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ie Nachbarin zupfte an ihrer Zimmerlinde herum und gab sich ganz in ihre Arbeit vertieft. Ihre halbwüchsigen Söhne taten nicht einmal mehr so, als würden sie schreiben, obwohl sie mit großem Ernst in der Haltung Schreibender zu verharren versuchten. Heiland spürte, wie sechs Ohren- und Augenpaare an ihm hingen, auch dann noch, als er Mutter und Söhnen den Rücken zuwandte.
«Woher wissen Sie, wo ich bin?» Kaum hatte er es ausgesprochen, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen: Ein wirklich guter Boxer ließ sich seine Überraschung niemals anmerken.
«Was glaubst du denn, mit wem du es zu tun hast, du Idiot? Wir müssen reden.»
«Lassen Sie mich bloß in Ruhe!» Er bemühte sich, leise zu sprechen.
«Wir müssen reden, sag ich, und zwar noch heute Abend.»
«Ich rede kein Wort mehr mit Ihnen. Sie sollen mich in Ruhe lassen.» Warum sieze ich einen, der mich duzt?, fragte er sich, doch seine Wut darüber konnte sich nicht gegen seine Angst durchsetzen. Woher um alles in der Welt wusste der Einarmige, dass er bei seiner Tante war? Woher, dass deren Nachbar seit neustem Besitzer eines Fernsprechers war?
«Du wirst tun, was ich dir sage. Wir treffen uns im Alten Johannisfriedhof. Hör genau zu: Du gehst zum Johannisplatz und dann die Hospitalstraße hinunter …»
«Lassen Sie mich in Ruhe!»
«… am alten Friedhof nimmst du den dritten Weg links.
Nach hundert Metern etwa kommst du zur alten Trauerhalle. Am Brunnen auf der Rückseite warte ich auf dich. Sagen wir, in einer Stunde.»
«Leck mich!» Heiland legte auf.
Einen Moment lang stand er ganz still, seine Knie fühlten sich wacklig an, und er traute sich nicht, sich umdrehen. Schließlich wagte er es, ignorierte die Halbwüchsigen am Wohnzimmertisch und sah der Nachbarin ins Gesicht. «Keine Ahnung, wer das war, wirklich nicht. Trotzdem: danke.»
Er ging zur Wohnzimmertür, kam sich vor, als würde er über Eis balancieren, und hörte, als er die Wohnungstür schon hinter sich hatte, den Fernsprecher läuten. Auf der Schwelle zu ihrer Wohnung stand Josephine mit zur Schulter geneigtem Kopf und sah ihm aus sehr schmalen Augen entgegen.
Er wollte gerade wiederholen, was er auch der Nachbarin erklärt hatte, nämlich dass er den Anrufer nicht kenne, da rief diese hinter ihm: «Schon wieder derselbe Herr, Max. Er sagt, er hätte vergessen, dich zu fragen, wie es Mona, Josephine und den Jungen gehe und er müsste unbedingt noch zwei Sätze mit dir reden.»
Heiland verharrte wie festgefroren, sah den brennenden Blick seiner Tante und spürte, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürte. Mona, Josephine und die Jungen? Von denen wusste der Einarmige auch? Was wusste er denn noch alles, dieser Satan, was hatte er vor? Heiland machte kehrt, die Angst zwang ihn dazu.
«Ich will damit nichts mehr zu tun haben», sagte er sofort, als er den Hörer wieder ans Ohr drückte. «Joseph ist an allem schuld, er hat zuerst …» Geschossen
, wollte er sagen, besann sich jedoch im letzten Moment auf die gespitzten Ohren der Nachbarin und ihrer halbwüchsigen Söhne.
«Hör auf mit dem Gejammer. In einer Stunde bist du an der alten Kapelle, spätestens in zwei. Das ist ein Befehl.»
«Was …?» Heiland verschlug es die Sprache. Eine Zeitlang herrschte Schweigen in der Leitung. Bis die Wut sich endlich gegen seine Angst durchsetzte: «Niemand befiehlt mir jemals wieder irgendwas!»
«Ach? Wir wissen, wo du dich aufhältst, wie du merkst. Wenn du nicht freiwillig herunterkommst, holen wir dich aus der Wohnung da oben. Und das wird dann nicht ganz ohne Kratzer für deine Verwandtschaft abgehen, fürchte ich.»
Heiland stand wie festgefroren. Hatte er richtig verstanden? Nicht ohne Kratzer für deine Verwandtschaft? Drohte ihm der Einarmige wirklich, oder hatte er sich verhört? Er suchte fieberhaft nach Worten. Sollte er einfach auflegen? Sollte er sagen, dass er sich der Polizei stellen würde? Der Hörer drohte ihm aus der Hand zu rutschen, so sehr schwitzte er.
«Und bevor du auf den Gedanken kommst, dich der Polizei zu stellen, denk an deine Frau und das Kind», tönte die raue Bassstimme aus der Hörmuschel. «Wir kennen uns auch in Stötteritz ziemlich gut aus, hast du das verstanden?»
Eine Eisklaue presste Heilands Herz zusammen. «Ist gut», brachte er mühsam heraus.
«Hervorragend», sagte die tiefe brüchige Stimme am anderen Ende der Leitung. «Dann also in spätestens zwei Stunden an der alten Trauerhalle.»
Es klickte und rauschte in der Leitung, der Einarmige hatte aufgelegt.