24
D er Mannschaftswagen tuckerte von Haus zu Haus und der Lichtkegel von Kupfers Taschenlampe wanderte von Hausnummer zu Hausnummer. Es war weit nach Mitternacht. Der Motor stotterte und manchmal ging er aus. Es dauerte Stainer jedes Mal viel zu lange, bis der Kollege am Steuer ihn wieder zum Anspringen brachte.
Hinter sich hörte er, wie die Kollegen ihre Waffen entsicherten. Wieder ärgerte er sich, das Polizeiamt am Abend ohne seine Dienstpistole verlassen zu haben. Das würde ihm so schnell nicht mehr passieren.
«Hier ist es», sagte Kupfer, als der Lichtschein ein Schild mit der 17 aus dem Dunkeln einer Hauswand riss. Kupfer schaltete die Lampe aus, der Fahrer hielt den großen Kraftwagen an. Der Motor blubberte noch ein paarmal und verstummte schließlich.
Stainer drehte sich nach den Beamten auf den Rückbänken um. «Drei Mann hinter das Haus an Keller und Gartentüren», befahl er. «Je zwei Mann an die Schmalseiten und die Vorderfront. Möglichst lautlos, meine Herren, und Schusswaffengebrauch nach Vorschrift. Achten Sie auch auf Fenster und Balkone.» Er wandte sich an den Oberwachtmeister. «Wenn alle Stellung bezogen haben, kommen Sie zu mir an die Haustür, Kupfer. Dann gehen wir gemeinsam rein.»
Stainer griff sich die Jacke des Gesuchten, alle stiegen aus, elf Mann insgesamt. Lichtkegel und Schatten huschten rechts und links in den dunklen Vorgarten und um die Hausecken. Stainer schlich zur Haustür, knipste seine Lampe an, beleuchtete die Namensschilder: Max Heiland wohnte im Obergeschoss.
Er versuchte, sich zu erinnern, wann er etwas in der Art zuletzt gemacht hatte. Dunkel schwante ihm der Sturm auf ein Stadthaus nach einem Banküberfall im Herbst 1913, doch klare Bilder gab seine Erinnerung nicht frei. Kupfer bog um die Ecke, zog seine Waffe und winkte. Es ging los.
Eine Türglocke gab es nicht, also hieb der Oberwachtmeister mit der Faust gegen die Haustür. Nichts rührte sich, kein Licht flammte hinter den Fenstern des Erdgeschosses auf. Kupfer klopfte heftiger. «Aufmachen! Polizei!»
Stainer richtete seine Lampe auf die fremde Jacke. Sie hatte auf einem Stuhl im ersten Obergeschoss der Mordvilla gelegen – eine Armlänge vor einem Wandtresor, zwei Armlängen neben einem Schweißgerät und vier Schritte entfernt von einer männlichen Leiche. Er versuchte, sich die Gemütsverfassung eines Einbrechers vorzustellen, der seine Jacke mit Hausschlüssel, Brieftasche und Papieren am Ort des Einbruchs zurücklässt. Ein Amateur? Ein auf frischer Tat überraschter Profi? Oder ein Mann in Panik?
Weil sich im Inneren des kleinen Hauses nichts rührte, zog Stainer den Schlüssel aus der Jacke und schloss auf. Kupfer fand einen Lichtschalter, es wurde hell. Hinter dem Oberwachtmeister her stieg Stainer eine Holztreppe hinauf.
Er dachte an das elegante Vestibül der Villa in der Artilleriestraße und an die breite Treppe dort – Welten trennten die Mordvilla und das Haus des wahrscheinlichen Mörders.
Unten wurde eine Tür aufgerissen, Stainer und Kupfer fuhren herum – ein graubärtiger Mann in Schlafanzug starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen herauf. «Was zur Hölle haben Sie in meinem Haus verloren?»
«Polizei!» Kupfer machte kehrt, während Stainer seinen Dienstausweis zückte. «Kennen Sie einen Mann namens Max Heiland?» Stainer hielt Kupfer am Arm fest und zeigte auf seine Dienstwaffe. Der zog sie aus dem Holster, gab sie ihm und ging hinunter zu dem schlaftrunkenen Hausbewohner.
«Mein Sohn», hörte Stainer den Mann sagen, «was ist mit ihm?» Dann stand er vor einer Tür, hinter der ein Kleinkind plärrte. Er entsicherte Kupfers Waffe, verbarg sie unter der Jacke und klopfte. Schritte eilten herbei, und eine junge Frau im Morgenmantel öffnete.
«Sind Sie Frau Heiland?» Sie nickte, erkannte die Jacke über Stainers Arm und schlug die Hand vor den Mund. «Ich bin Paul Stainer, Kriminalinspektor. Ist Ihr Mann zu Hause?»
«Um Gottes willen!» Sie starrte die Jacke an wie ein Menetekel. «Max ist doch nichts zugestoßen?» Ihre Stimme brach.
«Das wissen wir nicht.» Stainer zeigte ihr seinen Dienstausweis. «Ihr Mann ist also nicht zu Hause?» Sie schüttelte den Kopf, Tränen kullerten ihr über die Wangen. «Darf ich mich selbst davon überzeugen?» Kupfer polterte die Treppe herauf, die erschütterte Frau trat zur Seite. Stainer zog die Waffe unter der Jacke heraus und durchsuchte, dicht gefolgt vom Oberwachtmeister, die kleine Wohnung. Außer einem quäkenden Kleinkind entdeckten sie niemanden.
«Ist meinem Mann etwas zugestoßen?» Die junge Frau sank auf einen Küchenstuhl und legte das schreiende Kind an. «Bitte, reden Sie mit mir!», schluchzte sie. «Wo ist Max?»
Kupfer mied ihren Blick. Stainer räusperte sich und zückte Stift und Notizbuch. «Wir wissen nicht, wo ihr Mann ist, wie gesagt, wir wissen nur, wo er gewesen sein muss.» Er deutete auf die Jacke. «In einer Villa in Gohlis, in der heute Abend eingebrochen wurde.»
«Was?» Die Frau wirkte ehrlich schockiert. «Eingebrochen …?»
Stainer nickte. Der Anblick der weinenden Mutter und des an ihrer Brust nuckelnden Kindes schnürte ihm das Herz zusammen. Mit stummer Geste schickte er Kupfer zu den anderen hinunter, denn der Mann, dem die Jacke gehörte, konnte jeden Moment nach Hause kommen.
Er atmete tief und sah der Frau ins nasse Gesicht. «Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen, Frau Heiland?»
«Vor ungefähr sechs Stunden», antwortete sie mit tränenerstickter Stimme. «Er hat uns umarmt beim Abschied, wollte zu einer Verabredung mit seinem Trainer.»
«Wie heißt dieser Mann, und wo wohnt er?»
«Hans Jänig.» Sie diktierte ihm die Adresse. «Bitte, Herr Inspektor», ihre Stimme brach erneut, «sagen Sie mir die Wahrheit – was ist meinem Max zugestoßen?»