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D
ie Elektrische rollte bereits an, die Schaffnerin schaute Heiland noch immer erwartungsvoll in die Augen. Als der sich nicht rührte, machte sie eine ungeduldige Handbewegung. «Fünfzehn Pfennige kostet die Fahrt», sagte sie.
Heilands Gedanken überschlugen sich. Er hatte die Jacke im Zimmer mit dem Wandtresor ausgezogen, natürlich! Was für ein gottverdammter Mist!
«Kein Geld dabei, junger Mann?» Die Schaffnerin zog die Brauen hoch, die Blicke einiger Fahrgäste trafen Heiland, und er hörte endlich auf, seinen Pullover abzutasten. Stattdessen durchwühlte er seine Hosentaschen, wo er weder einen Groschen noch einen Pfennig fand.
Schade, dass er die Schaffnerin nicht kannte. Er blickte zum Führerstand. Wenn doch bloß seine Tante, die Straßenbahnfahrerin, dort gestanden hätte! Doch ein Mann hantierte an den Armaturen herum, und auch den kannte er nicht. Verfluchter Mist!
Die Schaffnerin musterte ihn mit hochgezogenen Brauen und zur Schulter geneigtem Kopf. «Könnt mich in den Arsch beißen.» Heiland versuchte zu feixen. «Hab glatt meine Jacke in der Kneipe vergessen, samt Börse.» Es fiel ihm nicht schwer, den Zerknirschten zu geben. «Mist, verdammter!»
«Na, dann steigen Se mal an der nächsten Haltestelle wieder aus, junger Mann», sagte die Schaffnerin, «dann hamses nich so weit zurück zur Kneipe.»
Heiland nickte, bedankte sich und wusste selbst nicht, wofür.
Er blieb auf der Fahrerplattform stehen, umklammerte eine Dachstange und hielt sich daran fest, als würde er ohne diesen Halt im Boden versinken müssen.
Er hatte tatsächlich seine Jacke in der Villa liegen lassen! Konnte das wahr sein? Fassungslos stierte er in die Dunkelheit hinaus. Sie hing dort über einem Stuhl, natürlich! Im Zimmer, in dem sie das blaue Bild mit der Braut abgehängt hatten. Er schloss die Augen und presste die Stirn gegen die kühle Dachstange. Seine Geldbörse steckte in der Jacke, seine Papiere, seine Schlüssel, alles. Und ein paar Schritte von seiner Jacke entfernt lag wahrscheinlich ein Toter. Oder ein Angeschossener.
«Worauf wartense?!», rief die Schaffnerin hinter ihm. Heiland zuckte zusammen, riss die Augen auf und hob den Blick – die Elektrische stand. Er sprang auf die Straße, wich einem schimpfenden Radfahrer aus, der ohne Licht fuhr, und lief stadteinwärts.
«Deine Jacke hängt in einer Villa, in der eingebrochen und herumgeballert wurde», sagte er laut und klatschte sich an die Stirn. «Die Polente braucht nur in deine Jackentasche greifen und die Geldbörse herausziehen, dann weiß sie, dass Max Heiland mit von der Partie gewesen ist. Wie dämlich kann man denn sein!» Wieder schlug er sich gegen die Stirn, diesmal fester und öfter. «Scheiße!», brüllte er. «Verfluchte Scheiße!»
Gehetzt spähte er nach allen Seiten. Von der anderen Straßenseite schaute ein Paar zu ihm herüber und ging sofort schneller. Heiland bog in die Friedrichstraße ein. Die Kälte kroch ihm in die Glieder. Ausgeschlossen, nach Hause zu gehen! In Stötteritz wartete womöglich schon die Polente auf ihn. Doch wohin denn dann? Wohin bloß?
Zu seiner Tante! Eine andere Möglichkeit sah er nicht.
Also los und schneller, auf zur Lieblingstante und
Lieblingscousine! Sie wohnten auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs in der Neustadt. Heiland ließ sich wieder in einen Dauerlauf fallen, damit ihm warm wurde, und als er an der Michaeliskirche immer noch fror, legte er einen Spurt hin.
Auf der nächtlichen Gohliser Straße herrschte noch reger Verkehr, Automobile fuhren in beide Richtungen. In einem glaubte Heiland, Uniformierte zu sehen – er sprang in einen Hauseingang, hetzte ein paar Stufen aufwärts und drückte sich mit klopfendem Herzen gegen die Wand. Er schloss die Augen, dachte an Christel, sah sie vor sich, wie sie die Kleine an sich drückte und von Polizisten mit gezückten Pistolen umzingelt war. «Scheiße! Scheiße! Scheiße!» Er wischte sich die Tränen ab.
Auf der Gohliser bremste kein Wagen, um ihn genauer ins Auge zu fassen, ihn, das Angstbündel im Hauseingang. Heiland wankte die Stufen wieder hinunter, ging weiter, langsamer jetzt. Bloß nicht auffallen, dachte er, bloß keinen Verdacht erregen! Bald erreichte er das Hauptzollamt und tauchte in die Innenstadt ein.
Um den Hauptbahnhof schlug er einen Bogen, denn dort patrouillierten um diese Zeit gern berittene Polizeistreifen. Und wusste er denn, ob er nicht schon zur Fahndung ausgeschrieben war?
Er dachte an Joseph, an den Einarmigen in dem Mercedes Cardan, an die zehntausend Mark und an die alte Mauser-Pistole; die hatte er in den Vorgarten geworfen, als er aus der Villa gerannt war. Und dann dachte er wieder an Christel und seine Tochter. «Mein armes Mäuschen», flüsterte er. Ein Zittern durchlief ihn. «Was habe ich bloß getan? Wie konnte ich mich nur mit diesen Leuten einlassen?» Er verfluchte Krüger, der ihn dazu überredet hatte.
Über eine Stunde brauchte er, bis er endlich den
Johannisplatz erreichte und in die Salomonstraße einbog. Seine Tante wohnte schräg gegenüber der Schwachsinnigenschule, ganz oben in einem alten vierstöckigen Mietshaus. Als Heiland die Klinke der Haustür drückte, ließ sie sich problemlos öffnen.
Zum Glück ist der Onkel noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt, ging es Heiland durch den Kopf, während er im dämmrigen Schein des Treppenhauslichtes die Stufen ins vierte Obergeschoss hinaufstieg. Den mochte er nämlich nicht, und der würde ihn auch ganz bestimmt nicht in die Wohnung lassen.
Heiland dachte nach. Wie sollte er seiner Tante Josephine sein nächtliches Auftauchen erklären? Als er vor ihrer Wohnungstür stand, wusste er, was er ihr erzählen würde. Im Erfinden von Geschichten machte ihm so schnell keiner was vor.
Sigurd und Josephine König
stand auf dem weiß emaillierten Türschild. Sollte er klingeln oder klopfen? Er entschied sich, zu klopfen, denn während die Tante sicher noch wach sein würde, schliefen die Kinder bestimmt schon, und die Türglocke würde sie eher wecken als sein Klopfen.
Das Treppenhauslicht erlosch, Heiland klopfte, erst scheu, dann ein wenig lauter. Im Flur hinter dem Türfenster flammte Licht auf, zaghafte Schritte näherten sich. «Wer klopft denn da so spät noch?», fragte eine junge Frauenstimme.
«Ich bin’s, Mona, der Max.»
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür wurde geöffnet, seine siebzehnjährige Cousine stand im Nachthemd vor ihm. «Was ist denn mit dir los?» Sie zog ihn in die Wohnung.
«Was machst du denn an der Wohnungstür, Monika?!» Die strenge Stimme der Tante – sie trat aus der Küche, kochte wahrscheinlich gerade für morgen vor. «Du, Max? Um die Zeit?»
Sie staunte ihn an, kam näher, trocknete die Hände an der Schürze. Mit gerunzelten Brauen musterte sie ihn. «Warum bist
du denn so blass? Du zitterst ja! Und warum hast du keine Jacke an?»
Die Kinderzimmertür öffnete sich, zwei seiner drei Cousins blinzelten aus dem dunklen Zimmer. «Was ist mit deinem Auge los?», sagte der Jüngste. «Das ist ja ganz dick.»
«Nur ein Boxer, der niemals boxt, kriegt keine dicken Augen.» Heiland strich ihm durchs Haar, und ein Grinsen gelang ihm. Und dann, an seine Tante gewandt. «Ich habe ein kleines Problem, Tante Fine.»
«Ist was mit Christel?»
Er nickte. «Ich erzähl’s dir unter vier Augen, ja?»