er kein Glück mit Ärzten. Er blickte wieder zum Bild hin – eine Berglandschaft mit Hirsch, Jägern, Bergsee und Wolken, weiter nichts. Er griff nach seinem Bier und leerte das halbe Glas mit einem Zug.
«Ich kann nachfühlen, wie hart es für Sie sein muss.» Brand, der nun mit gedämpfter Stimme sprach, zog den Thekenhocker heran und setzte sich neben Stainer. «Wenn ich gewusst hätte, dass Sie leben, wenn Edith nicht ganz und gar von Ihrem Tod überzeugt gewesen wäre – ich hätte mich doch niemals auf Ihre Frau eingelassen!» Stainer wusste nicht, wohin mit sich. Am liebsten hätte er laut geschrien.
«Bitte hören Sie mir zu, Herr Inspektor Stainer.» Jetzt beugte der Kerl sich auch noch zu ihm herüber. «Ich war in einer Ausnahmesituation, glauben Sie mir.» Zu allem Überfluss holte die Lederhose Brands Weinglas vom Ende der Theke und stellte es vor ihn hin. Es war fast leer.
Stainers Blick fiel auf den Hut des Mannes, der sich ungefragt neben ihn gesetzt hatte – ein moderner Fedora, hellgrau
wie seiner. Fassungslos und wütend zugleich drückte er seine Zigarette aus und griff wieder nach seinem Bierglas.
«Meine Frau und ich, wir hatten zwei Söhne. Beide sind am selben Tag gefallen. An der Marne, im April 15.» Jetzt erst merkte Stainer, dass Brand mit schwerer Zunge sprach. Die Lederhose füllte ihm das Weinglas und schaute danach Stainer fragend an. Der schüttelte den Kopf, trank sein Bier aus und griff nach seinem Hut.
«Bitte hören Sie mir zu, Herr Major. Meine Frau – meine Frau ist im gleichen Jahr gestorben, 1915. Ich war in einer Ausnahmesituation, verstehen Sie?» Er flüsterte und schien ihn mit seinem Blick fesseln zu wollen.
Stainer rutschte vom Thekenhocker, musste sich aber sofort am Tresen festhalten, um das Gleichgewicht zu halten.
«Edith ging es ähnlich, als ich sie Weihnachten vor drei Jahren kennenlernte.» Brand sprach einfach weiter. «Zwei Menschen im Ausnahmezustand, Herr Major! Ist es so schwer zu verstehen, dass wir uns zusammengetan haben?»
Zum ersten Mal schaute Stainer ihm in die Augen: Brand guckte wie ein kleiner Junge, der aus Versehen die Briefmarkensammlung seines Vaters in den Ofen geworfen hatte. ‹Ausnahmezustand›, wiederholte er in Gedanken – was war eigentlich das Gegenteil eines Ausnahmezustandes? Und wann hatte er es zuletzt erlebt?
«Es tut mir alles so unendlich leid», flüsterte Brand. Hatte er etwa Tränen in den Augen?
Seufzend rutschte Stainer wieder auf seinen Thekenhocker und bestellte einen Kaffee.