29
D ie Praxis lag zwischen Johannistal und Eilenburger Bahnhof in der Gutenbergstraße. Stainer parkte den neuen Dux, den ihm das Polizeiamt als Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt hatte, zwischen zwei Platanen und vor dem Praxisschild.
Die Häuser dieses Viertels hatten alle vier Stockwerke, manche fünf, und sie kamen ihm alt und ehrwürdig vor. Stainer war hier nicht oft gewesen, bevor er in den Krieg zog. Auch als Kind nicht; da war er über die Grenzen von Connewitz nur selten hinausgekommen. Er stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab. Es war kalt, aber trocken, und es roch nach Braunkohlefeuer.
An den Stämmen der Platanen klebten Plakate. Stainer blieb davor stehen und las sie. Auf einem rief die Kommunistische Partei Deutschlands zum Generalstreik auf. Auf dem zweiten prangte der schwarze Greifenkopf der Deutschnationalen Volkspartei und die Aufforderung an alle «wahren Deutschen», auf die Straße zu gehen und sich gegen den «Schandvertrag von Versailles» zu erheben. Auf dem dritten lud die SPD Leipzig zu ihrer Versammlung am 8. Februar im Volkshaus ein.
Nachdenklich wandte Stainer sich ab. Letzten Sonntag erst war er mit einem Mitglied der DNVP – der Deutschnationalen Volkspartei  – aneinandergeraten: mit seinem Vater. In dessen Stammkneipe in Connewitz hatte er auf die linken Vaterlandsverräter geschimpft, die den heldenhaft kämpfenden Frontsoldaten mit ihren Streiks und ihrem Pazifismus in den Rücken gefallen seien und so die Niederlage der Reichswehr und den Untergang des Kaiserreiches herbeigeführt hätten. Nur einer hatte dem gelähmten Ex-Offizier Heinrich Stainer widersprochen: sein Sohn Paul Stainer.
Stainer schüttelte die lästigen Gedanken an seinen Vater ab und ging zum Eingang des Hauses, in dem der Arzt praktizierte, der ihn angerufen hatte. Er hatte weiß Gott Wichtigeres zu tun, als sich mit politischem Irrsinn zu befassen.
Ein paar Atemzüge lang stand er vor dem gusseisernen Praxisschild und betrachtete die eigenartige Schrift darauf – die goldfarbenen Buchstaben kamen ihm seltsam lebendig vor auf so viel Eisen, als würden sie pulsieren und atmen.
Die Bergidylle mit Hirsch im Zillertal fiel ihm ein, und er fürchtete schon, dass seine Nerven ihm wieder einen Streich spielten. Doch die beiden Zeilen auf dem Schild lasen sich ganz und gar realistisch: Dr. med.  Adam Polanski, Arzt für Neurologie und Psychoanalyse .
Er drückte die Haustür auf und trat in das Treppenhaus. Die Praxis lag im vierten Obergeschoss. Seufzend nahm er die Stufen in Angriff. Unter seinem alten Offiziersmantel spürte er das Achselhalfter mit der Pistole. Ohne seine Dienstwaffe, einer Dreyse 1907 , würde er die Wächterburg ganz bestimmt nicht mehr verlassen.
Im dritten Stockwerk geriet er ein wenig außer Atem. Man musste schon dringend einen Seelenarzt brauchen, wenn man freiwillig so viele Stufen hinaufstieg. Endlich stand er vor der Praxistür. Er atmete ein paarmal tief durch und drehte am Klingelbügel. Auf der anderen Seite der Tür rasselte es blechern; die mechanische Klingel hatte ihre besten Tage auch schon hinter sich.
Die Tür wurde aufgezogen, ein Mann in dunkelgrauem Dreiteiler mit bunter Fliege und weißem Hemd stand vor ihm – randlose Brille, schütteres Grauhaar, kurzgeschorener Bart, kleiner als Stainer, doch ähnlich hager. Auf den ersten Blick schien der Mann weit über sechzig Jahre alt zu sein, auf den zweiten jedoch wirkte er geradezu jugendlich. Das konnte nur an den großen, hellen Augen liegen – wie wache Kinderaugen kamen sie Stainer vor.
«Herr Stainer?» Er nickte. «Bitte kommen Sie herein.» Polanski – wer sonst sollte der Mann sein? – trat zur Seite und winkte ihn an sich vorbei in die Praxis, die vermutlich zugleich seine Wohnung war. Die Porträtfotos an der Wand über dem kleinen, mit Zeitungen beladenen Garderobentisch, die Hüte und Schals an der Garderobe und die Spazierstöcke und Schirme im Messingrohrständer wirkten jedenfalls sehr privat.
Der Arzt führte Stainer in ein Zimmer mit drei Sesseln, einem Sofa und einem runden Tisch, auf dem neben einem siebenarmigen Kerzenleuchter und einer weißen Orchidee auch ein Ausstellungskatalog von Böcklin und einige Ausgaben des Simplicissimus lagen.
«Ich habe einen Patienten auf der Couch liegen, Herr Stainer», sagte Polanski, «doch vielleicht so viel in Kürze, bevor ich sie mit Frau Sonntag bekannt mache: Sie hat im Morgengrauen bei mir geklingelt, zitternd und völlig durchgefroren. Ich konnte zunächst kein Wort aus ihr herausbringen und habe ihr Laudanum gespritzt. Bis vor zwei Stunden hat sie geschlafen. Danach schien sie mir ruhiger geworden zu sein, sie konnte jedenfalls erzählen. Und was sie erzählte, schien mir Grund genug, Sie anzurufen.»
«Nämlich?» Ungeduld war Stainer fremd, doch er schätzte es, wenn Leute nicht lange um den heißen Brei herumredeten.
«Das hören Sie sich besser aus Frau Sonntags Mund an.» Der Arzt bedeutete Stainer, noch einen Augenblick zu warten. «Ich schaue erst noch einmal nach ihr.» Ehe Stainer reagieren konnte, ging Polanski in ein Nebenzimmer, ließ die Tür angelehnt und sprach mit einer Frau.
Stainer konnte nicht verstehen, was die beiden mit gedämpften Stimmen verhandelten, und wollte es auch gar nicht. Er fragte sich, was «auf der Couch liegen haben» bedeutete und was einen Menschen veranlassen mochte, sich frühmorgens in die Praxis eines Nervenarztes zu flüchten.
Ein großes Gemälde an der Wand des Wartezimmers zog ihn magisch an. Es zeigte einen bärtigen Maler mit Pinsel und Farbpalette, der den Kopf leicht zur Seite und nach hinten neigte, um einem Geigenspieler zu lauschen. Der Geigenspieler hinter ihm – man sah nur seinen Totenschädel und seine Knochenhand, die den Bogen führte – stützte sich beinahe auf die Schulter des Malers.
«Verzeihen Sie, Herr Stainer.» Polanski kehrte ins Wartezimmer zurück. «Frau Sonntag möchte Ihren Dienstausweis sehen.» Er trat näher zu ihm, als es unbedingt nötig gewesen wäre, um sich den Ausweis reichen zu lassen. «Bitte haben Sie Verständnis», flüsterte er, «die Frau ist völlig verängstigt.»
Stainer nickte und überließ dem Arzt seinen Dienstausweis, der damit im Nebenzimmer verschwand. Er war gespannt, was ihn erwartete. Hatte man die Frau überfallen? Verfolgte man sie? Oder war sie nervenkrank? Das lag zumindest nicht ganz fern, denn immerhin traf er sie bei einem Nervenarzt an.
Er wandte sich wieder dem Gemälde zu, einem Selbstporträt Arnold Böcklins. Stainer hielt es zunächst für echt, weil es aufwendig gerahmt war, doch als er näher herantrat, merkte er, dass er vor einer perfekten Chromolithographie stand.
Es war die Intensität in der Haltung und den Mienen der beiden Figuren, was ihn so faszinierte. Der Maler schien dem geigenden Tod mit größter Aufmerksamkeit zu lauschen, gerade so, als könne er ohne dessen Musik sein Bild nie und nimmer vollenden.
Dergleichen hatte Stainer noch nie gesehen. «Unglaublich», murmelte er. So düster das Bild wirkte, so schön war es doch. Schön wie die Eisblumen auf dem Buntglasfenster letzte Woche in der Gustav-Freytag-Straße.
«Bitte, Herr Stainer.» Die sonore Stimme des Arztes riss ihn aus seiner Betrachtung. Er drehte sich um, nahm den Dienstausweis aus Polanskis Hand und folgte ihm ins Behandlungszimmer. Dort duftete es nach Rosenwasser. Neben einer dunkelroten Lederliege saß in einem dunkelroten Ledersessel eine junge blonde Frau in schwarzem Kleid und roten Stöckelschuhen. Sie trug Perlen an den Ohren. «Ich muss zu meinem Patienten», sagte Polanski, «bis nachher.» Der Arzt schloss die Tür hinter sich.
Stainer reichte der Frau die Hand und nannte seinen Namen und Dienstrang, obwohl sie beides gerade eben erst gelesen haben musste. «Sonntag», sagte sie mit heiserer Stimme. «Rosa Sonntag, ich bin froh, dass Sie so schnell kommen konnten, Herr Inspektor.»
Stainer zog seinen Mantel aus und legte ihn auf die Couch. Auch an der Wand über ihr hing der gerahmte Druck eines Gemäldes, von dem dieselbe faszinierende Mischung aus Düsternis und Schönheit ausging wie von dem Selbstporträt im Wartezimmer. Unwillkürlich verharrte er einen Augenblick, um es zu betrachten: Zypressen vor einer Villa, altes Gemäuer, gegen die Meereswogen anbrandeten, und im Vordergrund, sehr klein, eine junge Frau in schwarzem Tuch, die gegen die Bruchstelle der Backsteinmauern lehnte.
«Er liebt Böcklin», sagte die Frau hinter ihm. «Mich hat er auch schon angesteckt mit dieser Liebe.»
«So?» Stainer riss sich von dem Bild los und ließ sich der Blonden gegenüber in dem zweiten roten Ledersessel nieder, der in dem nicht allzu großen Zimmer stand. «Ihr Arzt hörte sich dringend an am Fernsprecher.»
«Zu Recht.» Sie sah so aus, wie ihre Stimme klang und ihr Händedruck sich angefühlt hatte: erschöpft. Ihr Blick wirkte müde, ihre Augen waren rot geweint, ihr Lidschatten und Lippenstift verschmiert, ihre Haut bleich und ihr kinnlanges blondes Haar nur flüchtig zurechtgestrichen. Sie wollte noch etwas sagen, kam aber über ein «O Gott», nicht hinaus. Ihr Unterkiefer zitterte.
«Meine Güte», sagte Stainer, «was mussten Sie denn erleben?»
«Einen Mord», sagte sie mit bebender Stimme.
Stainer zog Stift und Notizbuch aus dem Jackett und saß plötzlich kerzengerade in dem Ledersessel. «Wo? Und wann?»
«In einer Villa in Gohlis, gestern Abend, gegen zehn.» Sie hob die Schultern und senkte den Blick. «Es war so …», ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern, «… entsetzlich.»
«Wollen Sie erzählen?» Sofort fielen Stainer die blonden Haare am Anzug des toten Baumanns ein.
«Ich war die ganze Nacht in Leipzig unterwegs.» Rosa Sonntag sprach jetzt mit festerer Stimme. «In Gohlis, an der Pleiße, in Lindenau, im Promenadenring – ich hatte völlig die Orientierung verloren. Als es hell wurde, stand ich auf einmal unten vor Dr. Polanskis Tür.»
Was die bedauernswerte Frau schilderte, erinnerte Stainer an so manchen jungen Soldaten seines Regiments, den man während der Sommeschlacht völlig verstört aufgegriffen hatte. Und wahrscheinlich war er selbst in einem ähnlich desolaten Zustand gewesen, als er mit Renkewiz einer französischen Einheit in die Arme lief. Er hatte keine Erinnerung daran.
«Können Sie mir sagen, wie die Straße heißt, in der die Villa steht, von der sie sprechen?» Er fragte das nur, um ganz sicherzugehen.
«Artilleriestraße. Sie müssen doch davon gehört haben.»
«Ja, haben wir.» Stainer konnte es kaum glauben – in den Mordfällen Baumann, Krüger und Weingarten schien es tatsächlich eine Augenzeugin zu geben! «Sie sprachen von einem Mord, den Sie erlebt haben, Frau Sonntag. Darf ich daraus schließen, dass Sie ein Opfer und einen Täter gesehen haben?»
«Zwei Täter.» Sie biss sich auf die Unterlippe. «Und Heinrich.» Als drohe ihr Kopf zu platzen, drückte sie die Handballen gegen die Schläfen und schloss die Augen. «Dr. Polanski hat gesagt, ich soll versuchen, mich so genau wie möglich zu erinnern und meine Erinnerungen an gestern Abend so konkret wie möglich auszusprechen.» Sie atmete tief ein und aus. «Je klarer ich aussprechen könne, was ich erinnere, desto gründlicher würde ich dem grässlichen Erlebnis seine Giftigkeit nehmen, hat er gesagt.»
Stainer versuchte, zu verstehen, was sie meinte. «Seine Giftigkeit?»
«Seine krankmachende Wirkung.» Die Blonde sah ihn an, und ihre blauen Augen waren feucht und unendlich traurig. «Glauben Sie mir, Herr Inspektor Stainer», flüsterte sie. «Dr. Polanski hat recht.»
«Dann erinnern Sie sich bitte.» Stainer notierte, was die Frau über das Aussprechen von Erinnerung gesagt hatte. «Erzählen Sie, Frau Sonntag, ich helfe Ihnen, so gut ich kann. Fangen Sie einfach bei dem Kabarettabend an.»
«Sie wissen, dass wir in Barthels Hof waren?», staunte sie.
«Wir haben einen Prospekt von der Veranstaltung am Tatort gefunden.» Wo, sagte er lieber nicht.
«Ist Hans auch …?»
«Ja, Herr Dr. Weingarten wurde erschossen. Einer der Einbrecher ebenfalls.» Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schwieg. «Kannten er und Baumann sich schon lange?»
Sie nickte. «Von der Universität», flüsterte sie hinter ihren Händen und mit tränenerstickter Stimme. «Hans hat in Berlin studiert. Seitdem waren sie wohl befreundet. Ich glaube, Hans hat in dem Verlag veröffentlicht, in dem Heinrich arbeitet.»
«Er hat in einem Verlag gearbeitet? Als Lektor oder als Kaufmann?»
«Ich weiß es nicht», flüsterte sie. «Er hat gesagt, er sei Historiker.»
Stainer notierte und schaute dann die schluchzende Frau an. Die Wirkung des Laudanums schien nachzulassen. «Sie wollten vom Kabarettabend erzählen, Frau Sonntag.»
Sie nahm die Hände vom Gesicht und atmete tief durch. «Heinrich hat mich eingeladen», begann sie stockend. «Er wusste ja nicht, dass es unser letzter gemeinsamer Abend sein würde.»
«Woher hätte er denn wissen sollen, dass er sterben würde?» Jetzt war es an Stainer zu staunen.
«Nein, nicht doch deswegen!» Sie winkte erschrocken ab. «Ich wollte ihn wieder ausquartieren, wissen Sie?» Sie trat sich die Stöckelschuhe von den Füßen und zog die Beine auf den Sessel und unter ihr Gesäß.
«Baumann wohnte bei Ihnen?», staunte Stainer.
«So kann man das nicht sagen.» Sie seufzte und suchte nach Worten. «Er hat seit letztem Sonntag bei mir übernachtet. Ich wollte die Trennung, doch er hatte mich gebeten, ihn zu dem Treffen mit dem Anwalt zu begleiten, und ich habe es versprochen. Diesen einen Abend noch, habe ich gedacht. Doch vielleicht hat er ja wirklich geahnt, dass er sterben würde, denn er hat große Angst gehabt …»
Die Worte strömten jetzt nur so aus ihr heraus, und Stainer unterdrückte den Impuls, sie zu unterbrechen, um ihre Aussagen durch Fragen zu strukturieren und zu lenken. Stattdessen ließ er sie erst einmal reden und schrieb einfach nur mit. Er wunderte sich, wie leicht ihm das Stenographieren noch von der Hand ging.
So erfuhr er von der Nachtbar Bonaparte , in der sie tanzte und sang und Baumann kennengelernt hatte, von dessen Revolver und Schießübungen und von zwei Männern, mit denen er in Leipzig verabredet gewesen war und die sich dann nicht gemeldet hatten. Das zumindest war nicht ganz neu für ihn.
Rosa Sonntag erzählte ebenfalls, wie ausgelassen die Stimmung in Weingartens Wagen nach dem Kabarettabend gewesen war, wie sie in der Villa lachend die Treppe hinaufgestiegen waren, wie Weingarten die Tür zum Salon geöffnet und ein Mann ihn hineingerissen hatte.
«Dann fiel der erste Schuss, da war ich noch auf der obersten Stufe, und dann wieder ein Schuss, und ich rannte die Treppe hinunter, stürzte, schlug unten auf dem Parkett auf.» Sie legte die Hände auf die Augen, erzählte atemlos, schaukelte dabei mit dem Oberkörper vor und zurück.
«Einer von ihnen verfolgte mich, eine Pistole polterte von Stufe zu Stufe vor ihm her, ich wollte danach greifen, doch der Mann kam mir zuvor, packte die Pistole, packte mich. Ich habe geschrien, ganz laut – bis er mir den Pistolenlauf in den Mund gesteckt hat. ‹Lauf, Rosa›, hat Heinrich von oben gerufen, wieder und wieder.»
Sie nahm die Hände von den Augen und saß auf einmal ganz still. An Stainer vorbei guckte sie in irgendeine Ferne, während sie Atem schöpfte. «Er rutschte die Stufen herunter, doch der mit der Ledermütze schoss immer noch auf ihn. Dieser Teufel stand oben an der Treppe und schoss und schoss.» Tränen erstickten ihre Stimmen und sie schlug wieder die Hände vors Gesicht.
Stainer sah, dass sie keinen Ring trug, wahrscheinlich hätte er sie mit Fräulein ansprechen müssen. Er ließ ihr Zeit, wartete, bis ihr Weinen in Schluchzen überging. «Wie sind Sie denn aus der Villa herauskommen, Fräulein Sonntag?»
«Ich weiß es nicht mehr.» Sie zog die Schultern hoch, schüttelte sich wie unter einem Ekelschauer. «Ich habe das Eisen in meinem Mund geschmeckt und war überzeugt davon, dass der Mann abdrücken würde, ich war sicher, dass mein Leben gleich vorbei sein würde. Ich hatte wirklich abgeschlossen. Kennen Sie das?»
Bilder blitzten Stainer durchs Hirn: ein mit Wasser gefüllter Granattrichter, ein brennender Fluss, ein Panzer, eine ausgestreckte Hand. «Ja, das kenne ich.»
«Doch plötzlich hat dieser Mann mir die Pistole wieder aus dem Mund gezogen, vielleicht weil der andere von oben auf Heinrich geschossen hat. Da bin ich aufgesprungen und aus der Villa gerannt. In die Nacht hinaus, über die Straße, in einen Park, über eine Eisenbahnbrücke, bin gerannt und gerannt.»
«War der Pistolenlauf heiß?»
«Was?» Sie nahm die Hände vom Gesicht.
Stainer blickte in ihr fassungsloses Gesicht und machte sich klar, dass er die Frage durchaus etwas einfühlsamer hätte stellen können. «Ich frage, weil ich wissen muss, ob mit der Waffe zuvor geschossen wurde.»
«Im ersten Stock sind Schüsse ohne Ende gefallen.»
«Sie hätten gespürt, wenn der Lauf heiß gewesen wäre.»
«Er war nicht heiß.»
«Hat der Mann, der Sie bedroht hat, eine Jacke angehabt?» Sie schüttelte den Kopf. Stainer stand auf, zog das Foto von Heiland aus der Innentasche und zeigte es ihr. «War das der Mann?»
Ihre Schultern zuckten hoch und sie nickte. «Allerdings war sein Auge blau und grün geschwollen.» Sie deutete auf ihr linkes Auge.
«Können Sie auch den anderen beschreiben, den mit der Ledermütze?» Stainer setzte sich wieder und notierte.
«Untersetzt, schwarzhaarig mit breitem Gesicht und großem Kinn. Er trug schwarze Handschuhe und einen Soldatenmantel. Und er hatte eine Narbe auf der Wange. Vielleicht war es auch eine Schürfwunde.» Sie langte ein volles Wasserglas von einem kleinen Sekretär neben ihrem Sessel und trank. «Möchten Sie auch etwas trinken, Herr Inspektor?»
Stainer schüttelte den Kopf und bedankte sich. «Kannten Sie Dr. Weingarten auch schon vor diesem Abend, Fräulein Sonntag?»
«‹Frau Sonntag›, bitte.» Sie nickte. «Hans war Stammgast in meiner Bar.»
«Das Bonaparte gehört Ihnen?»
«Mir und meinem ältesten Bruder.»
«Dr. Weingarten wohnt eigentlich in der Mozartstraße. Wissen Sie, warum er mit Ihnen und Ihrem Bekannten …»
«Heinrich war mein Geliebter.»
«… zur Artilleriestraße in die Villa seines Vaters gefahren ist?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Heinrich hat sich für die Kunstsammlung seines Vaters interessiert, außerdem hat der alte Weingarten einen gutsortierten Weinkeller. Und ja, einmal hat Heinrich Unterlagen erwähnt, die Hans in einem Wandtresor seines Vaters aufbewahrt.»
«Unterlagen?» Stainer horchte auf. «Hat er die näher bezeichnet?»
«Es ging wohl um Fotos, Briefe und Tagesberichte von der Front.»
«Wissen Sie, von welcher Front die Rede war?»
«Flandern.»
«Ist der Name Dinant mal gefallen?» Sie schüttelte den Kopf. «Aber er war mit der Reichswehr in Flandern?»
«Als Hauptmann, so habe ich ihn verstanden. Wegen einer Befehlsverweigerung ist er später zum Leutnant degradiert worden.»
«Hat denn Herr Baumann jemals angedeutet, vor wem er Angst gehabt hat?»
Sie starrte auf den dunklen Teppich und schien nachzudenken. «Einmal sprach er von Männern, die er nicht kannte und die einem ‹Verband der Schwarzen Reichswehr angehörten›, wie er sich ausdrückte.» Sie nickte. «Ja, so nannte er das – ‹Schwarze Reichswehr›. Und jetzt fällt es mir wieder ein: Einmal hat er eine Operation dieser Männer erwähnt, eine ‹Operation Judas›.»
Stainer erinnerte sich an Jagodas Tagebuch, während er schrieb. Hatte der nicht Ernst Hummels mit einer Operation gleichen Namens in Zusammenhang gebracht? Er umrahmte den Begriff Operation Judas mit dicken Strichen und notierte dahinter: (Jagoda!!) .
«Danke, Frau Sonntag. Wahrscheinlich werden sich aus den laufenden Ermittlungen noch einige Fragen an Sie ergeben. Würden Sie mir Ihre Adresse und Fernsprechnummer geben?» Sie nickte und diktierte.
Stainers Blick fiel auf ihre nackten Arme, als er Stift und Notizbuch wegsteckte. «Sie sind ohne Mantel durch die Leipziger Winternacht geirrt, nicht wahr?»
«Diese Beobachtung spricht für Sie, Herr Stainer.» Zum ersten Mal huschte ein Anflug eines Lächelns über ihre bleiche Miene. «Mantel, Schal und Hut hängen noch in der Villa Weingarten.» Sie trank das Glas leer und stellte es weg.
«Wenn Sie mögen, fahre ich Sie nach Hause.»
Überrascht schaute sie ihn an. «Das wäre furchtbar lieb von Ihnen, Herr Inspektor.»
Weil Polanski noch mit seinem Patienten zugange war, den er im anderen Behandlungszimmer «auf der Couch liegen hatte», schrieb Rosa Sonntag ihm eine Nachricht, bevor sie mit Stainer die Praxis verließ und zum Wagen hinunterging.
Später im Dux spürte Stainer, wie sie ihn von der Seite anschaute. «Ich habe noch nie einen Menschen Ihres Alters mit derart weißen Haaren gesehen, Herr Stainer», sagte sie, als er in die Hospitalstraße einbog.
«Ich auch nicht.»
Sie bot ihm eine Zigarette an, er griff zu. «Ich bin kürzlich erst von einer längeren Frankreichreise zurückgekehrt, wissen Sie? Ihr Nervenarzt würde wahrscheinlich auf allzu viele Reiseerlebnisse tippen, über die noch zu sprechen wäre, wenn man sich an sie erinnern wollte.» Und könnte, fügte er in Gedanken hinzu.
«Verdammter Krieg.» Sie gab ihm Feuer. «Dr. Polanski ist nicht mein Nervenarzt, sondern mein Analytiker.»
Stainer verzichtete darauf, sich nach dem Unterschied zu erkundigen. Sie rauchten schweigend. Rechts blieb das Deutsche Buchhändlerhaus hinter ihnen zurück, links bald darauf die Johanniskirche. Wieder nahm er aus dem Augenwinkel ihren forschenden Blick wahr. «Warum schauen Sie mich so an, Frau Sonntag?»
«Ich sitze das erste Mal mit einem leibhaftigen Kriminalinspektor im gleichen Wagen.» Sie legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus. «Und dann …»
«Und dann?»
«Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie ganz ungewöhnliche Augen haben, Herr Stainer?»
«Ja. Meine Frau.» Edith hatte immer von seinen grauen Augen geschwärmt, von seinem brennenden Blick, bei dem ihr, wie sie sagte, heiß und kalt wurde. Das war lange her. Heute Abend würde er sie wiedersehen. Und mit ihr sprechen.
«Ihre Augen sehen aus wie altes Eis, in dem ein Feuer lodert», sagte Rosa Sonntag nun neben ihm.
Schon wieder eine Dichterin, dachte Stainer.