27
D ie Kriminalabteilung lag im linken Flügel des Hauptgebäudes und erstreckte sich über zwei Stockwerke. Später, als Stainers Ärger über Kasimir längst verflogen war, kochte er in der Küche im ersten Obergeschoss Kaffee für sich und die Kollegen. Heinze schien unter Magenbeschwerden zu leiden, denn er brühte sich einen Kamillentee auf.
«Ihre erste Konferenz in der Kriminalabeilung», sagte Stainer zu Junghans. «Und? Was haben Sie Neues gelernt?»
«Wie man sich Feinde macht, Herr Kriminalinspektor.» Der Kommissaranwärter, mittelgroß und von athletischer Statur, holte Tassen aus dem Schrank.
Stainer stutzte. «Das ist alles?» Er entdeckte noch eine zweite Narbe im jungenhaften Gesicht des Neuen: auf der Stirn. Vermutlich hatte er als Korpsstudent den Degen geschwungen.
«Keineswegs, Herr Kriminalinspektor. Ich habe gelernt, dass wir außer Heiland auch eine blonde Frau suchen und dass man sich mit seinen Schlussfolgerungen Zeit lassen muss.» Er senkte die Stimme. «Der Herr Polizeirat hat sich zu schnell eine Theorie gebildet, wenn ich das so sagen darf.»
«Und zu schnell selbst daran geglaubt.» Kupfer grinste. Er wirkte unausgeschlafen mit seinem gelblichen Gesicht, seinen kleinen müden Augen und seinem ungekämmten Haarkranz. «Der Stock hat sich wirklich nicht besonders gut amüsiert heute Morgen. Wenn das mal keine Folgen haben wird für Sie, Herr Inspektor.»
Der Stock. Zum ersten Mal hörte Stainer Kasimirs Spitznamen und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. «Er hat mich ja postwendend bestraft und mir den Fall Murrmann aus der Hand genommen.» An Heinze gewandt fügte er hinzu: «Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass er damit unrechtmäßig in meine Befugnisse eingegriffen hat, nicht wahr, Herr Kollege?»
Heinze stand kerzengerade an der Anrichte, siebte seinen Tee ab und tat, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. «Nach meinem Gefühl ist Heiland irgendwo in Leipzig untergetaucht», sagte er. «Unter sechshunderttausend Menschen ist es nicht schwer, sich vorübergehend unsichtbar zu machen.» Er holte ein Honigglas aus dem Regal.
«‹Vorübergehend›, Sie sagen es.» Stainer sah zu, wie er Honig in seinen Kamillentee rinnen ließ. «Ich an seiner Stelle hätte die Stadt längst verlassen, doch ich habe ja auch kein kleines Kind.» Und eine Frau habe ich auch nicht mehr, ergänzte er in Gedanken. «Außerdem wüsste ich, wo ich mir Reisegeld beschaffen könnte. Heiland hat mit seiner Jacke und seiner Brieftasche auch seinen finanziellen Spielraum aufgegeben.»
«Vielleicht hat er einen seiner Freunde angepumpt», sagte Junghans, «und sitzt nun in einem Zug nach Berlin oder Moskau.»
«Und stellt seine Schießkunst der Revolution zur Verfügung», ergänzte Heinze mit verächtlichem Unterton.
«Noch wissen wir nicht, ob er geschossen hat», bremste Kupfer ihn. «Ich habe an allen Bahnhöfen die Streifen verdreifachen lassen.» Er stellte Tassen und Zucker auf ein Tablett. «Wenn er Leipzig auf einem Fahrrad verlässt, hat er natürlich bessere Karten als wir.»
«Behalten Sie das im Kopf, wenn Sie nachher seine Boxfreunde und den Trainer besuchen», wandte sich Stainer an Junghans. «Vielleicht hat Heiland sich tatsächlich Geld oder ein Fahrrad bei einem von denen geborgt. Machen Sie den Leuten Druck, lassen Sie durchblicken, dass es um Mord geht und der Staatsanwalt ihnen die Hölle heißmachen wird, wenn sie etwas verschweigen.»
«Sie können sich auf mich verlassen, Herr Kriminalinspektor.» Junghans grinste. «Boxer sind trickreiche und hartnäckige Leute, ich habe selbst mal geboxt.»
«Und warum haben Sie damit aufgehört?», wollte Kupfer wissen.
«Nasenbeinbruch und Rippenprellung. Haben Sie schon einmal versucht, mit einer Rippenprellung aus dem Bett zu steigen? Oder zu husten?»
«Oder ins Bett zu steigen und zu lieben.» Kupfer lachte laut. «Das habe ich alles schon hinter mir, junger Mann. Da hört der Spaß dann wirklich auf.»
Diese Seite seines Oberwachtmeisters kannte Stainer noch nicht. «Ich wüsste etwas Besseres für Sie als Boxen, Junghans.»
Er musterte seinen Assistenten, der ihn fragend anschaute. Der junge Mann war durchaus kräftig gebaut und einen halben Kopf größer als Heinze. Er hatte große, blaue Augen und volle Lippen. Stainer schätzte, dass nicht wenige Frauen auf ihn flogen. Der leichte Knick seines Nasenrückens ließ ihn eher noch interessanter aussehen.
«Kommen Sie doch am Sonntag mit mir zum Polizeisport, ich fange wieder an, Jiu-Jitsu zu trainieren.» Er hatte Junghans auf Anhieb gemocht, warum, wusste er selbst nicht.
«Danke, Herr Kriminalinspektor, klingt gut.» Eine leichte Röte stieg in sein jungenhaftes Gesicht. «Ich werde drüber nachdenken.»
Sie trugen Kaffeekanne und Tablett durch die Zimmerflucht zum Büro. «Ich frage mich, warum Murrmanns Mörder sein Opfer erst umbringt und dann aufhängt.» Stainer dachte laut.
«Das hat etwas Demonstratives, nicht wahr?», sagte Kupfer.
«Sie waren heute Morgen schon in der Albertstraße.» Stainer hielt dem Oberwachtmeister die Tür auf. «Konnten Sie die Nachbarn vernehmen?»
«O ja, Herr Kriminalinspektor. Die Mieterin, die unter den Murrmanns wohnt, hat am Samstagabend zwei fremde Männer im Treppenhaus gesehen, durch den Türspion. Ihr fiel auf, dass sie nicht geklingelt haben.» Er trug das Tablett zu Junghans’ Schreibtisch. «Später will sie einen dumpfen Knall über sich gehört haben.»
«Konnte sie die Männer beschreiben?» Stainer sank in seinen Bürostuhl.
Kupfer nickte. «Ich habe Ihnen das Vernehmungsprotokoll auf den Schreibtisch gelegt.»
«Ich werde Sie selbstverständlich über die Entwicklung des Falls auf dem Laufenden halten, Herr Kriminalinspektor», sagte Heinze von seinem Schreibtisch auf der anderen Zimmerseite aus.
Das ist jetzt mein Fall wollte Heinze eigentlich sagen, das sah Stainer ihm an. «Davon gehe ich aus, Herr Kommissar», antwortete er. Er dachte gar nicht daran, die Mordsache Murrmann aus der Hand zu geben.
Er wandte sich an den Oberwachtmeister. «Hat man übrigens in Barthels Hof das Paar gekannt, das Dr. Weingarten gestern Abend begleitet hat?»
«Baumann nicht, die Frau nur vom Sehen», sagte Kupfer. «Sie singt und tanzt wohl in einem Nachtlokal irgendwo in der Innenstadt. Ich werde heute Abend zwei Männer auf die Suche schicken.»
«Tun Sie das, Herr Kollege. Vielleicht ist sie direkt nach dem Kabarettabend zur Arbeit gegangen.»
«Dann hätte ihr die Arbeit das Leben gerettet.» Junghans schenkte Stainer Kaffee ein, ging anschließend mit der Kanne zum Oberwachtmeister ins Nebenzimmer und rief von dort. «Singet und tanzet, mag die Erde auch beben. Schießet und schanzet, und ihr werdet leben.»
«Sie sind ja ein Dichter, Herr Kollege!» Seinem Alter nach – Stainer schätzte ihn auf Mitte zwanzig – hatte Junghans die letzten Kriegsjahre wahrscheinlich wirklich geschossen und Schützengräben geschanzt. Er nahm sich vor, seine Akte zu lesen. «Wie heißen Sie mit Vornamen?» Stainer löffelte Zucker in seine Tasse, während er den Briefblock aus der geöffneten Akte zog, den Kupfer ihm am Morgen aus der Mordwohnung geholt hatte.
Junghans kam zurück ins Hauptbüro. «Siegfried, Herr Kriminalinspektor.»
«Ich werde nachher zu Rasputin in die Werkstatt gehen und ein Türschild für Sie in Auftrag geben.»
«Rasputin?» Am anderen Schreibtisch runzelte Heinze die Stirn.
«Ich spreche von Schilling, unserem Hausmeister. Er erinnert mich an Rasputin.»
«Danke, Herr Kriminalinspektor.» Junghans strahlte ihn an.
«Hören Sie auf, mich jedes Mal mit meinem Rang anzusprechen.» Stainer suchte einen weichen Bleichstift, legte ihn schräg und begann, das leere oberste Blatt des Briefblocks mit breiten Streifen zu bedecken. Einzelne Buchstaben und ganze Worte wurden sichtbar.
«Jawohl, Herr Kriminalinspektor.»
Stainer verdrehte die Augen. «An die Arbeit mit Ihnen.» Er zog die Akte Murrmann heran und überflog das Protokoll, das Kupfer von der Vernehmung mit der Nachbarin der Familie angefertigt hatte. Ein Einarmiger war unter den beiden Männern gewesen, die sie durch den Türspion beobachtet hatte. Aus dem Nebenzimmer drang inzwischen das Gehämmer von Kupfers Schreibmaschine.
«Hatte gestern Abend zufällig einer von Ihnen den Nerv, das Ehepaar Weingarten zu fragen, was sie im oberen Tresor aufbewahren?» Er sprach laut, damit Kupfer ihn im anderen Zimmer verstehen konnte. «Und wer von dem Tresor wusste?»
«Nein!» Nebenan verstummte die Schreibmaschine. «Die Mutter des Mordopfers ist mit einem Nervenzusammenbruch in die Klinik gebracht worden, und Weingarten senior hockte stumm vor Schock in seinem Salon und starrte seine zerstörten Bilder an.» Das Gehämmer setzte wieder ein. Es machte Stainer nervös, denn es erinnerte ihn an Maschinengewehrfeuer.
«Aus dem war nichts mehr herauszubringen», bestätigte Junghans. «Soll ich mich an den Fernsprecher hängen und ihn anrufen?»
«Danke, das übernehme ich selbst.»
Wenig später verstummte die Schreibmaschine endlich, und Junghans und Kupfer meldeten sich ab und gingen. Sie gehörten zu der Ermittlungsgruppe, die am Morgen schon bei einigen von Heilands Verwandten und Bekannten geklopft hatten. Die Arbeit würde sie wohl für den Rest des Tages in Anspruch nehmen.
Ein Telegramm lag oben auf der Akte Robert Murrmann. Stainer öffnete es und las. Die Kollegen aus Berlin hatten mit Murrmanns Witwe gesprochen und baten Stainer um Anruf. Er wählte die 90, die Nummer der Fernsprechzentrale im Neuen Rathaus, meldete das Ferngespräch an und ließ sich mit der angegebenen Nummer verbinden. Schon nach kurzer Zeit hatte er den zuständigen Kommissar in der Leitung. Das Ferngespräch dauerte nicht länger als fünf Minuten.
Nachdem er wusste, was er wissen wollte, saß Stainer eine Zeitlang in seinem Sessel, dachte nach und betrachtete den Gummibaum. Dessen Blätter waren natürlich noch immer gelb, doch es kam ihm vor, als würden sie nicht mehr ganz so schlaff herabhängen. Irgendwann stand er auf, schob die Akte Murrmann zusammen und trug sie hinüber zu Heinze.
«Ich lege die Ermittlungen im Fall Murrmann in Ihre Hände, Heinze.» Stainer zog die Brauen hoch und lächelte. «Ganz offiziell, meine ich. Sie berichten mir täglich.» Der andere hob überrascht den Blick. Eine Zeitlang sahen sie einander in die Augen. Heinzes Augäpfel zuckten.
«Murrmann hat einen Brief ans Reichsgericht geschrieben, bevor er die Mörder in die Wohnung ließ», brach Stainer das kurze Schweigen. «Der Papierkorb war leer, als ich an den Tatort kam. Ich schätze, der Mörder hat den Brief mitgenommen.»
Er schob Heinze den Briefblock über den Schreibtisch. Erstaunt bemerkte er, dass der Kommissar über der Akte Jagoda gebrütet hatte. «Ich habe nur die ersten Zeilen sichtbar gemacht, den Rest überlasse ich Ihnen. Suchen Sie sich einen weichen Stift und machen Sie weiter, ich bin gespannt.» Heinze nickte und Stainer fragte sich, warum er sich die Akte Jagoda noch einmal geholt hatte. «Versuchen Sie, die Dinant-Spur weiter zu verfolgen. Wer weiß, wohin die uns noch führt.»
«Die Dinant-Spur, Herr Inspektor?» Heinze sah fragend zu ihm herauf.
«Haben Sie meinen Kurzbericht noch nicht gelesen? Dr. Doppelmann hat dieses Kuvert hier am Tatort hinter dem Sekretär gefunden.» Stainer legte es auf die Akten. «Mit einem Absender in Dinant. Schreiben Sie ihn sich ab.»
«Und der dazugehörende Brief ist verschwunden?»
Stainer nickte. «Wie Murrmanns Brief ans Reichsgericht.» Er nahm das Foto aus dem Kuvert. «Das hat unser aufmerksamer Oberwachtmeister heute Morgen noch hinter dem Sekretär entdeckt.» Er reichte Heinze das Foto. «Finden Sie heraus, wer diese Frau ist.»
«Ob die belgische Polizei uns dabei behilflich sein wird?» Heinze schnitt eine skeptische Miene und schrieb den Absender und den Namen der Frau ab. «Ich bezweifle es.»
«Versuchen Sie es wenigstens. Sprechen Sie Französisch?» Heinze nickte und Stainer steckte Foto und Kuvert wieder ein. «Dann habe ich gerade mit einem Kollegen in der Hauptstadt telefoniert.» Er legte dem stenographierenden Heinze das Telegramm auf den Briefblock. «Hier die Nummer. Er hat mit Else Murrmann gesprochen, Murrmanns Witwe. Und jetzt raten Sie mal, wen Robert Murrmann außer einem Reichsanwalt noch so alles treffen wollte in Leipzig.» Er nahm das Kuvert wieder an sich und schaute Heinze ins fragende Gesicht. «Heinrich Baumann und Friedrich Jagoda.»
Heinze ließ sich gegen seine Stuhllehne fallen und blies die Backen auf. «Schicken die Berliner das Vernehmungsprotokoll?»
«Das wird hoffentlich diese Woche noch bei uns eintreffen.» Mit seinem Blick deutete Stainer auf die Jagoda-Akte. «Sie überprüfen Ihre Ermittlungsergebnisse, wie ich sehe?»
«Gott bewahre!» Heinzes Gestalt straffte sich. «Nein, nein, die Beweise gegen Hummels sind hieb- und stichfest. Nur …» Er lächelte verkrampft, blätterte in der Akte und zog ein Foto heraus, das er über den Schreibtisch zu Stainer schob. «Das hier macht mich im Nachhinein ein wenig nachdenklich. Die Parallele hat mich vorhin bei der Besprechung doch etwas überrascht, wissen Sie?»
Stainer, der ganz und gar nicht wusste, wovon sein Kommissar sprach, nahm das Foto hoch und betrachtete es. Es zeigte die Leiche eines Mannes, die neben einem Kronleuchter an einem Seil von der Decke hing. «Hummels hat Jagoda aufgehängt?» Stainer konnte es kaum glauben.
«Korrekt.» Heinze strich sich über die dichten Locken, er wirkte auf einmal müde. «Das bestreitet er natürlich, doch wir haben Dutzende Fingerabdrücke von ihm in Jagodas Wohnung gefunden. Hummels behauptet, Jagoda habe an der Front seine Soldaten schikaniert und zwei ganze Kompanien in den Tod geschickt.»
«Solche Männer gab es leider viel zu viele.» Stainers Miene verdüsterte sich. «Jagoda war also Offizier?»
«Korrekt.» Heinze nickte. «Wenige Stunden vor seinem Tod hat man ihn aus der Nervenklinik entlassen. Fünf Monate lang war er dort in Behandlung gewesen, nachdem er im Sommer in einer Elektrischen übergeschnappt ist und Fahrgäste und Schaffnerin angegriffen hat.» Heinze zuckte mit den Schultern. «Hing vielleicht mit dem Tod seiner Frau zusammen, die ist nämlich Anfang 1919 an der Spanischen Grippe gestorben. Kurz nachdem Jagoda aus dem Feld zurückgekehrt war.»
«Armer Kerl», seufzte Stainer und dachte an die Begegnung mit Edith am vorletzten Mittwoch. «Wenigstens haben sie sich noch verabschieden können.» Sein Blick fiel auf eine schwarze Kladde zwischen den Deckeln der Akte Jagoda. «Was ist das?»
«Jagoda hat Tagebuch geführt. Nichts Besonderes – die täglichen Visiten, seine Wehwehchen, ein paar Lesefrüchte und so weiter.»
«Darf ich?» Stainer streckte die Hand aus.
«Und Zitate aus Hummels Drohbriefen.» Heinze zog die Kladde aus ihrer transparenten Papierhülle. «Deswegen habe ich es zu den Akten genommen.»
Tagebuch Dezember 1918 bis lautete der unvollendete Titel auf dem Etikett des Einbands. Während er zwischen Heinzes Schreibtisch und der Tür hin- und herlief, blätterte Stainer die Kladde von hinten durch und überflog die Eintragungen. Heinze hatte recht – es ging vor allem um Kopfschmerzen, Magendrücken, Rückenbeschwerden und Albträume, die der Tagebuchschreiber allerdings nicht schilderte.
Du bist nicht der einzige, für den die Kriegsnächte kein Ende nehmen, dachte Stainer. Er schaute zu Heinze hinüber und fragte sich, ob ihn auch Albträume plagten.
Beim Weiterblättern blieb sein Blick am Stichwort Reichsgericht hängen; er las den Eintrag genauer. «Jagoda hatte mit dem Reichsanwalt zu tun», wandte er sich an Heinze, «wussten Sie das?»
«Ja, Herr Inspektor Stainer. Das Reichsgericht hatte dem Gymnasialprofessor einen Termin für eine Anhörung gegeben.»
«Wann?»
Heinze blätterte in der Akte. «Nächsten Montag, neunter Februar, sieben Uhr, Zimmer 115.»
Stainer ging zu seinem Schreibtisch, wo sein Notizbuch lag. «Anhörung in welcher Sache?»
«‹Löwen› steht im Betreff und ein Datum.» Stainer notierte den Anhörungstermin und den Betreff: Löwen, 25. August 1914 . «Mehr geht aus dem Briefwechsel nicht hervor.»
«Danke.» Stainer vertiefte sich wieder in Jagodas Aufzeichnungen. Über viele Seiten in den Wintermonaten 1919 betrauerte er seine Frau in Einträgen, die länger waren, als die anderen. Auch über die Drohbriefe seines Mörders ließ er sich umfangreicher aus.
An einer Stelle stutzte Stainer und las murmelnd: «Vielleicht ist dieser lästige Hummels einfach nur ein Spinner unter vielen, dann wird er schon irgendwann aufhören mit diesem Unsinn. Sollte er aber mit der Operation Judas zu tun haben, ist er wirklich gefährlich. Vielleicht sollte ich ihn anzeigen, sobald ich entlassen bin.»
Auf Stainers Schreibtisch läutete das Telefon. Er schlug die Kladde zu, ging hin und nahm ab. «Ein Anruf für Sie, Herr Kriminalinspektor, irgendeine Arztpraxis.» Eine Frauenstimme aus der Fernsprechzentrale war in der Leitung. «Ich stelle durch.»
Es knackte und rauschte, Stainer merkte, dass er noch immer das Foto mit Jagodas Leiche in der Hand hielt. Endlich meldete sich eine Männerstimme. «Bin ich mit der Kriminalabteilung des Polizeiamtes verbunden?» Die Stimme sprach mit leicht slawischem Akzent.
«Richtig, Sie sprechen mit Inspektor Stainer.»
«Mein Name ist Polanski. Ich bin Arzt und möchte Sie bitten, in meine Praxis zu kommen. Ich habe hier eine Patientin, die sich gerade von einem Nervenzusammenbruch erholt, und ich fürchte, sie hat Ihnen einiges zu erzählen.»