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G
emurmel drang aus dem Konferenzsaal der Kriminalabteilung. Stainers Knie waren weich, als er auf die offene Tür zuging. Er schwebte natürlich nicht, doch ein wenig fühlte es sich so an. Heute noch würde er Edith sehen – das machte ihn froh und nervös zugleich.
Stainer trat in den Saal, die Abteilung schien bereits vollständig versammelt. Die Szenerie kam ihm unwirklich vor, als würde er eine Theaterbühne betreten. Er atmete tief durch. Gut zwanzig Beamten hatten sich im Saal versammelt, die meisten in Uniform. Von den jüngeren kannte Stainer nicht einen einzigen. Seine Gedanken flogen zum Abend voraus, statt sich für den Auftritt zu sammeln, den er gleich vor den Kollegen hinzulegen hatte. Polizeirat Kasimir erhob sich und bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick, bevor er die versammelten Beamten der Kriminalabteilung begrüßte.
Heinze und Kupfer hatten ihm einen Platz zwischen sich in der ersten Stuhlreihe reserviert; Stainer setzte sich und versuchte, seine aufgescheuchten Gedanken ins Hier und Jetzt zu zwingen. Neben Kupfer saß ein ehemaliger Wachtmeister, ein dunkelblonder, jugendlich wirkender Mann namens Junghans, der gestern Abend noch uniformiert hinter ihm im Mannschaftswagen gekauert hatte. Kubitz hatte ihn am Morgen überraschend zum Kommissaranwärter gemacht und Stainer als Assistenten zugeteilt.
«Ungeheuerlich!», begann Kasimir gleich nach der Begrüßung. «Vier Morde innerhalb von zehn Tagen, meine Herren!
Das hat es in Leipzig noch nie gegeben, seit ich bei der Polizei bin. Das ist ungeheuerlich!» Die weit in seinen schütteren mattblonden Haarschopf hineinreichenden Geheimratsecken glänzten schweißig.
Mit näselnder Stimme fasste er zusammen, was er aus Stainers und Kupfers ersten Kurzberichten schon wusste. Dabei hob er Jagodas hohes Ansehen als Gymnasialprofessor hervor, vergaß auch nicht zu erwähnen, dass er als Kriegsheld das Eiserne Kreuz I. Klasse getragen hatte, und betonte die Wichtigkeit von Männern wie jenem, in dessen Villa gestern Abend die Toten gefunden worden waren.
Während er das alles vortrug, stolzierte er mit durchgebogenem Kreuz und auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab und bewegte sich so steif, als hätte er einen Billardqueue verschluckt, dessen Spitze ihm zu allem Überfluss auch noch im Hals stecken geblieben war.
«Der Fabrikant Ludwig Weingarten gehört zu den wirtschaftlichen Leistungsträgern unserer Stadt», erklärte der Polizeirat, «und sein Sohn war ein anerkannter Jurist, der eine große Zukunft vor sich hatte.» Kasimir sprach jetzt von einem der Toten, die sie in der Villa in der Artilleriestraße gefunden hatten, dem jüngsten Sohn des Besitzers. Der hatte als Assessor im Reichgericht gearbeitet, wie Stainer inzwischen wusste.
«Der Polizeidirektor hat eine Informationssperre verhängt», schloss Kasimir. «Kein Wort über die Mordfälle von gestern Abend darf an die Öffentlichkeit dringen, meine Herren, schon gar nicht an die Presse. Wir wollen die Bürger unserer Stadt nicht unnötig verunsichern.»
Aus dem Augenwinkel sah Stainer, wie Heinze seinen Stenoblock umblätterte. Der Mann schien jedes Wort des Polizeirates mitzuschreiben.
Kasimir richtete seinen strengen Blick auf Stainer. «Der Herr Staatsanwalt hat mich beauftragt, Ihnen auszurichten, dass er eine zeitnahe Aufklärung des Falles erwartet, meine Herren.» Sein Blick wurde milder und blieb auf Heinze ruhen. «Eines dieser scheußlichen Verbrechen konnte ja zum Glück durch den Fleiß und die Hartnäckigkeit unseres frischgebackenen Kommissars Rudolph Heinze bereits aufgeklärt werden.» Kasimir nickte in Heinzes Richtung. «Danke, Herr Kollege, gut gemacht.»
Von hinten streckten sich Hände an Stainer vorbei und klopften Heinze auf die Schulter. «Glückwunsch, Rudi», raunte es von allen Seiten, «Gratulation, weiter so.» Stainer erinnerte sich gut an Gesicht und Namen von Jagodas Mörder: Heinzes Männer hatten Ernst Hummels am Montagmorgen in Handschellen an ihm vorbeigezerrt.
«Unser neuer Kriminalinspektor wird uns nun auf den aktuellen Stand der Ermittlungen bringen», sagte Kasimir und stelzte zurück zu seinem Platz. «Sie haben das Wort, Herr Kollege.»
Stainer trat vor die Korkwand mit den Tatortfotos und zwischen die beiden Tische, auf denen sein Assistent und Kupfer die bisher sichergestellten Spuren und Fundstücke angeordnet hatte. «Leider muss ich Sie korrigieren, Herr Dr. Kasimir», begann er, «tatsächlich haben wir es mit fünf Morden zu tun.» Er deutete auf die Fotos von Murrmanns Leiche. «Auch dieser Mann ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.»
Ein Raunen ging durch die Reihen der Kollegen, und Dr. August Kasimir blaffte: «Was Sie uns sicher gleich beweisen werden!» Er setzte einen Zwicker auf, was sein hohlwangiges Gesicht noch unerbittlicher aussehen ließ.
Stainer ging zur linken Korkwandseite, wohin Junghans und
Kupfer die Fotos aus der Murrmann-Wohnung gehängt hatten. «Robert Murrmann, fünfunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Berlin.» Er nahm das großformatige Foto ab, auf dem man den bedauernswerten Mann neben dem Vogelkäfig hängen sah. «Aufgehängt an einem Treppengeländer in der Wohnung seines Zwillingsbruders in der Albertstraße. Zum Zeitpunkt, als dieses Foto geknipst wurde, war er bereits vier oder fünf Tage tot.» Er nahm weitere Fotos der Leiche von der Wand, ging zu Kasimir und reichte sie ihm. «Was auf diesen Fotos aussieht wie ein Suizid, ist in Wirklichkeit ein Mord gewesen.»
Die Kollegen raunten und tuschelten, Kasimir reichte die Bilder weiter und schüttelte unwillig den Kopf, Heinze schrieb mit, und Kupfer und Junghans hingen aufmerksam an Stainers Lippen.
«Bitte beachten Sie den offenen Vogelkäfig, meine Herren, das Blut an den Fingernägeln des Toten – vor allem am Daumen – und das fleckige Parkett.» Nacheinander reichte er die entsprechenden Fotos in die erste Reihe und argumentierte dann ähnlich, wie am Abend zuvor Prollmann gegenüber.
«Murrmanns Bruder schließt einen Selbstmord kategorisch aus.» Stainer zählte die Gründe auf, die Johannes Murrmann ihm genannt hatte. «Und er hat recht – Robert Murrmann starb nicht in der Schlinge unter dem Treppengeländer, sondern ist auf dem Parkett ermordet worden, vor dem Sekretär. Er hat sich gewehrt und dem Mörder Gesicht oder Hände oder beides zerkratzt. Danach hat dieser ihn ans Treppengeländer gehängt. Wir müssen also von einem kräftigen Täter ausgehen, vielleicht auch von mehreren.»
Er nahm das Foto mit dem auffälligen Sohlenprofil von der Tafel, reichte es dem Polizeirat und wandte sich an Kupfer und Heinze. «Eine der gesicherten Fußspuren weist eine
Besonderheit auf, ein Stein oder Ähnliches im Absatzprofil. Da viele Personen gestern Abend die Wohnung betreten haben, müssen zunächst die Sohlen aller untersucht werden, bevor wir diese hier einem Täter zuordnen dürfen. Auch die Analyse der Fingerabdrücke steht noch aus. Dennoch wage ich jetzt schon die Behauptung: Was zunächst aussieht wie ein vorgetäuschter Suizid, der einen Mord vertuschen soll, ist in Wirklichkeit ein Mord durch Strangulation, den der Täter gar nicht vertuschen wollte …»
«Wie kommen Sie bloß auf so eine hanebüchene Geschichte?», rief der Polizeirat dazwischen. Sein langes, sonst so blasses Gesicht war auf einmal hochrot.
«… denn er hat nicht einmal versucht, den Urin und das getrocknete Blut vom Parkett zu wischen», fuhr Stainer ungerührt fort. «Das Blut untersucht Dr. Prollmann bereits im gerichtsmedizinischen Institut, um es mit dem unter den Fingernägeln des Toten zu vergleichen. Ich bin jetzt schon überzeugt davon, dass sein Bericht uns zwei unterschiedliche Blutgruppen liefern wird.»
«Seit wann kann man bei getrocknetem Blut die Blutgruppe bestimmen?», fragte Kasimir mit der Zuversicht des Wissenden, nahm seinen Zwicker ab und blickte Bestätigung heischend nach allen Seiten.
«Das machen die Kollegen in Berlin und Hamburg seit über einem Jahr, Herr Polizeirat», meldete Heinze sich zu Wort.
Und der neue, Junghans, ergänzte: «Die Italiener haben die Methode während des Krieges entwickelt.» Eine auffällige Narbe zog sich über seine linke Wange. «Professor Kockel von unserer gerichtsmedizinischen Fakultät hat sie letzten Sommer eingeführt. Ziemlich genial, erspart uns eine Menge Arbeit.»
«So? Die Italiener?» Kasimir runzelte die Stirn und spitzte
die Lippen. «Und Dr. Prollmann versteht sich darauf? Da bin ich ja mal gespannt.» Er schüttelte wieder den Kopf und das eher ungläubig als verblüfft. «Bitte kommen Sie endlich zu den Morden in der Weingarten-Villa, Herr Kollege Stainer!»
«In diesem Fall sind wir zum Glück erheblich weiter als im Mordfall Murrmann.» Die letzten beiden Worte betonte Stainer, bevor er sich zur rechten Seite der Korktafel wandte; das Briefkuvert mit dem Absender aus Dinant und das Foto von Mademoiselle Leclerc hatte er bewusst nicht erwähnt, denn er konnte sich selbst noch keinen Reim darauf machen. «Nach nur zwölf Stunden kennen wir bereits zwei Täter, und einen haben wir sogar schon erwischt, wenn man so will.»
Stainer deutete auf das Foto einer Leiche. «Dringend tatverdächtig ist Karl Krüger, vierundzwanzig Jahre alt, arbeitslos, wohnhaft in Stötteritz, Zuckelhäuserstraße. Bei uns aktenkundig seit Januar 1919. Anklage wegen Einbruchs, sechs Monate Gefängnis. Einige Handgranatensplitter und drei Kugeln haben ihn getroffen. Welche tödlich war, wird uns spätestens morgen die Gerichtsmedizin berichten. Der tote Krüger hielt eine Luger in der Hand, als man ihn gestern gefunden hat. Die Kollegen von der Wache in Stötteritz durchsuchen gerade seine Wohnung und Werkstatt.»
Stainer nahm die Jacke vom rechten Tisch. «Der zweite Täter hat uns freundlicherweise Jacke und Papiere am Tatort zurückgelassen. Max Heiland, fünfundzwanzig, arbeitslos, wohnhaft in Stötteritz, Naunhoferstraße, verheiratet, ein Kind. Wir fahnden nach ihm. Seine Frau weiß noch nicht, dass er unter dringendem Mordverdacht steht. Gestern Abend wähnte sie ihn bei seinem Boxtrainer. Sie hat mir seine sämtlichen Freunde, Verwandten und Bekannten und deren Adressen genannt, soweit sie die eben kennt. Wir haben heute Morgen bereits
angefangen, diese Liste abzuarbeiten, und werden gleich nach der Besprechung damit fortfahren.»
«Sorgen Sie dafür, dass alle Polizeiwachen in Leipzig sein Foto erhalten», befahl Kasimir. «Auch die ländlichen Außenstellen.»
«Habe ich selbstverständlich schon in die Wege geleitet.» Stainer unterdrückte seinen Ärger, legte die Jacke weg und nahm einen dieser neuartigen Zellophanbeutel vom Asservatentisch hoch, ein Werbeprospekt war hinter der Folie zu erkennen.
«Doch um Gottes willen keine öffentliche Fahndung!», rief Kasimir wieder dazwischen. «Die Presse darf nicht erfahren, dass wir den Mann suchen. Weiter!»
«Den Prospekt haben wir in Heilands Jackentasche gefunden», fuhr Stainer fort. «Es kündigt einen Auftritt des Berliner Kabarettisten Otto Reutter an, der gestern Abend in Barthels Hof stattfand.» Er nickte Kupfer zu, der am Morgen in Barthels Hof ermittelt hatte.
«Weingarten und Baumann haben die Veranstaltung gestern Abend besucht», sagte der Oberwachtmeister. «Und zwar in Begleitung einer blonden Dame.»
«Demnach haben die Täter also die Zeit der Veranstaltung genutzt, um in der Weingarten-Villa einzubrechen», schlussfolgerte Kasimir.
«Leider nicht, Herr Polizeirat», sagte Stainer. «Denn dann würden Weingarten und Baumann wahrscheinlich noch leben.» Er reichte den Prospekt in die Runde. «Die Veranstaltung dauerte von halb acht bis halb zehn. Die Täter sind gegen zehn in der Villa überrascht worden, wie wir aus den Angaben der Nachbarn schließen dürfen, die den Schusswechsel und den Explosionslärm gehört haben.»
«Außerdem können die Täter eigentlich gar nicht davon
ausgegangen sein, dass Herr Dr. Weingarten mit seinen Begleitern nach dem Kabarettabend in die Artilleriestraße kommt», meldete Heinze sich wieder zu Wort. «Die Villa gehört seinem Vater, er selbst wohnt nicht dort.»
«Rätselhaft, dieser Prospekt», sagte ein Kriminalkommissar, der für Einbruchsdelikte zuständig war, und viele Kollegen nickten. «Vielleicht haben die Täter es zuerst woanders probiert, in einer Villa, deren Besitzer tatsächlich bei dieser Veranstaltung waren.»
«Möglich, das würde erklären, warum sie so spät dran waren.» Stainer hob eine Pistole vom Tisch hoch. «Eine alte Mauser C 96, Kaliber neun mal neunzehn Millimeter.» Er präsentierte die Waffe. «Sie lag zwischen den Rosensträuchern des Vorgartens. Von zehn möglichen Patronen haben wir noch acht im Magazin gefunden. Morgen wissen wir, ob die anderen beiden in den Wänden beziehungsweise den Leichen stecken.»
Er wandte sich wieder der Korkwand zu und deutete auf ein weiteres Leichenfoto. «Von dem ermordeten Sohn des Villenbesitzers haben Sie schon gehört: Dr. Hans Weingarten, zweiunddreißig, Jurist und Assessor am Reichsgericht, wohnhaft in der Mozartstraße, verheiratet, zwei Kinder.» Er reichte das Foto in die Runde. «Der Mann lag in dem Salon, in dem die Einbrecher bereits ein Gemälde von der Wand genommen hatten, um an den Wandtresor dahinter zu gelangen. Nach einem ersten Überblick trafen ihn vier Kugeln.»
«Eigentlich doch ein geradezu klassischer Fall», unterbrach Kasimir erneut, der sich inzwischen wieder seinen Zwicker aufgesetzt hatte, um die Fotos zu betrachten. «Einbrecher werden auf frischer Tat ertappt und eröffnen das Feuer, um ihre Identität zu vertuschen.»
«So sieht es auf den ersten Blick in der Tat aus», erklärte
Stainer mit ruhiger Stimme, obwohl er innerlich kochte. «Was mich jedoch stutzig macht, ist die dritte Leiche. Sie lag im Erdgeschoss vor der Treppe, und zahlreiche Blutspuren sprechen dafür, dass der Mann die Stufen hinuntergekrochen sein muss, bevor er starb. Aus den Papieren, die wir bei ihm gefunden haben, kennen wir seinen Namen: Heinrich Baumann, fünfunddreißig. Er wohnt in Berlin und war bewaffnet, als er die Villa betrat.» Er hob einen Remington-Revolver vom Tisch hoch. «Mehr wissen wir noch nicht über ihn.»
«Außer, dass Dr. Prollmann blondes Haar an seinem Jackett gefunden hat», warf Kupfer ein. Sein rötlicher Haarkranz stand ihm vom Kopf ab, sein Gesicht war noch gelblicher als sonst.
«Und nun erklären Sie uns doch bitte, warum sie am Offensichtlichen zweifeln, Herr Kriminalinspektor!» Kasimir schlug einen scharfen Ton an. «Zwei Einbrecher werden überrascht und schießen um sich, eines der Opfer erwidert das Feuer und nimmt einen Täter mit in den Tod. Was gibt es daran noch zu deuteln?»
«Mit Verlaub, Herr Polizeirat!» Auch Stainer hob nun seine Stimme merklich. «Weder deutele ich, noch zweifle ich!» Er legte eine Kunstpause ein und schaute Kasimir fest in die Augen. «Abgesehen jedenfalls von dem Maß an Zweifel, das wir Kriminalisten immer zu hegen haben, vor allem dem Offensichtlichen gegenüber.» Er betonte jedes Wort und schwieg erneut. Die Luft im Konferenzsaal war plötzlich zum Schneiden dick. Heinze hatte sogar aufgehört zu stenographieren.
«Ich würdige lediglich Fakten und Spuren», fuhr Stainer endlich fort, «und noch haben wir längst nicht alle zusammengetragen. Einige machen mich stutzig, das ist alles.» Er hob ein blutiges Seil vom Tisch hoch. «Warum zum Beispiel hängt eine Schlinge um Baumanns Hals? Warum hat sein Mörder gleich
acht Kugeln auf ihn abgefeuert? Das spricht doch zunächst einmal für eine hochaffektive Tat. Hat der Täter Baumann gekannt? Hat er ihn gehasst? Warum hat er das Futter seiner Anzugjacke aufgeschlitzt und ihm die Schuhe ausgezogen und die Einlagen herausgerissen? Und schließlich: Warum lässt er seine Jacke zurück? Warum wirft er seine Waffe fort?»
«Und?», fragte Kasimir spitzlippig. «Wie lauten Ihre Antworten?» Er hockte kerzengerade und mit durchgebogenem Kreuz auf der Stuhlkante.
Zu Stainers Überraschung unterbrach Heinze sein Stenogramm und ergriff das Wort. «Es muss ein Zustand höchster Erregung am Tatort geherrscht haben. Dafür spricht auch, dass er den Tresor mit der Handgranate sprengen wollte, ohne das Schweißgerät überhaupt benutzt zu haben.»
«Das könnte es auf den Punkt bringen», sagte Stainer, «‹ein Zustand höchster Erregung›.»
«Und das überrascht Sie?» Kasimir rieb an seinem knappen Oberlippenbart herum. «Davon ist doch auszugehen, wenn Einbrecher fürchten müssen, erkannt und überwältigt zu werden.»
«Ein Einbrecher feuert ein ganzes Magazin auf einen Mann ab, der ihn überrascht?» Stainer zog die Brauen hoch und wandte sich an alle Versammelten. «Und hängt ihm, als er vermutlich schon tot ist oder im Sterben liegt, einen Strick um den Hals?» Er zuckte mit den Schultern. «Ich muss allerdings zugeben, dass außer Affekten wie Hass oder Eifersucht auch rationale Motive nicht auszuschließen sind. Wer Jackenfutter aufschlitzt und Einlagen aus Schuhen reißt, der sucht irgendetwas, ganz klar.»
«Wie auch immer.» Kasimir winkte ab und erhob sich. «Finden Sie diesen Heiland so schnell wie möglich, Herr Kriminalinspektor. Und Sie, Heinze, übernehmen den Fall Murrmann.
Werden ja sehen, was Sie herausfinden.» Stainer hob überrascht die Brauen – in der Kriminalabteilung Aufträge zu erteilen, war eigentlich seine Sache.
«An die Arbeit, meine Herren!», rief Kasimir und noch einmal an Stainer gewandt: «Teilen Sie die Ermittlungsgruppen selbst ein, Herr Kollege. Morgen früh erwarten der Herr Staatsanwalt und ich Ihren nächsten Bericht.»
Stainer biss die Zähne zusammen. Dieser bleiche näselnde Leptosom hatte schon etwas gegen ihn gehabt, bevor er ihm in Kubitz’ Büro die Hand reichen musste. Und auch er selbst – das musste Stainer sich eingestehen – hatte Kasimir von Anfang an nicht gemocht. Wie kamen Sympathie oder Antipathie zustande? Manchmal war das schlicht nicht zu erklären.